Medizinhistoriker über die Geschichte der Seuchen

„Die Pest war eher ein Gleichmacher“

Der Medizinhistoriker und Arzt Professor Michael Stolberg ist ein Experte für die Geschichte der Seuchen. Im Interview spricht er darüber, warum Corona eine vergleichsweise harmlose Epidemie darstellt und warum die Menschen auch schon in Zeiten der Pest auf Balkonen musizierten.

Herr Professor Stolberg, das Wort Seuche hört man in der Diskussion um Corona fast nie. Was ist der Unterschied zwischen einer Seuche und einer Epidemie?

Der Begriff der „Seuche“ wird von Historikern noch häufig gebraucht. Er kommt von dem alten Wort siech, für krank. In der Umgangssprache ist das Wort „Seuche“ aber negativ konnotiert. „Epidemie“ klingt sauberer, unkörperlicher, unaufgeregter. „Seuche“ ist zudem der breitere Begriff. Epidemien kommen in Wellen, in Form von oft wiederkehrenden Seuchenausbrüchen. Eine Seuche kann dagegen die Bevölkerung auch dauerhaft befallen. Die Tuberkulose ist ein Beispiel.

Gab es in der Vergangenheit vergleichbare Pandemien in der Dimension von Corona? 

Auf jeden Fall. Schon die Pest war ein internationales Phänomen. Schon im 14. Jahrhundert wütete sie in zahlreichen Ländern. Die Cholera, die im 19. Jahrhundert von Asien kommend in immer neuen Wellen durch Europa und den Rest der Welt zog, war dann erst recht eine Pandemie, mit hunderttausenden, ja, wahrscheinlich Millionen von Opfern. Das Gleiche gilt für die große weltweite Influenza-Epidemie von 1918/19. Das waren alles Pandemien, die sich innerhalb von Monaten über die ganze Welt ausbreiteten.

Auch bei Good Impact: Globaler Alltag in der Pandemie: Protokolle aus Chile, Rumänien und Thailand

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Viele Medienberichte, darunter Spiegel Online, titelten, dass Covid-19 der „Preis der modernen Globalisierung“ sei. Ist das historisch betrachtet also Unsinn?

Das kann man durchaus so sagen. Bei der Pest ist es kompliziert. Sie wird vor allem über Ratten und Flöhe verbreitet, nicht durch den unmittelbaren Kontakt mit Infizierten. Aber selbst hier war der Schiffsverkehr für die Ausbreitung zentral. Und für die Cholera lässt sich sehr klar zeigen, dass sich die Seuche aufgrund der bereits damals sehr intensiven internationalen Handelsbeziehungen und wegen des Reiseverkehrs so rasch und wirksam ausbreiten konnte, besonders mit Schiffen. Das hatte die Folge, dass Hafenstädte in Europa oft viel stärker betroffen waren als Orte im Binnenland. Auch dort griff die Seuche aber schließlich um sich, verschonte nur manche Städte und Regionen. In immer wiederkehrenden Wellen zog die Cholera so jeweils in kurzer Zeit durch ganz Europa. Bei der Influenza-Pandemie war dagegen zunächst nicht primär der Handelsverkehr verantwortlich. Nach aktuellem Stand der Forschung gab es die ersten Fälle in den USA. Es kam zu kleineren Seuchenausbrüchen im Militär und die Krankheit gelangte dann mit amerikanischen Truppentransporten nach Europa und breitete sich dort schließlich auch in der Zivilbevölkerung aus. Bei Corona haben wir, in Bezug auf die Globalisierung, zudem das Phänomen, dass die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung wegen der nie dagewesenen globalen Vernetzung der Wirtschaft weltweit massive wirtschaftliche und soziale Folgen nach sich ziehen. Diese sind stärker, als wir das je in der Vergangenheit erlebt haben.

Gibt es auch Parallelen zu dem Verlauf historischer Seuchen wie Pest, Cholera und Influenza?

Zunächst einmal: Pest, Cholera und Influenza treten alle in Wellen auf. Die große Frage bei Corona ist nun bekanntlich, ob weitere und womöglich, wie bei der Influenza, noch schlimmere Wellen auf uns zukommen. Wie wir heute wissen, gibt es bei der Cholera zudem, wie bei Covid-19, eine große Anzahl von „gesunden Überträgern“, also von Menschen, die kaum Symptome aufweisen oder gar keine. Viele Menschen wussten damals also gar nicht, dass sie die Krankheit hatten. Sie konnten arbeiten und reisen und die Seuche konnte sich so umso leichter ausbreiten. 

Welche Parallelen sehen wir zwischen dem historischen Umgang mit der Cholera und den Umgang heute mit Covid-19?

