Während ich diese Worte schreibe, ist wieder ein Ei hopsgegangen. Genau wie bei vielen Uterus-Besitzer:innen im vierten Lebensjahrzehnt strömen mit der nicht befruchteten Zelle nicht nur Blut, sondern auch Gedanken und Zahlen. Man berechnet, wie viel Zeit man noch hat, man kalkuliert Wahrscheinlichkeiten. Man analysiert Daten und stellt ethische Überlegungen an.
Was würde es im 21. Jahrhundert bedeuten, ein weiteres Kind auf die Welt zu bringen?
Diese Frage ist keinesfalls nur persönlich. Sie ist zutiefst politisch, ob man will oder nicht. Nachdem in Frankreich, lange der Musterschüler Europas, wenn es um stabile Reproduktionsraten ging, im Januar 2024 das Statistikamt Daten zur Demografie des Landes veröffentlicht hatte, brach bei unserem Nachbarn eine Social-Media-Debatte los: Demnach wurden im Jahr 2023 in Frankreich 678.000 Babys geboren, sieben Prozent weniger als im Jahr 2022 und fast zwanzig Prozent weniger als im Jahr 2010.
Rechte Rhetorik: Der Uterus als wirtschaftliche Ressource
Präsident Emmanuel Macron, der selbst keine biologischen Kinder hat, forderte umgehend eine „demografische Wiederaufrüstung“ Frankreichs. Babys als Waffe und essenzielle Ressource für die Erhaltung des Volkes – das rechtfertige ja wohl, dass der Staat und sein Anführer ein Wörtchen mitzureden haben bei der Produktivität der französischen Eierstöcke! Bitter dabei: Zeitgleich zur Demografie-Debatte wurden in Frankreich so harte Migrationsgesetze erlassen wie nie zuvor. Die Botschaft ist eindeutig: Nicht mehr Menschen soll es in Frankreich geben, sondern nur mehr in Frankreich geborene Menschen.
Hierzulande muss man ein wenig weiter nach rechts krebsen, wenn man bei derlei spitzer Rhetorik fündig werden will. Der AfD-nahe Aktivist der rechtsextremen „Identitären Bewegung“, Erik Ahrens, postete dazu im Juni 2023 auf X (früher Twitter): „Junge Männer sollten gemustert und ein Jahr lang zum Wehrdienst verpflichtet werden, um je nach Eignung das Land mit ihrem Leben zu verteidigen … Junge Frauen könnten gemustert und bei Eignung zur Abgabe von Eizellen verpflichtet werden, um die Demografie zu stabilisieren.“
Ehrens distanzierte sich später von seinen Aussagen – die Betrachtung „geeigneter“ männlicher Körper als eine Ressource des Militärs und weiblicher Körper als eine Ressource der Wirtschaft ist aber nicht neu. Im Nationalsozialismus wurden Menschen mit Behinderung zwangssterilisiert, damit sie das Volk nicht „verunreinigten“, „Vorzeige-Arier“ wurden dagegen in einem Experiment zur Gen-Perfektionierung gezielt miteinander gepaart. Kinderreiche Mütter erhielten ein Verdienstkreuz mit Swastika. Weniger bekannt: In Frankreich wird bis heute die „Médaille de la Famille“ an Eltern vergeben, die mehrere Kinder „in Würde großgezogen haben“. Eingeführt wurde die Auszeichnung im Ersten Weltkrieg, als junge Männer an der Front fehlten.
Auch in Deutschland geht die Geburtenrate zurück. Im Herbst 2023 lag sie nach vorläufigen Berechnungen bei 1,36 Kindern pro Frau. Der tiefste Stand seit 2009. Bei der AfD heißt es in Passagen auf der Website und im Grundsatzprogramm: „Die dramatische Zunahme der Ehe- und Kinderlosigkeit und das Verschwinden normaler mittelgroßer Familien sorgen für eine Schrumpfung unserer angestammten Bevölkerung … Die AfD stemmt sich gegen diesen Trend zur Selbstabschaffung … Die konfliktträchtige Masseneinwanderung ist dafür kein geeignetes Mittel. Vielmehr muss eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung als mittel- und langfristig einzig tragfähige Lösung erreicht werden.“ Und: „Die AfD ist gegen jede finanzielle Unterstützung von Organisationen, die ‚Einelternfamilien‘ als normalen, fortschrittlichen oder gar erstrebenswerten Lebensentwurf propagieren.“
Alles von der Nuklearfamilie, also vom Standard Abweichende, zum Beispiel queere Pärchen oder polyamore Menschen mit Kinderwunsch, Menschen, die keine Kinder wollen oder nicht bekommen können, migrantische Familien mit sehr vielen Kindern und freiwillig alleinerziehende Elternteile, gilt als unnormal und unerwünscht. Schwangerschaftsabbrüche sollen nach der AfD nur noch in absoluten Ausnahmen möglich sein, wie nach Vergewaltigungen. Auch die CDU reagierte empört, als im April eine Untersuchungskommission des Bundestags empfahl, Abtreibung in Deutschland endlich zu legalisieren.
Doch egal welche persönlichen, religiösen oder politischen Meinungen ein Mensch vertritt, wenn es um Reproduktion geht: Niemand kann abstreiten, dass Deutschland zu alt ist.
Vergreistes Land
Aktuell belegen wir auf der Liste der am meisten vergreisten Länder weltweit Platz elf. Der oder die Durchschnittsdeutsche ist Mitt…
Reproduktion im 21. Jahrhundert