Kolumne Einigeln, Teil 12: Endlich die Nachbarn kennenlernen
Ok, zugegeben, die Sache mit dem Spazierengehen klingt erstmal ziemlich mau – als Thema. Machen ja gerade eh alle. Seit Wochen. Zumindest in der Stadt. Auf dem Land war das auch vor Corona nicht Trendsport, sondern Alltag. Allerdings geht man mittlerweile nicht mehr nur spazieren, man entdeckt Dinge. Stolpersteine, die man vorher übersehen hat, Sticker und Streetart auf verwitterten Stromkästen, Eichhörnchen, die ausgelassen tagen, Fahrräder, die sich auf kleinen Flussinseln sonnen und es reglos hinnehmen, dass man sich fragt, wie sie verdammt nochmal dahin gekommen sind. Oder man entdeckt: Menschen. Seine Nachbarn. Man trifft sich auf dem Weg. Man trifft sich im Hof.
Beschränkte sich der bisherige Kontakt eher auf ein kaum merkliches Kopfnicken, haben nun alle Gesprächsbedarf. 5 Minuten, 10 Minuten, gar ganze 20 Minuten sind da schnell vorbei. Klar ist Corona der Dosenöffner, aber das geht fix vorbei, wenn ausgetauscht ist, wer welchen Virologen-Podcast nun lieber hört. Es geht dann eher darum, sich zu motivieren, beim Buchladen ein paar Straßen weiter einzukaufen oder um den Tausch von Haushaltsgeräten. Bei dem Einen steht die Eismaschine rum, beim Anderen freuen sich die Kids über die Abwechslung und geben zumindest mal eine Stunde Ruhe.
Endlich mal die Nachbarn kennenlernen
Überhaupt erfährt man so, was die Menschen in der unmittelbaren Nähe machen. Warum sie etwa keine Drehbücher mehr schreiben, sondern das irgendwann abgebrochene Mathe-Studium wieder aufnehmen wollen – sobald es geht. Warum es jeden Abend an der Wohnzimmerwand leise knarzt. Es sind keine Tiere, obwohl es echt so klingt, sondern es ist ein altes Familienerbstück, ein Sessel – gemütlich, aber laut. Und man stellt fest, dank einer freundlichen Erklärung, dass besagte ältere Dame, die seit Jahren die Beete im Hof macht, gar nicht böse guckt, wen man vorbeigeht, sondern einfach nur schlecht sieht und deswegen die Augen zusammenkneift.
Vielleicht das erste Mal in den vergangenen Jahren merkt man, dass man beginnt – ruhiger – mit anderen zu leben, nicht um sie herum. Und dass sie gar nicht so stachelig sind, wie man immer dachte. Manchmal, wenn man ihnen in die Augen schaut, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass es ihnen ganz ähnlich geht.
Beim Spazierengehen lässt sich einiges entdecken, das man vorher übersehen hat.