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Auch Pest und Cholera gaben den Menschen Rätsel auf und es gab ganz unterschiedliche Vorstellungen über die Ursachen und die Ausbreitungswege. Schon im Fall der Pest war man sich jedoch bald weithin einig, dass sie ansteckend war. Viele der Schutzmaßnahmen, die wir heute treffen, wurden so im Umgang mit der Pest entwickelt. Zum Beispiel die Quarantäne. Der Begriff stammt vom italienischen Wort quaranta, was 40 bedeutet. Schon im späten Mittelalter zwang man mancherorts Schiffe, die aus verdächtigen Orten kamen, 40 Tage vor dem Hafen zu liegen. Erst wenn die Krankheit in dieser Zeit nicht unter der Schiffsmannschaft ausgebrochen war, glaubte man sich sicher und ließ die Leute an Land. Damals wurden auch schon außerhalb mancher Städte spezielle Lazarette für die Kranken gebaut, um sie zu versorgen und gleichzeitig die übrige Bevölkerung zu schützen. Städte haben sich zudem nach außen abgeriegelt, ließen keine Krankheitsverdächtigen mehr hinein. Wurde eine Stadt trotzdem von der Pest befallen, dann sperrte man die Kranken und Krankheitsverdächtigen nicht selten in ihre Häuser ein, ja, vernagelte Fenster und Türen. Aus Italien ist überliefert, dass Menschen, die in Pestzeiten ihre Häuser nicht mehr verlassen durften, sich auf Dächer und Balkone setzten und manchmal sogar zusammen musizierten. Genau wie heute. Ähnliche Maßnahmen ergriff man vielerorts im 19. Jahrhundert zunächst auch gegen die Cholera. Man unterbrach den Handels- und Reiseverkehr. In manchen Gegenden errichtete man sogar militärische Sperrgürtel, mit Schießbefehl, damit niemand eine betroffene Stadt verlassen oder eine bislang noch sichere Stadt betreten konnte. Selbst Briefe wurden damals durchstochen und zur Desinfektion geräuchert, um die Übertragung des mutmaßlichen Krankheitserregers zu verhindern. 

Professor Michael Stolberg ist ausgebildeter Arzt und Medizinhistoriker und leitet seit 2004 das Institut für Geschichte der Medizin in Würzburg. Er ist unter anderem Experte für frühmoderne, ärztliche Medizin und für die Geschichte der Seuchen.

Gab es damals auch in der Bekämpfung der Seuchen bereits eine internationale Zusammenarbeit?

Man hat sich rege untereinander ausgetauscht, schon in Zeiten der Pest und erst recht angesichts der Cholera. Es war ja überlebenswichtig, zu wissen, wo die Seuche wütete, wie nah sie war, ob man Menschen aus anderen Orten den Zutritt verwehren sollte. Im 19. Jahrhundert wurden auch die ersten großen internationalen Konferenzen abgehalten, in denen die Seuchenabwehr im Mittelpunkt stand. Es gab aber nicht nur Kooperation. Vor allem zwischen Deutschland und Frankreich entbrannte ein regelrechter Wettkampf um die Erstentdeckung des Erregers der Cholera. Deutschland sollte ihn mit Robert Koch gewinnen und er wurde als Nationaheld gefeiert. In diesem Fall hat das die Forschung befördert. Immer wieder haben städtische Obrigkeiten aber auch versucht, Seuchenausbrüche zu verheimlichen, aus Sorge vor den wirtschaftlichen Folgen.

Könnte man sagen, dass die Pest und Cholera noch viel schlimmere Auswirkungen auf die Bevölkerung hatten als heute Covid-19?

Auf jeden Fall. Die Pest hat damals in manchen Städten und Regionen ein Drittel der Bevölkerung hinweggerafft. Das war eine ganz andere Dimension. Auch die Cholera hat Hunderttausende, wenn nicht Millionen hinweggerafft. Die Cholera traf Menschen jeden Alters und bei der Influenza waren es im Gegensatz zu Covid-19 gerade die Jungen, die 20- bis 40-Jährigen, die es am stärksten erwischt hat.

Die gegenwärtige Pandemie könnte vielleicht dazu beitragen, dass wir unsere Lebensweise und unser Konsumverhalten ändern.
Professor Michael Stolberg, Medizinhistoriker und Arzt

Die Geschichte scheint sich also auf allen Ebenen zu wiederholen. Was ist wirklich neu an Corona?

Für mich als Zeitgenosse wirklich neu sind Umfang und Intensität der Maßnahmen, die ergriffen werden, obwohl die Sterblichkeit an Covid-19, auf die Gesamtbevölkerung bezogen, im Vergleich zu frühen Seuchen gering ist. Der Preis ist hoch und manche mögen ihn für zu hoch halten, aber man kann es durchaus als großen humanitären Fortschritt begreifen, dass Regierungen und die Bevölkerung bereit sind, für eine Minderheit von sehr stark Gefährdeten, so große wirtschaftliche und persönliche Opfer zu bringen.

