Manchmal in der seltsamen Zeit des Lockdowns haben die Lehrkräfte der Grundschule am Dichterviertel in Mülheim an der Ruhr die Kinder abends zusammengetrommelt. Die Eltern waren beauftragt, für heißen Kakao und gemütliche Schlafanzüge zu sorgen, dann trafen sich Dutzende kleiner Gesichter im blauen Licht ihrer Laptops – zur virtuellen Gute-Nacht-Geschichte. Vorgelesen von Lehrer:innen, Eltern, Freiwilligen aus der Nachbarschaft. Heute sind die digitalen Leseabende fester Bestandteil des Gemeinschaftslebens.
Beziehungen pflegen, statt nur Stoff vermitteln – das ist für Schulleiterin Nicola Küppers die wichtigste Strategie, um ihre Schüler:innen auch in der Pandemie zu erreichen. „Ob wir in einer Krise eine Lerneinheit über die Tulpe durchbekommen oder nicht, ist für die Kinder doch völlig unwichtig. Ob Schule weiter eine positive Rolle für sie spielt dagegen zentral.“ Gerade für ihre Schüler:innen in dem benachteiligten Viertel in Mülheim, wo Bildungsgerechtigkeit jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung ist.
Hybrides Lernen ist Alltag geworden
Seit der Pandemie haben Küppers und ihre Kolleg:innen ihre Schule gründlich umgebaut: Sie entwickelten ein Konzept für das Lernen auf Distanz, bereiteten den gesamten Unterrichtsstoff fürs Selbstlernen online auf. Ein Mix aus gemeinsamem Morgenkreis, täglich individuell abgesprochenen Lernphasen, Zwischenreflexionen und nachmittäglichen Online-Ausflügen, zum Beispiel in Zoos auf der ganzen Welt. Virtuelle Arbeitsblätter sind längst ebenso tabu wie knappe Arbeitsanweisungen: Bis morgen Aufgabe auf Seite xy lösen. Stattdessen gibt es Erklärvideos und Online-Lerntools per QR-Code, in die sich Schüler:innen selbst während des Unterrichts mit Kopfhörer einklinken dürfen, wenn es ihnen in der Stunde zu langsam oder zu schnell geht. Auch hybrides Lernen, ein Mix aus digital und vor Ort, ist Alltag geworden. Wenn Leon oder Carla in Quarantäne sind, nimmt die Lehrkraft sie per Video auf dem Tablet mit in die Arbeitsgruppe. „Die anderen Kinder sorgen mit Fragen dafür, dass die beiden auch mitmachen“, sagt Küppers und lacht. Nach der Schule sitzen die Pädagog:innen im virtuellen Klassenzimmer, den Feedback-Rooms, per Video sichtbar und bereit für Nachfragen. Auch die Elternarbeit ist durch den digitalen Kontakt leichter geworden. „Von zu Hause schauen Eltern eher mal für eine halbe Stunde beim Sprechtag vorbei als vor Ort.“
Die Ergebnisse der neuesten Lernstandsanalyse, die die Schüler:innenleistungen in Nordrhein-Westfalen jährlich vergleicht, geben Küppers Konzept recht: In 69 von 75 Kriterien erreichte die Schule am Dichterviertel Höchstwerte. „Die Pandemie wurde zum Booster für eine positive Transformation“, wie es Küppers nennt. „Und die Schulgemeinschaft ist dabei näher zusammengewachsen.“
Die Schule am Dichterviertel in Mülheim zeigt: Auch in der Krise kann Lernen gelingen, trotz Schulschließungen oder wechselndem Präsenz- und Onlineunterricht. Die Krise kann sogar zum Innovationstreiber werden. „Es ist bemerkenswert, was manche Schulen auf die Beine gestellt haben“, sagt Thorsten Bohl, Erziehungswissenschaftler an der Universität Tübingen. Bohl sitzt in der Expertenjury zum Deutschen Schulpreis, der seit gut 15 Jahren innovative Schulen unter anderem im Auftrag der Robert Bosch Stiftung und der Heidehof Stiftung auszeichnet. 2021 wurde ein Sonderpreis für Schulen vergeben, die erfolgreich die Pandemie bewältigt haben. Die Schule am Dichterviertel gehörte zu den Gewinnern. „Wir wollen mit dem Preis sichtbar machen, wo sich Schule verändert – als Best Practice für viele andere“, so Bohl. Ergänzend zum Schulpreis gibt es deshalb ein umfangreiches Begleitprogramm, von Workshops über Networking bis zu Stippvisiten in Preisträgerschulen, das die Ideen in alle Ecken des Landes tragen soll. Denn besseres Lernen ist dringend nötig.
Die Pandemie hat Leistungsunterschiede verschärft
Gerade hat das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) die erste bundesweite Studie zu den Folgen der Schulschließungen bis Sommer 2021 vorgelegt. Ergebnis: Viertklässler:innen wurden im Fach Deutsch durchschnittlich um ein halbes Jahr zurückgeworfen, in Mathe hängen sie ein Vierteljahr zurück. Die Rahmenbedingungen an vielen Schulen sind ohnehin mangelhaft: marode Gebäude, eklatanter Lehrkräftemangel, Unterrichtsausfälle, lückenhafte digitale Ausstattung. Zudem: „Die Schüler:innenschaft an allen Schulformen wird immer heterogener. Das geht mit Leistungsunterschieden einher, die Corona zusätzlich verschärft hat“, sagt Erziehungswissenschaftler Bohl. „Lehrkräfte müssen im Unterricht daher mehr differenzieren und Angebote für unterschiedliche Lernstände machen.“ Das funktioniert nur, wenn Schüler:innen gelernt haben, sich auch selbstständig und selbstorganisiert etwas zu erarbeiten (s. S.32). Dann können Lehrkräfte sich jenen widmen, die sie besonders brauchen. Und leichter Unterstützer:innen von außen in den Unterricht integrieren, „statt Zusatzangebote für Schwächere auf den Nachmittag zu legen – das ist für viele eher wie eine Strafe“, kritisiert Bohl.
Bildungsexpert:innen sind sicher: Um Schüler:innen aufzufangen und Schulen künftig krisenfest zu machen, braucht es eine ganze Toolbox von Maßnahmen. Gute Konzepte für den Einsatz digitalen Lernens, bei dem nicht einfach Arbeitsblätter online gestellt werden, sondern Pädagog: innen genau analysieren: Wo bringt das Digitale Vorteile? Welches Ziel wollen wir erreichen? Wie müssen wir dafür digitales Lernen aufbereiten und wo trägt es vielleicht nicht? Eine gute Kommunikation mit den Eltern. Wenn sie an Bord sind, wissen, was von ihren Kindern erwartet wird und wie sie unterstützen können, lernen Schüler:innen besser. Aber es braucht auch emotionale Unterstützung vonseiten der Schule, Feste, Ausflüge, regelmäßige Besprechungsrunden in der Klassengemeinschaft; sowie Sozialarbeiter: innen, Psycholog:innen, Förderlehrkräfte, sogenannte multiprofessionelle Teams an den Schulen. Bundesländer wie Hamburg verteilen die Mittel für ihre Schulen neuerdings nach Sozialindizes statt wie bisher nach Schulform. In einem Einzugsgebiet mit vielen einkommensarmen Familien etwa gibt es mehr Geld von der Stadt.
Ein Tablet für selbstorganisiertes, hybrides Lernen
Doch letztlich hängt es nicht am Geld allein. Es braucht auch den Biss Einzelner, von Schulleitung und Team wie an der Schule am Dichterviertel. Gemeinsam bauen sie die Schule weiter um. Ab Herbst bekommen alle neuen Schüler:innen ein Tablet, finanziert aus städtischen Mitteln. Damit selbstorganisiertes Lernen noch besser funktioniert. Die Lehrkräfte strukturieren alle Fächer nach einem neuen Leitziel: Bildung für nachhaltige Entwicklung. Welche Rolle also spielen Klimakrise, Ökologie und Umweltpolitik für jedes Fach, welche möchten sie zusammen unterrichten, weil sie unterschiedliche Aspekte derselben Frage beleuchten? Wo können sie digitale Lerneinheiten einbinden? Und soeben ist das Eis-Programm (Engagement in Schule) gestartet. In einem One-on-one-Coaching kommen hier Lehrkräfte mit jedem Kind seinen Stärken auf die Spur: Was kannst du besonders gut? Was könntest du anderen weitergeben? Egal ob besonders toll Schleife binden, richtig Pflanzen gießen, Klavierspielen oder ein E-Book über Diskriminierungserfahrungen als Schwarze Schülerin schreiben. Das zeigen die Kinder dann in den Pausen, am Nachmittag oder in Projekten ihren Mitschüler:innen. Längst sind auch Zukunftsskills Lernziele, etwa Bürger:innensinn, Kreativität, Leadership, Umgang mit Widersprüchen. Küppers: „Schule muss Schüler:innen auf viele Arten inspirieren, sie stolz machen und empowern, selbst Verantwortung zu übernehmen – für ihr Lernen und sich selbst.“
Im Zuge der Pandemie musste der Schulunterricht grundlegend umgebaut werden. Hybrid statt nur vor Ort, selbstorganisiert statt vorgefertigt. (Symboldbild: Mathematik-Unterricht mit einer digitalen Lernplattform)