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Am Abend des 24. Februars sitzt Kristina Lunz auf einer Bühne in der historischen Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg, auf einem Barhocker, Beine überschlagen. Premierenlesung: Heute erscheint ihr erstes Buch. Es ist auch der Tag, an dem Wladimir Putin die ganze Ukraine angreift. Ihr Buchtitel klingt nach einer Antwort: Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch: Wie globale Krisen gelöst werden müssen. Darin fordert die Aktivistin Abrüstung. Auch jetzt sagt sie: „Feministische Außenpolitik setzt andere Prioritäten: Solidarität, Zusammenarbeit, Menschenrechte.“ Zeit für einen Paradigmenwechsel.
Mittwochmorgen, einen Monat später. Der Krieg hat sich verschärft, politische Linien sind gesprengt. Rasch fährt Lunz mit ihrem Fahrrad auf das Café im Berliner Wedding zu, hier nimmt sie sich Zeit für ein Gespräch. Eine Stunde fand sich in ihrem vollen Kalender. Die Expertise der 32-Jährigen ist gefragt, sie ist Mitgründerin der Forschungs- und Beratungsorganisation Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP). Gleich steht ein Interview mit der Glamour an, den Nachmittag hat sie geblockt, um einen Essay für Die Zeit zu schreiben.
Trotz medialem Druck wirkt sie gelassen und locker, lächelt, ist zugewandt. Kurz nach dem 24. Februar war das anders: „Das Wochenende, an dem der Bundestag 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr und Waffenlieferungen beschlossen hat, war für mich persönlich sehr überwältigend.“ Eine Zeitenwende. Seitdem erfahren ihre Organisation und sie als Person nicht nur mehr Aufmerksamkeit, sondern auch Anfeindungen, Diffamierungen und Vorwürfe, zu unkonkret und vor allem naiv zu sein. Lunz erlebte Panikattacken, Zusammenbrüche, Heulkrämpfe. „Es ging mir nicht gut.“
Doch sie weiß: Besonders jetzt muss sie laut sein. „Menschenrechtsverteidiger:innen warnen seit Jahrzehnten genau davor, was gerade passiert. Sie haben die Gewaltbereitschaft von Putin nie unterschätzt.“ Sie spricht entschieden: „In einer militarisierten Welt wird es ständig zu mehr Gewalt, Kriegen und Konflikten kommen. Gerade in Momenten wie jetzt, wo wir Angst vor dem Einsatz von Nuklearwaffen haben, müssten wir doch sagen: Scheiße, es war der falsche Weg, Rüstungskontrolle abzubauen und Massenvernichtungswaffen zuzulassen. Stattdessen werden mehr Waffen gefordert und ich denke mir: Seid ihr irgendwie alle bescheuert?“
Sie fragt sich auch: Wie viel feministische Utopie braucht es für die langfristigen Ziele? Wie viel Pragmatismus muss kurzfristig sein? „Im Angesicht der massiven Gewalt, der die Menschen in der Ukraine ausgesetzt sind, müssen wir sie so unterstützen, wie sie das fordern. Wenn da Waffen dazugehören, dann gehören die dazu, keine Frage.“ Doch das sei weder vorausschauende Friedenspolitik noch eine nachhaltige Lösung. „Das ist Pflasterkleben im akuten Notfall.“ Langfristig brauche es ein strenges Rüstungsexport-Kontrollgesetz, ein Verbot von Atomwaffen und ein Ende der engen Verzahnung von Waffenindustrie und Regierungen. Außerdem: mehr Ressourcen für internationale Friedensmissionen, für Bildung, Gesundheit, Ernährungssicherheit und Klimagerechtigkeit. Feministische Außenpolitik fordert auch eine Abkehr von der kapitalistischen Ausbeutung der Natur und Reparationszahlungen für den Globalen Süden. Bei all dem geht es insbesondere um den Schutz der am stärksten marginalisierten Personen, etwa Frauen, Kinder und finanziell armen Menschen.
Kampagnen gegen Sexismus
Öffentlich tritt sie 2014 zum ersten Mal als Feministin auf. An einer Tankstelle sieht sie die Bild-Zeitung, gesucht wird „der schönste TV-Busen Deutschlands“. Der dreiste Sexismus empört Lunz, sie aktiviert Mitstreiter:innen, gemeinsam starten sie eine Online-Petition, die dazu beiträgt, dass das „Bild-Girl“ 2018 verschwindet. Mit dem Bündnis „Nein heißt Nein“ stößt sie eine Reform des Sexualstrafrechts an. Nach den sexualisierten Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 engagiert sie sich in der Kampagne #ausnahmslos gegen Rassismus.
Lunz wächst behütet und idyllisch auf, in einem 80-Seelen-Dorf bei Bamberg. Die Familie ist zum Teil politisch konservativ, wählt CSU. Die Großeltern sind Landwirt:innen, die Mutter arbeitet als Erzieherin, der Vater ist Elektriker. Als Erste in ihrer Familie studiert sie an einer Universität. Während ihres Psychologie-Bachelors in Mainz arbeitet sie in den Semesterferien als Paketzustellerin. Erfährt erst spät, so wie viele Erstakademiker:innen, von Stipendien. Damit kann sie sich zwei Master in England leisten.
Vor allem ihr Vater ist es, der sie „wie ein Cheerleader“ anfeuert, etwa als sie sich in London überfordert fühlt – von der Sprache, dem Politikstudium und der Stadt. Weinend ruft sie ihn an. „Tina, lass dich von denen nicht unterkriegen. Du kannst das.“ Ihr feministisches Erwachen, wie sie es nennt, erlebt ihr Vater nicht mehr, stirbt wenig später an Krebs. Doch sie ist sich sicher: Er wäre stolz auf sie.
