Europa – We have a dream

Besuch in Brüssel

Zu Besuch im Zentrum der europäischen Macht. So kurz vor der Europawahl erwarteten wir eine Hauptstadt in Umbruchstimmung, im Kampfmodus gegen Euroskeptiker und Rechtspopulisten. Und fanden eine Ruhe vor dem Sturm

Es ist, als hätte die Stadt für den Besuch ihr schönstes Kleid übergestreift. