Schwerpunkt: Osteuropa

Warum der Westen jetzt auf ganz Osteuropa blicken muss

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat in einer Rede die Europäer:innen aufgerufen, die Ukraine als gleichwertig mit dem Rest Europas zu betrachten. Warum tun wir das erst jetzt, nach der russischen Invasion? Dahinter steckt eine lange westliche Geschichte des Antislawismus und der Arroganz gegenüber Osteuropa. Warum es jetzt wichtig ist, mit einem konstruktiven Blick auf die Region zu schauen.

Was meint der Westen, wenn er vom Osten spricht? Im neuen Asterix und Obelix-Band verschlägt es die Gallier dorthin. Er wird als dunkler, nebelverhangener Fleck an der Grenze zu Deutschland dargestellt und „Barbaricum“ genannt. Im Laufe der Geschichte tauchen langbeinige Schönheiten mit Namen wie „Kalaschnikova“ auf, die Sonne scheint niemals und das Essen ist fettig und ranzig.

Die deutsch-polnische Journalistin und Osteuropaexpertin Alice Bota begründet in ihrem neuen Buch Die Frauen von Belarus das geringe westeuropäische Interesse an den Protesten gegen die grausame Diktatur in Belarus mit einer gedanklichen Distanz, die den Osten Europas als weit weg, irrelevant und rückständig erscheinen lässt. Sie zitiert Konrad Adenauer, der sogar gesagt haben soll, für ihn beginne „die asiatische Steppe gleich hinter Braunschweig“. Alles jenseits dieser Grenze erscheint als ominöse Einheit. Bota schreibt: „Der Osten, das war damals die Sowjetunion und ist heute Russland.“

Den „Osten“ und den „Westen“ hat es nie gegeben

In unserem kollektiven Gedächtnis verorten wir noch 30 Jahre nach dem Mauerfall diesen imaginierten östlichen Schmelztiegel irgendwo zwischen Zuckerbäckerkirchen und billigen Zigaretten, Matrjoschkas und sozialistischen Plattenbauten, Tundra und nie endenden Wodka-Eskapaden. Ein Ort, der vor allem in den Biografien von Hollywood-Gangstern auftaucht, aber nicht in jenen von Held:innen.

Für die Spezifika der Region, für die unglaubliche Vielfalt ihrer uralten Kultur, die innovative Wirtschaft und die progressiven Bewegungen fehlt im Westen meist das Interesse. Dabei hat es „den Osten“ oder „den Westen“ nie gegeben. Unsere Kulturen waren immer miteinander verwoben. Aber wer weiß schon, dass es im ukrainischen Lemberg, das lange zu Österreich gehörte, eine Wiener Kaffeehaustradition gibt? Oder dass in der polnisch-litauischen Adelsrepublik, in der zwei Sachsen zum König gewählt wurden, eines der ersten Demokratie-Experimente der frühen Neuzeit stattfand? Der Osten, das ist genau wie der Rest Europas eine Melange der Kulturen und Widersprüche. Orthodoxes Christentum, Judentum, katholische Kirche und Islam. Römische Paläste in Split, venezianische Brunnen in Montenegro, osmanische Balkone in Skopje und Sinti:ze- und Rom:nja-Kulturfestivals in Sofia. Dennoch wird die Region heute nach wie vor auf ihre sozialistische Vergangenheit reduziert.

Erzählt man, dass Estland das erste und einzige Land der Welt ist, in dem sowohl das Staatsoberhaupt als auch die Regierungschefin Frauen waren, erntet man großes Erstaunen. Niemand weiß, dass Casablanca, der berühmteste Hollywood-Film überhaupt, von einem ungarischen Regisseur geschaffen wurde. Und wer hätte jemals geglaubt, dass das Unternehmen Kleiderkreisel, heute als Vinted bekannt, aus Litauen stammt?

Die Wirtschaft in Osteuropa boomt

Dabei boomt die Start-up-Landschaft von Krakau über Vilnius bis Kiew. Im ersten Quartal 2021 legte der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft beeindruckende Zahlen vor: Demnach ist der deutsche Handel mit Osteuropa um 6,7 Prozent gewachsen und damit dreimal so stark wie der deutsche Außenhandel insgesamt. Polen ist inzwischen nach China und den Niederlanden der drittgrößte Lieferant Deutschlands und unser fünftstärkster Handelspartner. Umgekehrt treiben die Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei mehr Handel mit Deutschland als mit China oder den USA. Und immer mehr Oststaaten, allen voran Moldawien, die Ukraine, Nord-Mazedonien und Georgien, wollen Teil der EU werden und weg vom übermächtigen Nachbarn Russland.

All das in einer Zeit der maximalen Krise. Während dies…

Bild: Agnieszka Sejud

Innovation, Protest und Vielfalt – Der Westen muss Osteuropa endlich ernst nehmen.

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