Als Lunz an der Eliteuniversität Oxford Global Governance und Diplomatie studiert, ist ihr Außenpolitik noch fremd, eine männliche Sphäre voller Militär-Pathos. Bis sie versteht, worum es eigentlich gehen müsste: „Darum, was dich und mich sicher hält: dass ich als Frau nachts keine Angst habe, alleine nach Hause zu laufen, dass ich ein Dach über dem Kopf und zu essen habe, Zugang zu Bildung. That is what security is about.“ Denn Daten zeigen: Wie gleichberechtigt die Geschlechter in einem Staat sind, sagt mehr aus als das Bruttoinlandsprodukt oder die Staatsform. Und zwar darüber, wie gewaltbereit dieser Staat ist – sowohl innen- als auch außenpolitisch.
Nach ihrem Abschluss arbeitet sie zunächst für eine lokale NGO in Kolumbien. Als sie 2017 für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen nach New York und Myanmar geht, scheint eine Traumlaufbahn zu beginnen. Doch Lunz ist vom System ernüchtert, möchte es verändern. Sie beginnt, das gerade in Großbritannien gegründete CFFP als Sozialunternehmen in Deutschland mitaufzubauen. Im Januar 2019 wird sie für ein Jahr als Beraterin ins Auswärtige Amt geholt, ein Schub an Kontakten und Glaubwürdigkeit. Mittlerweile sind sie beim Centre zu neunt, mit siebeneinhalb vollen Stellen, doch die Belastung ist hoch: „Die Anfragen für unsere Expertise decken sich nicht mit der Finanzierung unserer Arbeit. Feministische Zivilgesellschaft ist massiv unterfinanziert.“ Lunz spricht mittlerweile auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dem weltweit größten Treffen zu internationaler Sicherheitspolitik. Gerade hat sie mit dem CFFP ein Gipfeltreffen zu feministischer Außenpolitik organisiert, zusammen mit weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen und mit den Regierungen von Kanada, Mexiko und Schweden, das sich 2014 als erstes Land weltweit zu feministischer Außenpolitik bekannt hat. In Deutschland steht mit Annalena Baerbock erstmals eine Frau an der Spitze des Außenministeriums, im Koalitionsvertrag ist Feminist Foreign Policy in einem Absatz verankert.
Am Tisch der Mächtigen
Lunz ist gut vernetzt, sie sitzt mit am Tisch der Mächtigen. Doch gerade aufgrund ihrer Erfahrungen als Kind von Nichtakademiker:innen ist sie sich der Gefahr bewusst, zu gut vernetzt zu sein: „Lange habe ich nicht zu den Kreisen gehört, in denen Entscheidungen getroffen werden. Jetzt kenne ich die Menschen in Machtpositionen.“ Dennoch muss sie ihre Unabhängigkeit wahren, vergewissert sich immer wieder bei Freund:innen. „Ich möchte sicherstellen, dass ich kritisch genug bleibe. Und mich nicht aus Angst, nicht mehr eingeladen zu werden, selbst zensiere.“
Vor ihr auf dem kleinen Sofatisch im Café steht eine Apfelschorle. Die Ellenbogen hat sie auf den Beinen abgestützt, an ihrem Handgelenk baumelt ein Armband, in goldener Schrift steht darauf: „Stand with Ukraine“. Wenn sie spricht, neigt sie sich leicht nach vorne, hört aufmerksam zu, hält vor manchen Antworten bedächtig inne. Plötzlich bricht sie mitten in einem Satz ab, blickt ein paar Tische weiter zu einem Mann. Mit Kopfhörern im Ohr spricht er im Videocall, unüberhörbar. „Ich tue mich schwer damit, konzentriert zu bleiben, wenn andere Leute so laut sind. Mit was für einer Selbstverständlichkeit er so viel Raum einnimmt.“
Um abzuschalten, sucht sie gezielt die Stille, stellt wochenends ihr Handy mehrere Stunden auf Flugmodus. Seit drei Jahren macht sie ein therapeutisches Coaching. Halt geben ihr auch enge Freund:innen und ihre Familie. In ein paar Tagen fährt sie wieder nach Franken. „Ich bin inzwischen sehr strikt geworden, was meine Grenzen angeht und meine Feierabende.“ Wenn die nicht mit Terminen gefüllt sind, versucht sie, politische Diskussionen zu umgehen. Bei den wenigen Tagen Urlaub im Jahr muss sie mit ihren Kräften haushalten.
Bald ist sie für zweieinhalb Monate in Oxford, um dort an ihrer ehemaligen Fakultät mit einem Stipendium zu Cyber Security zu forschen. Oxford, ihr „happy and safe place“. Sie möchte weg von all dem Lärm und Trubel in Berlin, der über sie hereingebrochen ist, kurz resetten. In Oxford wird sie auch ihre langjährige Freundin und Mentorin, die 78-jährige Scilla Elworthy treffen, mit der sie gemeinsam zu Peacebuilding gearbeitet hat. „Ohne Scillas Einfluss in meinem Leben würde ich heute nicht das machen, was ich mache.“ Auch wegen Frauen wie Elworthy schafft sie es, nicht aufzugeben, so ermüdend der Kampf auch scheint. „Es gibt ja keine andere Option. Es ergibt einfach keinen Sinn, am Status quo festzuhalten, statt daran zu arbeiten, was Menschen wirklich sicher hält.“
Im Podcast „Good News“ sprechen wir in der Folge „Wie feministische Außenpolitik Frieden schaffen möchte“ vom 25. März 2022 mit Kristina Lunz. Du findest die Folge auf Spotify, Apple Podcasts und überall da, wo es Podcasts gibt. Den RSS-Feed findest du hier.
Kristina Lunz fordert Abrüstung und einen Paradigmenwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik.