Der Breitscheidplatz in Berlin füllt sich langsam. Aus den Buden kommt der Geruch von Bratwürsten, die Soundchecks auf der Bühne tönen über den Platz. Die letzten Vorbereitungen, bevor hier die Show losgeht. Die Reihe der Drehorgelspieler:innen wird länger. Zwischen Crêpe-Stand und Kaffee-Wagen singen drei ältere Herren „Über den Wolken“, einer von ihnen begleitet sie auf dem Leierkasten. Ein Drehorgelspieler in Anzugweste begrüßt eine Spielerin in pinkem Shirt und Jeans. Überall sitzen Stoffaffen, prangt das rot-weiße Logo der „Internationalen Drehorgelfreunde Berlin“. Als Wimpel, als Anstecker oder wie eine Krawatte um den Hals gebunden. Es ist Freitagvormittag, Anreisetag beim Internationalen Drehorgelfest.
Berlin war mal eine Hochburg der Leierkastenmänner und -frauen, erzählt Christa Hohnhäuser. Sie ist Präsidentin der Drehorgelfreunde und stellt seit 1981 das Fest auf die Beine. Leicht ist es nicht, die Tradition am Leben zu halten, hier oder anderswo, aber die Musiker:innen lieben ihr Instrument. Es ist, als wollten sie der Flüchtigkeit von heute eine kleine Pause verschaffen. Viele der Lieder, von denen Hohnhäuser mir erzählt, kenne ich nicht beim Namen, aber sie klingen mir noch im Ohr von den Straßen meiner Heimatstadt München.
Heute moderiert Hohnhäuser, weißes Rüschenkleid, Strohhut, die Show als „Jubel-Jette“. Sie grinst mich an wie ein Kind die Kuchentheke. Ihre eigenen vier Drehorgeln hat sie in der Kapelle hinter der Bühne zwischengelagert, die älteste ist von 1890. „Ich lass auch den Dreck dran, der ist genauso alt“, lacht die Frau mit dem „schönsten Beruf der Welt“.
Ein teures Handwerk
Schönster Beruf der Welt? Das möchte ich probieren. Die meisten neueren Drehorgeln haben ein Lochband, erklärt mir Hohnhäuser und klappt den Deckel hoch. Eine dicke Papierrolle ist eingespannt, „You raise me up – Brendan Graham“ steht drauf. Mit der Kurbel betreibt sie einen Blasebalg, der die Luft durch ein Metallstück mit Löchern in die Orgelpfeifen leitet. Der Lochstreifen lässt im Wechsel ein Loch frei, dadurch entsteht ein Ton, sind mehrere Löcher im Papier, eben ein Akkord. Die älteren Orgeln haben eine Walze mit mehreren Liedern, ähnlich wie Spieluhren.
Hohnhäuser schließt die Augen, wippt mit, lässt ihre Hand mit der Musik fließen. Darf ich? Ich darf – und bekomme einen Moment Panik. Die Orgel ist ein filigran verzierter Kasten aus unterschiedlichen Holzarten, Malereien, Holzpfeifen. Geliebt, benutzt, wertvoll. Die meisten Drehorgeln kosten mindestens 3.000 Euro, „für die alten muss man auch mal 10.000 zahlen“. Meine Nervosität steigt.
Bei der Profi-Drehorgelfrau sieht alles so leicht aus. Ist es ganz und gar nicht. Ich brauche eine Weile, bis ich ein Tempo halten kann, trotzdem klingt es nicht halb so schön wie bei ihr. Die linke Hand soll ich auf den Orgelkasten legen, das bringe körperlichen Ausgleich. „Zügig und gleichmäßig drehen“, sagt Hohnhäuser, „Später kannst du deine persönliche Note reinbringen.“ Hauptsache, man weiß, wann es gut klingt. Ihr Tipp: mitsingen. Oder besser: mitschreien, wie sie sagt – um mit der Orgel mitzuhalten.
Orgelspiel hat eine internationale Tradition
Ich bin eine fürchterliche Sängerin. Und doch macht das Orgelspiel mehr Spaß, als ich erwartet hätte. Hohnhäuser lacht. „Du wärst nicht die Erste, die das Orgelfieber packt.“ Der Verein hat in diesem Jahr schon drei Männer in den 20ern dazugewonnen. Manche packt es in der Kindheit. Wie jenes fünfjährige Mädchen, das bei einem Fest in Baden-Württemberg Hohnhäusers Mann zuhörte – und selbst Drehorgelspielerin wurde. Aber bei den Orgelhersteller:innen fehlt der Nachwuchs. In den 1920ern gab es in Berlin um die 80 Orgelbauende, meist italienische Einwanderer. Heute ist noch einer übrig. Hohnhäuser: „Landesweit waren es mal 250, aktuell sind wir bei 200.“
Auf dem Fest an diesem Wochenende sind 150 Orgeln angemeldet, eine erstaunlich internationale Mischung. Die meisten Spieler:innen kommen aus Deutschland, der Schweiz, England, den Niederlanden. Auch Menschen aus den USA, Mexiko und Chile sind dabei. Vor allem in Lateinamerika ist die Drehorgel beliebt, erzählt Hohnhäuser. Dort werden inzwischen viele Instrumente gebaut.
In Berlin sind heute viele verkleidet, mal im Anzug mit Zylinder, mal in Hawaii-Hemd, Jeans und Basecap. Und doch gehören sie zusammen. Irgendjemand liegt immer jemandem in den Armen, „Helmut, mein Herz“ schallt herüber, viele singen mit. Ich sitze dazwischen, höre zu und weiß endlich, was passiert, wenn sie Papierrollen aus versteckten Schubladen nehmen und im Orgelkasten kramen – sie tauschen die Lochstreifen aus.
Die Drehorgeln werden in feiner Handarbeit gefertigt und filigran verziert.