Carina fällt auf in der kleinen Caféstube in dem Flachbau, indem die Redaktion des Hamburger Obdachlosenmagazins „Hinz&Kunzt“ sitzt: Sie ist großgewachsen, gepflegt und nur eine von drei Frauen. Obdachlos ist Carina schon lange nicht mehr. Seit 13 Jahren lebt die 45-Jährige in einer kleinen Wohnung im Hamburger Norden. Ein kleines Wunder, wenn man ihre Lebensgeschichte hört. Mit 18 geht die Pferdewirtin weg aus ihrem Elternhaus in Neustadt an der Ostsee. Verliebt sich in einen Hamburger. Wird drogenabhängig. Lebt am Hauptbahnhof der Hansestadt, schläft im Eingang eines Supermarktes oder in einem Wohnschiff für Obdachlose auf der Elbe. Um ihre Sucht zu finanzieren, geht sie anschaffen.
Heute hat Carina nicht nur ein Dach über dem Kopf und braucht kein Heroin mehr, sondern sie arbeitet auch: Sie verkauft an einem festen Platz nahe eines Supermarkts im Stadtteil Rissen „Hinz&Kunzt“. Die Leute seien sehr freundlichen zu ihr, sagt Carina, streichelt ihren Mischlingshund Nelly und wirkt zufrieden.
Carinas ehemaliges Schicksal, auf der Straße leben zu müssen, teilten im Jahr 2016 in Deutschland mehr als 52.000 Menschen, in den Großstädten machen ausländische EU-Bürger 50 Prozent von ihnen aus. Die Ursachen sind vielfältig. Rumänen oder Bulgaren zum Beispiel sind in der Hoffnung auf ein besseres Leben hier gestrandet.
„Deutsche Wohnungslose haben häufig soziale Schwierigkeiten oder sind alkoholkrank. Sie sind nicht mehr in der Lage, Anträge bei Ämtern und Behörden zu stellen oder professionelle Unterstützung zu nutzen“, sagt Rolf Keicher vom Zentrum Migration und Soziales des Bundesverbandes Diakonie Deutschland. Der Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirchen betreibt über 500 Heime, Notunterkünfte oder Tagestreffs für Menschen ohne Wohnung. Auf seinem Hilfeportal im Internet bündelt er Informationen zum Thema und informiert über den Umgang mit Obdachlosen. „Viele Menschen sind zum Beispiel verunsichert, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie helfen wollen“, weiß Keicher.
Obdachlosigkeit: Anstieg um 150 Prozent
Hilfsangebote, Unterbringungsmöglichkeiten und auch private Initiativen gäbe es eigentlich genug, sagt der Diakonie-Mann. Auch der Einbruch der wirtschaftlichen Existenz, gekoppelt mit einer persönlichen Lebenskrise führe häufig dazu, dass Menschen nicht mehr in der Lage seien, ihren Alltag selbstverantwortlich zu regeln. „Das sind dann die Fälle, in denen die Menschen ihre Post nicht mehr aufmachen, weil sie keine Probleme kriegen wollen. Aber damit fangen die Probleme erst an.“ Bis zur Wohnungslosigkeit ist es dann nicht mehr weit: Eine Räumungsklage kann schon nach zwei nicht bezahlten Monatsmieten angestrengt werden.
Der gern assoziierte ungepflegte Mann, der dann im Schlafsack auf Lüftungsschlitzen übernachten muss, ist aber nicht die Regel. Mindestens so alarmierend wie die 52.000 Obdachlosen sei laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) eine weitere Zahl: 860.000 Menschen hatten 2016 keine eigene Wohnung. Regelmäßig schätzt die BAGW mit einem statistischen Verfahren die Anzahl der Wohnungslosen, die Bundesregierung beruft sich in ihrem Armutsbericht darauf. Seit 2014 bedeutet das einen Anstieg um rund 150 Prozent. Die BAGW prognostiziert bis Ende 2018 sogar einen weiteren Zuwachs um etwa 350.000 auf dann 1,2 Millionen wohnungslose Menschen.
Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften zählt die BAGW mit, auch ein Grund für den rasanten Anstieg. Aber: „Wenn man die Zahl von 860.000 auflöst, kommen wir auf 420.000 wohnungslose Deutsche und EU-Bürger sowie Bürger aus Drittstaaten“, sagt Thomas Specht von der BAGW. Dazu kämen etwas mehr als 440.000 Geflüchtete im Asylsektor. „Die Zahl der Wohnungslosen ist in Deutschland auch ohne Berücksichtigung der Flüchtlinge in den vergangenen beiden Jahren um etwa 25 Prozent gestiegen.“
Zu hohe Mieten, prekäre Beschäftigung
Auf der Straße sieht man den meisten Menschen ihre Wohnungslosigkeit nicht an. „Ein Teil lebt bei Freunden und Bekannten, sie betreiben das sogenannte Couchsurfing oder Mietwohnen,“ so Specht. Das klappe meistens ein paar Monate, dann landen sie in sogenannten ordnungsrechtlichen Notunterkünften der Kommunen. Dort käme man aber als EU-Bürger nur unter, wenn die Kommunen auch für diese Gruppe Notunterkünfte zur Verfügung stellen würden. „Doch das ist zum Teil gar nicht oder in zu geringem Umfang der Fall.“ Andere lebten in Heimen der freien Wohlfahrtspflege oder in Wohnungen, die von freien Trägern wie der Caritas oder dem Diakonischen Werk angekauft wurden. Für Christoph Butterwegge von der Universität Köln liegt der Hauptgrund für die hohen Zahlen bei der versteckten Wohnungslosigkeit: „Die hohen Mieten. Wohnungen werden als Ware gehandelt wie Waschmaschinen oder Würstchen. Kapitalkräftige Investoren oder die sogenannten Heuschrecken missbrauchen Wohnungen als Spekulationsobjekt.“ Nicht zuletzt deshalb fänden selbst Normalverdiener in vielen Groß- und Universitätsstädten kaum noch bezahlbaren Wohnraum.
Der Politikwissenschaftler forscht seit vielen Jahren zum Thema Armut in Deutschland. Verantwortlich seien auch eine über Jahrzehnte verfehlte Wohnungsbaupolitik und – trotz Mindestlohn – die prekären Beschäftigungsverhältnisse von Millionen Menschen, sagt Butterwegge. „Armut und Wohnungsnot dringen darum immer weiter in die Mitte der Gesellschaft vor.“ Die Forderungen von Experten wie Specht und Butterwegge an die Politik: Förderung des sozialen Wohnungsbaus; gezielte Maßnahmen, um wohnungslose Haushalte wieder mit eigenen Wohnungen zu versorgen; Quoten für die Vermietung von geförderten Wohnungen an wohnungslose Menschen; Akquise von Wohnungsbeständen bei privaten Vermietern und der Wohnungswirtschaft zur Versorgung von Menschen in einer Wohnungsnotfallsituation. Stärkung der Prävention von Wohnungsverlust. Und nicht zuletzt: Menschenwürdige Unterbringung und ausreichende medizinische Versorgung der 52.000 tatsächlich Obdachlosen. Geld dafür sei in einem reichen Land wie Deutschland ausreichend vorhanden, e…
Auch in Deutschland ist Obdachlosigkeit ein großes Problem