Politpop: Was kann E-Voting?

Parlament per Klick

Ist online wählen in der Demokratie sinnvoll? Und wie sicher ist E-Voting? Ein Blick nach Estland und Deutschland.

Weniger als zwei Minuten dauert es im Schnitt, um in Estland zu wählen. Kein Fußmarsch zur Wahlkabine, kein Schlangestehen, keine Terminkollision mit Urlaub, Dienstreisen oder Sonntagsausflug. Als erster Staat der Welt führte das baltische Land 2005 bei landesweiten Wahlen die Online-Stimmabgabe ein. Von jedem Computer mit Internetzugang können Bürger:innen seither wählen, lediglich Wahl-App und digitalen Personalausweis oder eine Handy-ID zur Identifizierung braucht es. Zehn Tage vor dem Wahltag geht es los, die Entscheidung kann man währenddessen und noch am Tag selbst vor Ort beliebig oft ändern. Das soll die Wahlfreiheit gewährleisten: Sollte jemand gegen seinen Willen beeinflusst worden sein, lässt sich das wieder rückgängig machen. Bei der Wahl 2023 zum Riigikogu, dem estnischen Parlament, stimmten 312.181 Menschen und damit etwas mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten online ab – Rekord bisher.

Estland ist Vorreiter in Sachen E-Voting. Inzwischen experimentieren mehr als ein Dutzend Länder auf kommunaler und nationaler Ebene mit Online-Wahlen, von Norwegen und der Schweiz über Australien bis Brasilien. In Frankreich dürfen seit 2012 zumindest Staatsbürger:innen im Ausland ihr Kreuzchen für die Wahlen zur Nationalversammlung digital machen.

63% der Deutschen sind für E-Voting bei Bundestagswahlen

E-Voting macht einiges leichter. Kranke, alte und wenig mobile Menschen oder Bürger:innen mit Behinderungen können einfacher teilnehmen. Es senkt die Schwelle für jene, denen der Gang ins Wahlbüro zu mühsam ist. Auch wer die Beantragung der Briefwahlunterlagen verbummelt hat – oder dafür wie Deutsche im Ausland oft extra in Konsulat oder Botschaft muss –, hat es online einfacher. Zudem entfällt jede Menge Organisation: Wahllokale einrichten, die richtigen Zettel zum richtigen Ort schaffen, ausreichend Wahlhelfende gewinnen und einarbeiten – eine fehleranfällige Aufgabe, wie die Bundestagswahl 2022 in Berlin gezeigt hat.

In Deutschland sprachen sich bei einer repräsentativen Umfrage des Branchenverbands der Digitalwirtschaft Bitkom 63 Prozent für E-Voting bei Bundestagswahlen aus. Wo digitale Tools in allen Ecken des Alltags kaum noch wegzudenken sind und die Mobilität in der Gesellschaft wächst, überrascht das wenig. Der Wunsch nach mehr Flexibilität spiegelt sich im Trend zur Briefwahl: 2017 schickten 28,6 Prozent der Wähler:innen ihre Stimme per Brief, 2021 waren es 47,3 Prozent.

Allerdings: Das Bundesverfassungsgericht hat 2009 mit einem Urteil der Einführung von E-Voting in Deutschland bislang einen Riegel vorgeschoben. Darin argumentierten Deutschlands oberste Richter:innen, Online-Abstimmungen würden der Vorgabe in Paragraf 38 des Grundgesetzes nicht gerecht, frei, gleich, geheim und für die Wahlberechtigten nachvollziehbar zu sein.

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Seither hat die Technik enorme Fortschritte gemacht. Digitale Auszählungen seien inzwischen sogar zuverlässiger, als wenn Menschen die Wahlzettel auswerten, bilanziert ein Papier des Büros für Technikfolgenabschätzung (TAB) vom April 2022. Zwar lässt sich auch mit den besten kryptografischen Barrieren nie zu hundert Prozent garantieren, dass Wahlen nicht gehackt werden. Online sind Wahlfälschungen in größerem Stil möglich als an der Wahlurne im Gemeindesaal. „Doch unter dem Strich sind die technischen Risiken inzwischen durchaus kalkulierbar“, resümiert Armin Grunwald, Technikphilosoph am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und TAB-Mitglied. „Ein Knackpunkt aber bleibt: Haben die User:innen genug Vertrauen in das demokratische System, Online-Wahlen fair und zuverlässig zu organisieren?“

Estland: Pionier der Digitalisierung

In Estland kennt man diesen sensiblen Punkt. Wie auf Samtpfoten hat sich das Land daher ans Online-Voting herangetastet. Richard Dreyling, der an der Technischen Universität Tallinn zu E-Governance und Online-Wahlen forscht, erinnert sich genau: „Um zu zeigen, dass es sicher ist, wurde zunächst nur kommunal online abgestimmt. Und schon zuvor waren andere staatliche Dienstleistungen digitalisiert worden, etwa die Erneuerung von Dokumenten. So wurde der Umgang mit digitalen Anwendungen für Bürger:innen selbstverständlich.“

Seit 2002 haben alle Bürger:innen des Landes einen digitalen Personalausweis; auch bei den Wahlen identifizieren sie sich damit. Außer Heirat und Scheidung gibt es im Land alle öffentlichen Dienstleistungen online, sogar Schulplatzvergabe.

82% der Estländer:innen vertrauen E-Governance, digitalen Diensten und E-Voting

Dass gerade Estland E-Voting-Pionier wurde, hat mehrere Gründe: „Viele der Tech-Talente der Sowjetunion wurden in Estland ausgebildet“, sagt Dreyling. „Außerdem hatte Estland in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit beschränkte finanzielle und personelle Ressourcen. Auf Digitalisierung zu setzen und die Technologie selbst zu entwickeln, war schlicht billiger.“ Anfang der 2000er-Jahre waren Cyberangriffe oder Hacking zudem seltener als heute, entsprechend weniger öffentlichen Widerstand und Sicherheitsbedenken gab es.

Mittlerweile sind die Menschen in Estland stolz auf ihre digitale Verwaltung und das E-Voting. Laut einer Umfrage von 2020 vertrauen 82 Prozent E-Governance, digitalen Diensten und E-Voting. Dreyling: „Das gilt in allen Altersklassen und über alle Bildungsgrade hinweg. Allerdings macht es einen Unterschied, mit welcher Partei sich Wähler:innen identifizieren.“

E-Voting: günstig und transparent

Liberale Parteien bekamen bei der Parlamentswahl 2023 mehr als 60 Prozent ihrer Stimmen digital, für die rechtspopulistische Partei Ekre stimmten weniger als 30 Prozent ihrer Wähler:innen online ab. Die Partei kritisiert, das System sei anfällig für Manipulation. Dreyling hält dagegen: „Das ist der Versuch, den politischen Prozess als nicht legitim zu verunglimpfen.“ Auch der Oberste Gerichtshof in Estland habe die Vorwürfe zurückgewiesen und erklärt: „Das System ist sicher und vor allem transparent designt.“ Fast der gesamte Quellcode ist beispielsweise offen zugänglich.

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Tatsächlich haben Wissenschaftler:innen und Wahlbeobachter:innen seit Einführung des E-Voting immer wieder Verbesserungen angemahnt – und erreicht. Vor allem seit einem Cyber-Angriff auf die estnische Staatsverwaltung, Banken und Medien 2007 wurde das System weiterentwickelt. Sicherheitslücken wurden geschlossen, Tests vor und nach der Wahl verpflichtend. Vor der Wahl 2015 wurde zudem die Zwei-Faktor-Authentisierung Standard – ein Pendant zu zwei Briefumschlägen bei analogen Wahlen. Ein „Wettrüsten mit den Angreifenden“ nennt Dreyling das. „Der einzige Weg, das System wirklich zu manipulieren, wäre wohl, in großem Stil Schadsoftware an einzelne Wähler:innen zu schicken. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass das unentdeckt bleibt.“

Für Dreyling ist E-Voting eine Erfolgsgeschichte. Zwar konnten keine neuen Wähler:innengruppen mobilisiert werden. Doch von jenen, die wählen, nutzen immer mehr den digitalen Wahlzettel. „Die Online-Stimmabgabe macht Wählen tatsächlich einfacher zugänglich, etwa bei den harschen Wintern in Estland“, resümiert Dreyling. „Zudem kostet E-Voting den Staat nur halb so viel Geld wie eine Offline-Wahl.“

Deutschland ist von all dem noch weit entfernt, Bedenken gibt es weiter: Sind Online-Abstimmungen wirklich inklusiv, also genauso gut verständlich wie ein Wahlgang mit Zettelbox bei der Abstimmung um die Ecke? Was ist mit jenen, die keinen Zugang zu Computern haben? „Eine stabile Bundestagswahl ist für unsere Demokratie unerlässlich“, erinnerte Bundeswahlleiter Georg Thiel 2022 in einer Sitzung des Digitalausschusses im Bundestag zu E-Voting. Das über 70 Jahre gewachsene Vertrauen in das demokratische System dürfe nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.

Also wird erst mal weiter in kleinem Maßstab getestet: bei Uni-, Verbands- und Vereinswahlen oder bei den bundesweiten Sozialwahlen, der drittgrößten Wahl in Deutschland nach den Abstimmungen für Bundestag und Europaparlament. Im Mai wurden die Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane der gesetzlichen Renten- und Krankenkassen erstmals auch online gewählt. „Technisch lief das problemlos“, bilanziert TAB-Experte Grunwald. „Allerdings stimmten etwa bei der größten Krankenkasse DAK nur 20.000 der 900.000 Mitglieder online ab – gegenüber 180.000 per Brief.“ Onlinewahl ist noch Neuland in Deutschland.

Technikphilosoph Grunwald selbst möchte den physischen Wahlakt nicht missen, ja, er hält ihn für fundamental. Er signalisiere Bedeutung, schaffe demokratischen Zusammenhalt, sei ein Moment gemeinsamen Engagements über alle Altersgruppen hinweg. „E-Voting könnte ein zusätzliches Angebot sein, aber nur am Wahltag selbst“, schlägt Grunwald vor. Doch selbst dann fehle beim schnellen Klick auf dem Sofa das Gefühl für den kollektiven demokratischen Akt, der so wichtig ist für die Legitimation einer Demokratie: „Da macht sich ein ganzes Land physisch auf, um über die nächsten Jahre zu entscheiden – weil es die gemeinsame Anstrengung wert ist.“

Foto: Unsplash / Parker Johnson

Ganz einfach mit ein paar Klicks: Das geht in Estland schon seit 2005.

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