Porträt einer Sterbebegleiterin

Johanna und der Tod

Seit sie 21 ist, begleitet Johanna Klug ehrenamtlich Menschen, die sterben und trauern. Warum macht sie das?

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Eng schmiegt sich der Friedhof Alt-Stralau ans Ufer der Spree, hier auf der grünen Halbinsel im Berliner Osten. Es ist ein Nachmittag im Juli. Johanna Klug schlendert über den staubigen Weg, im Schatten von Linden, Zypressen und Trauerweiden. Die 28-Jährige wohnt unweit in einer 4er-WG. Meist ist sie abends hier, auftanken, sich erden. Ihre Sommerhose und das gemusterte kurze Hemd flattern im Wind. In der Ferne trötet ein Schiff, Tretboote plätschern vorbei. Dieser Friedhof ist ein Ort, der zu Johanna Klugs Leben passt. Denn darin dreht sich fast alles um den Tod: Sie begleitet sterbende und trauernde Menschen – ehrenamtlich.

Groningen 2015. Johanna Klug studiert Medienmanagement. Während ihres Auslandssemesters in den Niederlanden brütet die damals 21-Jährige über einer Hausarbeit. Sie ist frustriert: „Welchen Sinn hat das alles? Was lerne ich denn, wenn ich einfach nur irgendetwas stumpf wiedergebe?“, fragt sie sich. „Ich will mehr Tiefe in meinem Leben.“ Um die zu finden, möchte sie Menschen auf ihrem letzten Weg begleiten. Woher der Impuls kommt, weiß sie bis heute nicht. Die meisten Ehrenamtlichen in der Sterbebegleitung sind älter, motiviert durch einen persönlichen Trauerfall. An den Tod ihres Opas Alfons erinnert sich Johanna Klug kaum. Damals war sie sechs Jahre alt.

Erste Begegnungen mit dem Tod

Als sie zurück in ihre Heimatstadt Würzburg kommt, nimmt eine Nachbarin der Eltern sie mit zu ihrem Arbeitsplatz als Seelsorgerin: die Palliativstation eines Krankenhauses. Dort werden unheilbar kranke Menschen versorgt. Fortan verbringt Johanna Klug hier jeden Freitagnachmittag mehrere Stunden. Spricht mit den Patient:innen, hört zu, bringt Blumen mit, Zutaten zum Backen oder Basteln – vor allem aber Zeit. „Es geht darum, mit den Menschen in Resonanz zu treten.“ Worte und Emotionen der Sterbenden aufzunehmen, denen das Sprechen, Weinen, aber auch Lachen mit ihr oft leichter fällt als mit den Angehörigen, für die sie stark sein möchten. Doch ihr können sie es erzählen, einer jungen Frau mit leicht rauer Stimme und auffälligen Ohrringen, die dunkelblonden Haare bis auf wenige Millimeter abrasiert. Die Wimpern lang getuscht, der Mund rot geschminkt. Selbstbewusst, ruhig, aber mit einer ansteckenden Fröhlichkeit, die bei jedem glucksenden Lachen überschwappt.

Andere genießen ihr Leben, indem sie Party machen, und ich, indem ich sterbende Menschen begleite.
Johanna Klug

„Oft baue ich eine tiefe Beziehung zu den Sterbenden auf, die so mit anderen Menschen nicht möglich wäre.“ Sie erinnert sich an Klaus, an Sonja, an Inge und an all die anderen. Stirbt jemand, den sie mehrere Wochen oder gar Monate begleitet hat, ist sie manchmal wie betäubt, weiß aber auch um das Geschenk der Nähe. „Andere genießen ihr Leben, indem sie Party machen, und ich eben, indem ich sterbende Menschen begleite.“

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Über all das schreibt sie auf ihrem Blog „endlich endlos“, veröffentlicht 2021 ihr erstes Buch: Mehr vom Leben. Wie mich die Begleitung Sterbender verändert. Einfach und zugänglich formuliert, verwebt sie persönliche Begegnungen mit Fakten, die helfen sollen gegen die Angst und das Verdrängen. „Genauso wie wir übers Leben reden und Pläne für die Zukunft schmieden, sollten wir auch dem Tod einen festen Platz darin geben und ihn nicht länger tabuisieren.“ Sie beschreibt etwa, wie Gehör und Geruchssinn im Sterben sensibler werden, sich verändern, manchmal schwinden, und die Kommunikation sich auf sanfte Berührungen verlagert. Dass am Ende Sterbende nicht mehr essen wollen und Menschen gehen dürfen sollen, statt künstlich ernährt zu werden. „In der Palliativmedizin steht die Lebensqualität im Vordergrund“, sagt sie.

Johanna Klug findet früh den Weg in ein selbstständiges Leben, muss nebenher Geld verdienen. Der Vater gelernter Bäcker, die Mutter Bankkauffrau, stolpert Johanna nach dem Fachabitur 2012 ins Studium, jobbt in Nachtclubs, Biergärten und Restaurants. Ihr Ehrenamt auf der Palliativstation ist unbezahlt. „Das könnte man nicht aufwiegen in Geld“, sagt sie. „Für mich ist das keine Arbeit, sondern ein Herzensding. Ich möchte nicht, dass das einen materiellen Anspruch bekommt.“ Auch als sie während der Schulzeit im Altenheim jobbt, erhält sie damals nur fünf Euro die Stunde, aber die Zeit erfüllt und prägt sie.

Dort tritt auch der Tod in ihr Leben: Sie soll einem 50-jährigen Bewohner sein Frühstück bringen. Alkohol und Drogen haben ihm so zugesetzt, dass er auf Langzeitpflege angewiesen ist. Sie betritt das Zimmer, blickt auf den Boden: eine Blutlache. „In einer zusammengekauerten, gekrümmten, embryo-ähnlichen Haltung lag Peter da. Das eingetrocknete Blut an Kopf und Gesicht, die offenen Augen, die ins Leere starrten, ließen keinen Zweifel an der Endgültigkeit seiner Situation. In der Nacht hatte sich der Tod in das Leben von Peter geschlichen. Die spätere Diagnose der Ärzte lautete: Schlaganfall auf der Toilette. Ich war 16 Jahre alt“, schreibt sie auf ihrem Blog.

Der Weg zur Sterbebegleiterin

Seither weiß Johanna, dass der Tod nichts mit dem Alter zu tun haben muss. Während ihres Kommunikations-Masters in Hamburg und Oslo lässt sie sich 2017 in einem Hospiz zur Sterbebegleiterin ausbilden, setzt sie sich mit dem eigenen Leben und seiner Endlichkeit auseinander, aber auch mit Trauerarbeit, Demenz, Schmerztherapie und einem Sterben in Würde. Anders als Palliativstationen sind Hospize nicht an ein Krankenhaus angegliedert. Drei Monate arbeitet sie in einem Hospiz in der südafrikanischen Kleinstadt Mandeni, lernt viel über das Privileg, gut leben und sterben zu können. Schon während ihrer Ausbildung in Hamburg war sie die Jüngste in der Gruppe, auch später bei den Kursen zur Trauerbegleitung in München. Genauso wenig wie der Tod eine Frage des Alters ist, lässt sich Lebenserfahrung an den Jahren festmachen. Das zeigt ihr auch Ella, eine Achtjährige, die vor einer Weile ihre große Schwester verloren hat. Aufnahmen einer SWR-Doku zeigen, wie sich die beiden zur Begrüßung fest drücken, wie Ella mit Johanna im Garten herumwirbelt, leicht und unbeschwert. Von Trauerpfütze zu Trauerpfütze springt das Mädchen, wie Johanna Klug es nennt. „Ella hat schon extrem viele Höhen und Tiefen im Leben durchgemacht: einen krassen Verlust, aber auch krasse Liebeserfahrungen.“

Seit zwei Jahren schreibt Johanna Klug ihre Doktorarbeit über „Patient:innenautonomie sterbender Kinder innerhalb ihres jeweiligen Familiensystems“. Sie hat an der Universität Regensburg den Masterstudiengang „Perimortale Wissenschaften“ mit aufgebaut, der sich interdisziplinär mit Sterben, Tod und Trauer beschäftigt, angefangen von Juristischem wie Patient:innenverfügungen bis hin zu ethischen Fragen. Nun möchte sie die Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin abschließen, weg von der theologischen Fakultät, stattdessen thematisch passender in den Rehabilitationswissenschaften.

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Bald erscheint Klugs zweites Buch Liebe den ersten Tag vom Rest deines Lebens – Zehn Einsichten Sterbender, die uns erfüllter leben lassen. Die Begegnungen sollen Fragen aufwerfen: Was ist wirklich wichtig? Johanna Klug hat für sich verstanden: Selbstzweifel loslassen, vor allem, das Leben intensiver leben. Zeit mit Menschen verbringen, die sie wirklich erfüllen, mit engen Freund:innen, ihren beiden Schwestern und Eltern. Das Ehrenamt macht sie demütiger, sie ist sensibel für die eigenen Grenzen. Reduziert Arbeit, wenn es zu viel wird.

Der Tod, ein Teil des Lebens

Seit ihrem Buch ist sie gefragt, es gibt mehrere Podcasts, Dokus und Zeitungsartikel über sie. Ein knappes Jahr war Klug Teil des WDR-Instagramkanals „21Gramm“. Dort spricht sie ernst und dennoch mit einer Leichtigkeit etwa darüber, wie sie sich ihre eigene Beerdigung vorstellt: „Ich wünsche mir auf meiner Trauerfeier bunte Klamotten mit Kaffee und Kuchen auf dem Friedhof.“ Also auch eine Feier des Lebens. „Für mich gehört einfach beides zusammen.“ Sie möchte, dass wir den Tod in die Mitte der Gesellschaft holen, ihn als Teil des Lebens begreifen und das Sterben als Prozess.

Seit Herbst vergangenen Jahres lebt Klug in Berlin. Auch hier gehören ihre Freitage dem Sterben, in einem Neuköllner Hospiz. Doch schon bald wird sie ihre Koffer packen, mit den wenigen Dinge aus dem WG-Zimmer nach Eckernförde an der Ostsee fahren, um dort mit einer Freundin zu überwintern: wochenends eine Bar schmeißen, dafür mietfrei wohnen. Schreibexil für die Promotion, nennt sie es. „Ich habe gemerkt: Ich brauche wieder was anderes.“ Was danach kommt? „Das findet sich immer.“ Pläne hat sie früher gemacht. Sich davon verabschiedet, seit sie ihre eigene Endlichkeit begreift. „Alles kann sich jederzeit ändern.“ Gerade weil sie dem Tod begegnet, hat sie Vertrauen in das Leben. „Ich bin sehr viel näher ans Leben gekommen als viele andere, weil ich mich tagtäglich mit meiner Vergänglichkeit beschäftige.“

Foto: Hendrik Nix

Den Tod als Teil des Lebens begreifen, das Sterben als Prozess – Johanna Klug erlebt und zeigt, wie das geht.

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