In den USA kann man sehen, wie erschreckend hoch auch der Anteil von lateinamerikanischen und afroamerikanischen Menschen unter den Corona-Infizierten ist. Die Krise lässt hier soziale Ungleichheiten und Konflikte deutlich hervortreten. Lässt sich Ähnliches in der Vergangenheit beobachten?

In der Tat! Seuchen sind für uns Medizinhistoriker auch deshalb interessant, weil sie historische Krisen darstellen, die wie unter dem Brennglas gesellschaftliche Spannungen und Probleme aufzeigen. Die Pest war eher ein Gleichmacher. Sie hat Arm und Reich befallen. Die Cholera aber traf vor allem die Armenviertel, wegen der schlechten hygienischen Verhältnisse dort. In den Unterschichten, insbesondere in Süditalien und in Russland, breitete sich vor diesem Hintergrund die Überzeugung aus, dass es sich um gar nicht um Krankheit handelte, sondern um ein Mordkomplott. Die Obrigkeiten, so hieß es, wollten die Armen vergiften, um ihre Zahl zu reduzieren. Die Folgen waren gravierend. Sie reichten bis zu massiver Gewalt, zu Morden an Ärzten und Magistraten. Hier zeigte sich ein abgrundtiefes Misstrauen gegenüber den Reichen und Mächtigen. Auch damals ging es zudem immer wieder darum, wirtschaftliche Interesse gegen Menschenleben abzuwägen. Das war im 19. Jahrhundert bei der Cholera die große Diskussion: Wie weit darf der Staat eigentlich gehen? Wie stark darf man die Wirtschaft zum Wohl der Allgemeinheit einschränken? Es gab liberale Stimmen, die darauf pochten, dass die Warenströme weiterlaufen müssten, und es gab autoritäre Gegenpositionen. 

Und konnten sich diese liberalen Stimmen damals durchsetzen?

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Sie haben sich bei der Cholera indirekt durchgesetzt, aber weniger aus weltanschaulichen Gründen. Auch autoritäre Regierungen mussten erkennen, dass drastische Maßnahmen, wie die Unterbrechung der Waren- und Verkehrsströme, die Ausbreitung der Cholera nicht wirksam verhinderten. In der Praxis griff man so am Ende europaweit zu ähnlichen Maßnahmen. Man verbesserte die hygienischen Verhältnisse, sorgte für sauberes Trinkwasser und eine bessere Kanalisation. 

Sie sagen, dass ein direktes Ergebnis der Cholera-Bekämpfung eine Verbesserung der Trinkwasserversorgung war. Kann man also sagen, das Seuchen auch generell ein Katalysator sein können, um die Gesellschaft im Hinblick auf Gesundheit und soziale Ungleichheit besser zu machen? Gibt es da noch andere historische Beispiele?

Die Cholera bietet dafür ein besonders anschauliches, aber in mancher Hinsicht auch paradoxes Beispiel. Lange Zeit war nämlich die von Max von Pettenkofer aufgestellte Theorie sehr einflussreich, dass für die Cholera-Epidemien die lokalen Bodenverhältnisse entscheidend waren, die es dem Krankheitserreger angeblich ermöglichten, krankmachende Dünste oder Miasmen freizusetzen. Das führte dazu, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts vielerorts eine Kanalisation gebaut wurde, um die Verunreinigung des Bodens mit Exkrementen zu verhindern. Die Wiederentdeckung des Cholera-Erregers durch Robert Koch – 1854 hatte ihn schon der italienische Arzt Filippo Pacini beschrieben – bestärkte zudem die Überzeugung mancher Ärzte, dass die Cholera durch das Trinkwasser verbreitet wurde. So verbesserte der Kampf gegen die Cholera, teilweise auf eine heute widerlegte Theorie gestützt, die Gesundheitsverhältnisse gerade auch der armen Verhältnisse – und trug so letztlich entscheidend dazu bei, dass die Säuglingssterblichkeit zurückging und die Bevölkerung rasch anwuchs. Und die gegenwärtige Pandemie, da rede ich freilich als Zeitgenosse und nicht als Historiker, könnte vielleicht dazu beitragen, dass wir unsere Lebensweise und unser Konsumverhalten ändern, auf manchen Einkauf und manche Flugreise verzichten.

Kuma Kum/Unsplash

Der Pestdoktor mit der Schnabelmaske ist ein Sinnbild für Seuchen.

Morgane Llanque

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