Anmerkung der Redaktion: 2010 erschien die erste Ausgabe des enorm Magazins. Wir feiern 2020 Geburtstag und veröffentlichen besondere Artikel erneut. Der folgende Text erschien zuerst in der Ausgabe 1/2010. Er stammt aus dem Schwerpunkt „Land in Sicht!“ des gleichnamigen Heftes. Heute heißen wir Good Impact.
Spätestens als die Besuchergruppe ihre Blindenstöcke erhält und rechts der absolut dunkle Raum zu erahnen ist, werden die meisten nervös. Wer eine Brille trägt, gibt sie zur Sicherheit ab. Eine Vorahnung entsteht, wie eingeschränkt, wie blind sich alle Sehenden gleich fühlen werden. Dann geht es los, hinein in die undurchdringliche Finsternis. Die Gruppe rückt wie ferngesteuert eng zusammen.
„Die ersten Schritte sind die schwierigsten“, sagt Miro Miletic. Er ist einer der blinden Guides, die kleine Gruppen durch die Ausstellung Dialog im Dunkeln führen: vier bis sechs Räume, ganz alltäglichen Orten nachempfunden, zum Beispiel einem Park oder einer Straße. Nur dass es hier die behinderten Menschen sind, die Orientierung und Sicherheit geben, dem Besucher über die Ampel helfen oder ihm an der Bar ganz selbstverständlich das gewünschte Getränk servieren.
Nach einer Stunde, die sich viel kürzer anfühlt, stehen die Teilnehmer blinzelnd und voller Sinneseindrücke wieder im Vorraum. Ein Mitarbeiter läuft, den Blindenstock vor sich auf dem Boden hin- und herschwenkend, zielstrebig zur Tür. Vorbei an der Gruppe, die ihn nicht mehr mitleidig, sondern fast schon bewundernd beäugt.
Miro Miletic, 33, trägt selbstbewusst eine knallorangene Sonnenbrille zum gut sitzenden Anzug, er spricht mit angenehmer, sicherer Stimme und lacht gerne. Bei Dialog im Dunkeln führt er nicht nur Gruppen durch den Dunkelparcours, sondern leitet auch Teambuilding- und Kommunikationstrainings für Führungskräfte.
Wie 98 Prozent aller blinden und schwer sehbehinderten Menschen ist er nicht blind geboren, die Diagnose „unheilbare Augenkrankheit“ traf ihn mit 25 Jahren wie ein Blitzschlag. Innerhalb weniger Jahre verschlechterten sich seine Augen rapide. Sein begonnenes Studium schloss Miletic noch ab, dann trat anstelle der Aussicht auf eine Managementkarriere, des Traumes von Reisen um die Welt, aber auch alltäglicher Dinge wie Lesen oder Sport, rabenschwarze Perspektivlosigkeit. Fast zwei Jahre lang bewarb er sich bundesweit. „Wenn ich meine Behinderung angab, wurde ich gar nicht erst eingeladen, und wenn ich sie nicht erwähnt habe, ist es im Vorstellungsgespräch daran gescheitert.“ 2008 bewarb er sich schließlich initiativ auf eine Ausschreibung bei Dialog im Dunkeln und wurde sofort eingestellt. „Die Stelle war wie ein Geschenk“, sagt Miletic, „plötzlich war das Gefühl der Wertlosigkeit weg, weil ich hier etwas leisten kann und gebraucht werde.“
Fragt man Andreas Heinecke, 52, wie er auf die Idee kam, sehende und blinde Menschen gemeinsam Aufgaben in absoluter Dunkelheit lösen zu lassen, sagt er bescheiden, es sei ja ein naheliegender Gedanke gewesen. Als junger Mann hatte Heineke beim Südwestfunk seine ersten Kontakte mit blinden Menschen gehabt, bildete erblindete junge Menschen zu Journalisten aus. Er war überrascht über den Reichtum ihrer Welt, zuvor hatte er einfach nur gedacht, sie seien arm dran. Wohl auch deshalb wollte er mit Dialog im Dunkeln etwas völlig Neues ausprobieren, während andere an Altbekanntem festhielten. Andreas Heineke erkannte die Möglichkeit, blinden Menschen nicht nur Arbeit zu geben, wie es beispielsweise Blindenwerkstätten tun, sondern dies auf Augenhöhe mit nicht-behinderten Menschen geschehen zu lassen und durch diesen barrierefreien Umgang miteinander auch in der Gesellschaft ein Umdenken zu bewirken.
Dialog im Dunkeln
1988 hatte Andreas Heinecke, damals Angestellter der Stiftung Blindenanstalt, die Idee für einen Parcours, in dem sehende von blinden Menschen lernen können. 1995 machte er sich selbstständig, arbeitete das Konzept aus und eröffnete mithilfe von Fördergeldern im April 2000 die erste Ausstellung in Hamburg. Aufbauend auf dieser Referenz (rund 75 000 Besucher jährlich) kamen ein Restaurant (rund 3500 Gäste) und Kommunikationstrainings für Führungskräfte im Dunkeln (ca. 800 pro Jahr) hinzu. Erwirtschaftete Gewinne investiert Heinecke zu hundert Prozent in die Weiterentwicklung und Verbreitung des Konzepts: Dreizehnmal gibt es Dialog im Dunkeln weltweit als Dauerausstellung, zuletzt wurde am 20. Februar die Ausstellung in Hongkong eröffnet. Weitere sind in Planung. Die Grundfinanzierung sichert inzwischen ein internationales Franchisemodell mit Beraterhonoraren und Lizenzgebühren, die zweite Säule sind Eintrittsgelder, Verzehr und die für große Unternehmen weltweit durchgeführten Kommunikationstrainings im Dunkeln.Und er fand Finanzierungsmöglichkeiten, um seine Idee umzusetzen. All das macht Heinecke zu einem Social Entrepreneur, was sich nur unzureichend als „sozialer Unternehmer“ übersetzen lässt. Denn das Konzept, soziales Engagement und kreatives, unternehmerisches Denken zu kombinieren, um eine nachhaltig positive Veränderung im sozialen und ökologischen und damit insgesamt gesellschaftlichen Bereich zu erzielen, verbreitet sich hierzulande gerade erst durch Pioniere wie Heinecke und international arbeitende Stiftungen wie die Schwab Foundation oder Ashoka, die größte Organisation zur Förderung von Social Entrepreneurs.
Die erste in Deutschland vergebene Ashoka-Förderung ging 2005 an Heinecke. „Die Auszeichnung war sehr wichtig für meine Identität, auch nach Außen“, sagt er. Plötzlich gab es einen Begriff für das, was er seit 15 Jahren tat…
Andreas Heinecke gründete als Social Entrepreneur Dialog im Dunkeln, wo sehende von blinden Menschen lernen können.