Zusammenhalt in der Pandemie

Erfindet sich die EU in der Coronakrise neu?

Viele EU-Staaten setzten in der Corona-Krise erst mal auf Krisennationalismus. Nun könnte die Gemeinschaft erkennen, dass sie gemeinsam stärker ist.

Berlin lag noch in Trümmern und die Wirtschaft Europas am Boden, doch die Kulisse an diesem Tag war prächtig. Unter dem goldenen Stuck im Pariser Salon de l’Horloge wirkte der französische Außenminister Robert Schuman fast schmächtig, als er in wenigen Sätzen die Zukunft Europas skizzierte. Ein Zusammenschluss der Kohle- und Stahlindustrie in Frankreich und Deutschland, ein Zweckbündnis der beiden großen europäischen Rivalen nur fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel der „Vereinigung der europäischen Nationen“.

Die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 gilt seither als Urzelle der Europäischen Union – als „Europas Zeugungsmoment“, wie es der niederländische Historiker Luuk van Middelaar nennt. Zum 70. Jubiläum der Rede sollte nun eigentlich die Runderneuerung der Gemeinschaft beginnen: die auf zwei Jahre angelegte „Konferenz zur Zukunft Europas“. Die Pandemie hat das vorerst verhindert. Aber aus Sicht des Europaparlaments sind Reformen des «unvollendeten Projekts» EU dringender denn je – gerade wegen der Schwierigkeiten in der Corona-Krise.

Auch bei Good Impact: So solidarisch sind Europas Städte in der Coronakrise

Denn die derzeit 27 EU-Staaten verfielen zu Beginn in Krisennationalismus: Jeder war sich selbst der nächste, Grenzen wurden hochgezogen, Exporte an EU-Partner beschränkt. Inzwischen sei die Solidarität wieder erwacht, beteuert Kommissionschefin Ursula von der Leyen. „Der Corona-Schock trägt auch eine heilsame Botschaft in sich: Wer nur auf sich selber schaut, kommt nicht weit“, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. Doch zerteilen immer noch Schlagbäume den Binnenmarkt, die Europäer können vorerst nicht frei reisen oder gar umziehen. Und weil die Krise einige Staaten viel schlimmer getroffen hat als andere, steht der Zusammenhalt auf dem Spiel.

„Wir sehen ja, dass die EU schwach auf der Brust ist, das hat sich in der Corona-Krise gezeigt“, sagt EU-Parlamentsvizepräsidentin Nicola Beer von der FDP. „Reformen wären jetzt die Medizin, um sie gesünder und fitter zu machen. Schneller, agiler, bürgerfreundlicher und mit einer einheitlichen Stimme in der Welt, so wünscht sie sich die EU.

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Die EU in der Coronakrise: Linke fordert mehr Umverteilung

Linken-Fraktionschef Martin Schirdewan setzt den Akzent etwas anders, fordert mehr Solidarität und Umverteilung, meint aber auch: „Wir müssen eine fundamentale Debatte über den demokratischen und sozialen Zusammenhalt der EU führen.“ Nur so könne es gelingen, die Versprechen Schumans doch noch umzusetzen.

Das Versprechen in der Rede des französischen Außenministers war tatsächlich weitreichend. In dem nur zweiseitigen Text sprach er von der Wahrung des Friedens und vom Beitrag Europas für die Zivilisation. Das Ziel war aber auch sehr handfest. „Europa lässt sich nicht auf einen Schlag herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung“, sagte Schuman. „Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“

Die Zusammenlegung der – potenziell kriegswichtigen – Kohle- und Stahlbranche und ihre Unterstellung unter eine „Hohe Behörde“ war für Frankreich der Weg zu mehr Einfluss und Wohlstand, für Deutschland der Weg zurück aus der Isolation des besiegten Kriegstreibers. Nur ein knappes Jahr später war die sogenannte Montanunion Frankreichs, Deutschlands, Italiens und der Benelux-Staaten unter Dach und Fach.

Das wirkt wie Lichtgeschwindigkeit, denkt man an heutige Endlosdebatten etwa über Euroreformen oder die gemeinsame Asylpolitik. Aber es war nach der Tragödie des Weltkriegs wohl kein Platz für Bedenkenträger, und Schuman und sein Berater Jean Monnet ergriffen die Gelegenheit für diesen radikalen Schritt. „Ihr Timing war gut, die Methode clever, das Projekt umsetzbar und ihre Mission ganz unverhohlen föderal“, lobt der ehemalige Europaabgeordnete Andrew Duff.

Fragt sich, ob die monumentale Krise der Corona-Pandemie ähnliche Kräfte entfesseln könnte: eine Neuerfindung oder zumindest Generalüberholung der EU? Der Grünen-Europapolitiker Daniel Freund, der sich sehr für die Zukunftskonferenz einsetzt, gibt sich zuversichtlich: „Ich habe den Eindruck, dass sich auf mehreren Feldern derzeit Sachen bewegen. Die offensichtlichste ist beim Geld.“

Das wirkt erstmal erstaunlich angesichts der ebenfalls endlosen Debatte über Euro- oder Coronabonds, also über gemeinsame europäische Schulden. Die von der Pandemie besonders getroffenen Südländer wie Italien oder Spanien wollen sie unbedingt, die Nordländer – darunter auch Deutschland – keinesfalls. Von der Leyen hat die undankbare Aufgabe, einen Mittelweg zu suchen, also aus dem Kreis irgendwie ein Quadrat zu machen. Oder entsteht unter dem Druck der Krise doch mehr? Mehr Europa?

Bundesfinanzminister Olaf Scholz deutete das zuletzt an. Ohne weitere Integration gehe es nicht, sagte der SPD-Politiker im Deutschlandfunk. Gemeinsame Aufgaben, gemeinsame Einkünfte, ein gemeinsamer Kampf gegen Steuerdumping: „Wer jetzt nicht versteht, dass das praktisch der Moment ist, in dem die europäische Integration einen ganz entscheidenden Schritt nach vorne machen muss, der wird auch nicht ein einziges der aktuellen Probleme lösen.“

Der Vizekanzler hat es mit in der Hand, denn Deutschland hat im zweiten Halbjahr die Ratspräsidentschaft der EU-Länder. Gespannt warten dürfte vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron, der 2017 mit seinem Reformprogramm für Europa auch in Berlin ins Leere lief. Jetzt spricht Macron vom „Augenblick der Wahrheit“ für die Gemeinschaft. Auch Österreich, die Niederlande, Irland, Griechenland und Rumänien drängten die übrigen EU-Länder im April, die Chance zur Stärkung der EU zu ergreifen.

Der Grünen-Politiker Freund hofft, dass die Zukunftskonferenz doch noch beginnt, sobald Reisen wieder möglich sind. So gebe es eine gute Chance auf ein ambitioniertes Reformprogramm vor der Europawahl 2024. Aus seiner Sicht wäre das genau in Schumans Sinn. „So sehr ich mir wünsche, eine viel weitere Integration zu machen, das ist einfach nicht die Entwicklung der EU»“ sagt Freund. Alle fünf bis zehn Jahre gehe es ein Stück voran. „Und jetzt ist es einfach Zeit für den nächsten Schritt.“

Bild: imago images / Kundel-Saro

Ein abgewandeltes EU-Logo auf der Berliner Mauer 1990.

Verena Schmitt-Roschmann, dpa

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