Als Leon Lang den Effektiven Altruismus kennenlernte, sortierte er seine Prioritäten neu. Statt regelmäßig Flyer für Tierrechte zu verteilen, startete der Mathestudent an der Universität Bonn richtig durch. Sein Ziel: bessere Noten. Denn davon verspricht sich der 23-Jährige später ein höheres Gehalt. Das er wiederum dafür nutzen kann, um mehr Geld an Organisationen zu spenden, die Leid verhindern. Das, so sagt er, sei effektiver als seine bisherigen Aktionen in der Fußgängerzone. Auf einer Liste im Internet hat er sich verpflichtet, zehn Prozent seines künftigen Einkommens zu spenden.
Als Annalena Tetzner vom Effektiven Altruismus erfuhr, schraubte sie ihren Einsatz für das Studium erstmal herunter. Als Asienwissenschaftlerin, Schwerpunkt Kultur, ist mit einem hohen Einkommen nach dem Abschluss nicht zu rechnen. Besser sei es, sagt Tetzner, ihre Energie in die Verbreitung des neuen Ansatzes zu stecken. Jetzt engagiert sich die 23-Jährige in der Bonner Hochschulgruppe Effektiver Altruismus und überlegt, ob sie in ihrem Studium zu einem Wirtschaftsschwerpunkt wechseln sollte. Um später, so das Kalkül, mehr Karriereoptionen zu haben, um in der Welt etwas zu verändern.
Leon Lang und Annalena Tetzner verbindet eines: Sie wollen Gutes tun, „aber nicht einfach, wo es sich zufällig ergibt“. Sie wollen helfen, dabei aber nicht nur ihrem Herzen folgen, sondern auch ihrem Verstand. Also fragen sie: Was bringt den höchsten Nutzen? Wo erzielt eine Spende die größte Wirkung? Wie kann ich mit meinen Fähigkeiten am meisten bewegen? Deshalb nennen sie sich „Effektive Altruisten“.
Effektiver Altruismus: Erst die anderen, dann das Ego
Altruisten sind Menschen, die erst an andere denken, dann an sich selbst. Effektive Altruisten wollen, dass sich das auch lohnt. Sie sind auf der Suche nach dem größtmöglichen „Impact“, wie sie es nennen. „Finde heraus, wie du am meisten Gutes tun kannst, und dann tue es“, schreibt der Schotte William MacAskill, der in Oxford Philosophie lehrt. Der 29-Jährige hat die Bibel der Effektiven Altruisten geschrieben: „Gutes besser tun“. Was „am meisten“ heißt, versuchen Effektive Altruisten, kurz EA, mit Kosten-Nutzen-Rechnungen zu ermitteln. Eine davon geht so: Von 10.000 Dollar könnte man einem Blinden hierzulande einen Blindenhund finanzieren – oder 300 Augenoperationen in Afrika, die blinden Kindern wieder das Augenlicht schenken. Wer rational entscheidet, müsse also für letzteres spenden, sagen Effektive Altruisten. Die Wirkung in der Welt sei größer.
Vor zwei Jahren war EA kaum bekannt. Groß ist die Szene immer noch nicht, aber sie wächst beständig. Ihre Zentren liegen in Oxford, San Francisco, Melbourne und in der Schweiz. Etwa 2000 EAler gibt es allein in Großbritannien, weltweit sind es mehrere Tausend. Überall gründen sich Lokalgruppen, mehr als 30 sind es in Deutschland. Die EA-Stiftung in Berlin, gegründet im Sommer 2015, berät Menschen dabei, wie sie ihre Karriere nach EA-Kriterien ausrichten, und sie versucht mit inzwischen knapp 30 Mitarbeitern, die Idee in den deutschsprachigen Raum zu tragen. Finanziert wird sie von unabhängigen Spendern.
„Kognitive Verzerrungen“ als Hindernisse
Mathegebäude der Uni Bonn, Raum 0.011. Zwei Dutzend Interessenten sind gekommen. Ein Philosophiestudent hat auf Facebook von dem Treffen gelesen. Eine Germanistikstudentin hörte durch eine Freundin von der Gruppe. Andere wurden über die „Vegane Hochschulgruppe Bonn“ aufmerksam. Ein Mitglied der EA-Gruppe Köln will wissen, wie die Aktiven aus der Nachbarstadt ihr Anliegen vorantreiben. Alle finden den Ansatz „spannend“.
Leon Lang schreibt Zahlen an die Tafel. Welcher Regel folgt diese Zahlenreihe?, fragt er in die Runde. Kulis kratzen auf Papier, eine Schale mit Mandarinen wird herumgereicht. Lösungen haben nur wenige, viele raten eher als dass sie systematisch vorgehen. Lang überrascht das nicht. Mit der kniffeligen Aufgabe will der junge Mathestudent mit dem offenen Blick und dem feinen Lächeln seine Kommilitonen genau dafür sensibilisieren: sich der Grenzen ihrer eigenen Rationalität bewusst zu werden. Denn Menschen verhalten sich oft irrational, glauben Effektive Altruisten. Nicht nur beim Lösen einer Matheaufgabe, sondern auch beim Spenden. Zum Beispiel, wenn sie eher emotionalen Bildern aus Katastrophengebieten folgen als den Fakten. Lang erzählt von „kognitiven Verzerrungen“, „Mindware Gaps“ und anderen „unbemerkten Hindernissen für rationale Entscheidungen in menschlichem Handeln, die Studien der Entscheidungsforschung vielfach belegen“.
Er hält seinen Vortrag auf Englisch, wie es in EA-Gruppen üblich ist. Man versteht sich als internationale Gruppierung und schließlich sitzen auch Niederländer und Osteuropäer im Seminarraum. Vielleicht liegt es an der Fremdsprache, dass die Diskussion nur behäbig in Gang kommt. Vielleicht aber liegen den Studenten einfach praktischere Fragen am Herzen. Denn als es nach den Matheübungen konkret wird, nimmt die Debatte Fahrt auf: Kann ich auch mit kleinem Einkommen ein Effektiver Altruist sein? Brauchen wir, statt über die Methoden rationalen Vorgehens zu diskutieren, nicht erst ein gemeinsames „rationales Ziel“? Gibt es so was überhaupt?
Die meisten sind sich einig: Es kann nicht falsch sein, die Wirksamkeit zu hinterfragen, nach anderen Wegen zu suchen und diese kritisch zu diskutieren. Das sei ein EA-Grundsatz, sagt Lang: Wenn dir jemand bessere Argumente liefere, sei bereit, deine Meinung zu ändern. Am Schluss gibt Annalena Tetzner eine Kontaktliste herum. „Nächstes Mal machen wir Pläne für die Praxis.“
Effektiver Altruismus: Was leistet meine Spende?
Es sind nicht nur einzelne Menschen, die nach der Wirksamkeit sozialer Arbeit fragen. Auch im professionellen Hilfssektor breitet sich die Idee aus, nicht zuletzt, weil öffentliche Gelder knapper werden und zunehmend mehr Philanthropen und Investoren den sozialen Sektor für sich entdecken. Sie wollen wissen, was ihr Geld leistet. In Deutschland ist es die Organisation Phineo, die Vereine, Einrichtungen und NGOs darauf abklopft. Zu den weltweit bekanntesten zählen
Effektive Altruisten berechnen, welches finanzielle Engagement die größte soziale Wirkung erzielt. Darf man das?