Seit Beginn der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beobachten sowohl Amnesty International als auch die Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V. (GFF) weltweite staatliche Eingriffe sowohl in Grund- als auch in Menschenrechte. Letztere kommen allen Menschen unterschiedslos zu.
Für Lea Beckmann, Juristin und Verfahrenskoordinatorin bei der GFF, lautet eine wichtige Frage: Sind die Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz, um Güter wie Gesundheit und Leben zu schützen, verhältnismäßig?
Auf der diesjährigen Digitalkonferenz re:publica weist Beckmann insbesondere auf zwei Gefahren hin: „Bestimmte Grundrechte drohen in der Krise hinten unter zu fallen, einfach weil sie nicht so eine gute Lobby haben.” Insbesondere seien die Versammlungsfreiheit und die Glaubensfreiheit „zu pauschal und zu ausnahmslos eingeschränkt worden.” Die GFF halte dies „gefährlich”, denn „auch die Versammlungsfreiheit ist systemrelevant, auch aktuell”.
Manche Personengruppen besonders gefährdet
Auch die Auswirkungen auf bestimmte Personengruppen hat die Juristin mit Blick auf Grundrechte im Blick, denn staatliche Maßnahmen dürften keine diskriminierende Wirkung haben oder im Einzelfall unverhältnismäßig sein. Beckmann sagt: „Frauen sind besonders betroffen von den Auswirkungen.” Zum einen würden systemrelevante Berufe zu 75 Prozent von Frauen ausgeübt. Und auch die Kita- und Schulschließungen betreffen Frauen meist stärker. Ein weiterer Punkt sei häusliche Gewalt, die vor allem Frauen insbesondere in der aktuellen Situation massiver treffe. Beckmann betont deshalb: „Der Staat ist verpflichtet, seine Kapazitäten auszubauen.”
Problematisch seien die Maßnahmen insbesondere auch für Geflüchtete. Denn laut Asylgesetz müssen Asylsuchende in Erstaufnahmeeinrichtungen wohnen, doch dort könnten sie in der Regel die Abstandsregeln nicht einhalten und seien Gesundheitsgefahren ausgesetzt, wenn sich dort das Virus ausbreite. „Die Behörden müssen die Verpflichtung aufheben, in solchen Einrichtungen zu wohnen.”
Um solche Probleme besser berücksichtigen zu können, müssten Expertengremien diverser besetzt werden, eventuell mit Quoten, „um eine möglichst breite Perspektive bei Entscheidungen mit heranzuziehen”, forderte Beckmann – ein Seitenhieb auf die kürzlich kritisierte Zusammensetzung der Corona-Arbeitsgruppe der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften: Darin ist kein Mitglied unter 50, auf 24 Männer kommen nur zwei Frauen.
Auch bei Good Impact: Coronakrise. Globaler Alltag in der Pandemie: Namibia, Libanon und Spanien
Doch auch international ist die Lage problematisch, wie Lena Rohrbach, Referentin für Menschenrechte bei Amnesty International auf der re:publica betont: „Die weltweite Coronakrise ist auch eine Menschenrechtskrise.” Die Pandemie werde instrumentalisiert. Das zeige sie etwa in Peru, wo die Regierung wegen Corona den Ausnahmezustand verhängt hat, und nun ein neues Polizeigesetz gilt. „Es hat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Anwendung von Gewalt durch die Polizei gestrichen. Zusätzlich gibt es eine Beweislastumkehr: Der Einsatz von Gewalt gilt als gerechtfertigt, es sei denn, man kann das Gegenteil beweisen.”
Derlei Machtmissbrauch und unverhältnismäßige Gewalt geschehen derzeit systematisch in mehreren Ländern. In der Slowakei und in Bulgarien etwa gegen die dort ohnehin diskriminierte Bevölkerungsgruppe der Roma. „Dort werden als vorgebliche Corona-Maßnahmen ganze Dörfer der Roma von der Außenwelt abgeriegelt.” Und auch Überwachungsmaßnahmen nehmen derzeit zu. Ein Beispiel dafür sei Israel, wo der Ausnahmezustand gelte, und der Inlandsgeheimdienst nun Zugriff auf die Bewegungsprofile von Israelis bekomme, wie Rohrbach kritisiert.
Möglichkeiten und Hoffnung in der Krise
Doch Rohrbach sieht auch Möglichkeiten in der Krise. „Ich habe kürzlich eine soziologische Definition von Krise gelesen: Demzufolge zeichnet sich Krise dadurch aus, dass gewohnte Routinen nicht funktionieren und der Zustand von vor der Krise nicht wiederherstellbar sein wird. Das spüren wir gerade.” Und das könne genauso auch für positive Veränderungen gelten. So wurden aufgrund der Coronakrise etwa in Portugal Asylantragsteller*innen dieselben Rechte gegeben wie Staatsbürger*innen. Dadurch haben sie nun vollen Zugang zur Gesundheitsversorgung. In Polen habe sich außerdem kürzlich gezeigt, wie Protest auch im Lockdown gelingen kann. Dort sollte der ohnehin schon „wahnsinnig restriktive” Zugang zu Abtreibung noch weiter eingeschränkt werden. „Doch es gab Proteste und das Gesetz wurde so nicht verabschiedet. Das zeigt, dass Engagement nicht wirkungslos ist”, sagt Rohrbach.
Auch bei Good Impact: Enorm Ticker. Gute Nachrichten in der Corona-Krise
Und für Beckmann von der GFF hat die Krise erneut unter Beweis gestellt, wie sinnvoll unser föderales System ist, in dem Länder viele Kompetenzen zugestanden werden. Es bewähre sich in der Krise, dass die einzelnen Bundesländer unterschiedliche Herangehensweisen hätten. „Dadurch hat man einen Wettbewerb der Ideen. Ich bin sehr froh, dass wir diese Vielfalt haben und nicht einfach eine Bundesregierung, die durchentscheiden kann.” Die Juristin sieht außerdem einen weiteren wichtigen Effekt der Coronakrise: „Wir sehen jetzt die ganzen Ungleichheiten, die vorher schon existierten, wie unter einem Brennglas.” Das wecke Hoffnung in ihr, „dass wir uns entscheiden in der Krise solidarisch zu sein und diese Ungleichheiten zu adressieren und abzuschaffen.”
re:publica als Online-Event
Die Digitalkonferenz re:publica in Berlin experimentiert in der Corona-Krise mit einem Online-Format. Das Szene-Treffen findet am 7. Mai auf Live-Kanälen im Internet statt. Die Konferenz und die begleitende Media Convention Berlin, die im vergangenen Jahr mehr als 20 000 Besucher anzog, wurden wegen der Coronavirus-Gefahr zunächst von Anfang Mai auf August verschoben. Nach den Bestimmungen zur Eindämmung des Coronavirus bleiben aber Veranstaltungen mit mehr als 1000 Besuchern bis Ende August verboten. Daher gibt es nun eine Online-Version. (dpa)Trotz Lockdown protestierten Menschen in Polen kreativ und erfolgreich gegen ein Gesetz, das den Zugang zu Abtreibung noch weiter erschwert hätte.