Frau Hintermann, Sie leiten das Forschungsprojekt MiDENTITY, das sich mit Identitäten und Zugehörigkeiten von Jugendlichen beschäftigt. Die aktuellen Ergebnisse zeigen, dass sich manche Jugendliche mehr mit Europa als mit ihrer Heimat Österreich identifizieren. Geht es denn überhaupt, sich mit einem Konstrukt wie Europa stärker zu identifizieren als mit der eigenen Nationalität?
Anscheinend ja. Das Ergebnis hat uns selbst überrascht. Wenn man sich mal frühere Studien dazu anschaut – gerade zum Europa-Bewusstsein und der Zugehörigkeitsfrage – waren die Ergebnisse eigentlich immer gegenläufig. Die Jugendlichen haben sich vorrangig ihrem näheren Wohnumfeld – dem Grätzl, wie man in Wien sagt – verbunden gefühlt. Dann kam die Stadt, dann die nationale Zugehörigkeit und dann auch Europa. Bei unserer Umfrage ist aber herausgekommen, dass das Europa-Bewusstsein doch anscheinend sehr stark ausgeprägt ist.
Wissen Sie, woran das liegen könnte?
Viele fühlen sich nicht nur einer Nation zugehörig, das zeigt unsere Befragung ebenfalls. Jugendliche fühlen sich eben oft national mehrfach zugehörig. Insofern empfinde ich es als keinen Widerspruch, dass man sich dann auch Europa sehr stark zugehörig fühlt. Ich vermute aber auch, dass die lang andauernden Diskussionen um den Brexit und die Thematisierung, die im Unterricht stattfindet, für ein stärkeres Bewusstsein sorgen. Die Zugehörigkeit zu Europa wird heute viel stärker thematisiert und diskutiert. Deswegen sollte man die Schulen nicht unterschätzen. Sie spielen eine sehr wichtige Rolle, um kritisches Bewusstsein zu schärfen. Ob die Jugendlichen dann eine positive Einstellung gegenüber Europa entwickeln, muss ihnen überlassen sein. Aber wenn sie angeleitet werden, sich selbst ein Bild machen zu können, dann wird es auch oft ein positives sein.
Wie ist das andersherum: Schließt eine eher nationale Selbstidentifizierung eine europäische aus?
Nein. In den Gruppendiskussionen mit unseren „Kooperationsschüler*innen“, in denen die Themen aus dem Fragebogen noch einmal genauer diskutiert wurden, ist Europa dann zu einer Art „Hintergrundfolie“ für nationale Zugehörigkeiten geworden.
Welche Bedeutung hat denn Europa für Jugendliche?
Für ganz viele sind die Freiheiten in der EU, mit denen sie aufgewachsen sind, einfach selbstverständlich. Dass ich reisen kann, dass ich meine Ausbildung irgendwo machen kann und so weiter. Das sind Selbstverständlichkeiten, die sie auch nicht missen möchten.
Fühlen sich junge Leute, vor allem in Österreich, mehr mit Europa verbunden als ältere Leute?
Anderen Studien in dem Bereich zufolge auf jeden Fall. Es ist ein ganz klares Muster, dass ältere Personen ein eindeutig geringeres Europaverständnis haben. Also eine weniger pro-europäische Einstellung als die junge Generation. Das merkt man zum Beispiel bei den Studierenden – für die ist Europa selbstverständlich. Die Schüler erzählen, dass sie sich zum Beispiel auf Reisen außerhalb Europas plötzlich stärker als Europäer*innen fühlen.
Glauben Sie denn, dass eine europäische Identität ein Nationalstaatsgefühl ersetzen kann? Stichwort „Vereinigte Staaten von Europa“.
Aus unseren Gruppendiskussionen würde ich das nicht herauslesen. Die Jugendlichen haben wirklich miteinander diskutiert und diese unterschiedlichen nationalen Besonderheiten in ihren Zugehörigkeiten konkret besprochen. Die Jugendlichen können das wunderbar miteinander vereinen. Mit dem Switchen zwischen unterschiedlichen kulturellen Besonderheiten haben sie keine Probleme. Was aber nicht bedeutet, dass es nicht auch als Abgrenzung verwendet wird.
In welchen Bereichen grenzen die Jugendlichen sich ab?
Sprache zum Beispiel, vor allem die, die sie mit Freunden und Familie sprechen, ist ein starker Marker für Zugehörigkeit, aber eben auch für Abgrenzung. Wir haben in den Workshops gefragt: „Woran erkenne ich meine eigene Gruppe und woran erkenne ich andere Gruppen, denen ich mich nicht zugehörig fühle.“ Da ist Sprache ein wichtiges Abgrenzungskriterium. Das zeigt sich auch in den sozialen Medien.
Inwiefern?
Soziale Medien spielen eine unglaubliche Rolle für das Alltagsleben der Jugendlichen. Aus vielen Studien wissen wir ja: Jugendliche sind mehr oder weniger permanent online. Wir haben im Rahmen von Workshops die Schüler*innen gebeten, dass sie Medientagebücher verfassen. Da kommt man zu dem Ergebnis, dass Jugendliche im Durchschnitt sechs bis acht Stunden online sind.
Tendenz steigend.
Ja. Und vor allem auch mit der Tendenz, dass vieles gleichzeitig passiert. Also während der Hausaufgaben wird Musik gestreamt und zwischendurch werden Nachrichten auf Whatsapp beantwortet. Der Fernseher als Medium wird kaum noch genutzt. Und auch Facebook ist zwar noch bekannt, spielt aber keine große Rolle mehr.
Und welche Rolle spielen die sozialen Medien bei der Abgrenzung und Identitätsbildung von jungen Europäer*innen?
In der Fragebogenerhebung ist herausgekommen, dass soziale Medien keine große Rolle für Zugehörigkeiten spielen oder besonders wichtig sind, um Identität nach außen zu tragen, aber in den Gruppendiskussionen hat sich da ein gänzlich anderes Bild gezeigt: Zum Beispiel bezüglich der Frage „Erfahre ich viel von euch, wenn ich eure Feeds, eure Accounts verfolge?“.
Und?
Man erfährt schon sehr viel von ihnen. Wobei ihnen durchaus bewusst ist, dass damit natürlich auch Selbstdarstellung möglich ist, die mit ihrer eigenen Persönlichkeit nicht unbedingt etwas zu tun haben muss. Dass man sich bewusst als eine andere Person darstellt, als man eigentlich ist. Und dass andere das genauso machen. Da gibt es manche, die das sehr stark hinterfragen, andere wiederum gar nicht. Also einige, die das als nicht besonders problematisch erachten. Sie nehmen das alles einfach in Kauf.
Womit haben die Schüler*innen Sie noch überrascht?
Mit dem, was sie aus dem Projekt für sich mitgenommen und gelernt haben. Vor allem in den Gruppendiskussionen gab es sehr kontroverse Debatten. Es ging zum Beispiel auch um die Frage „Kann ich stolz auf Österreich oder Europa sein? Kann ich denn auf etwas stolz sein, das ich nicht selbst beeinflusst habe?“ Die Jugendlichen sagen, sie haben ja nichts dazu beigetragen. Sie machen sich viele Gedanken über die eigene Identität, über ihren eigenen Platz in der Welt.
Die Jugendlichen machen sich viele Gedanken über ihre eigene Identität und ihren eigenen Platz in der Welt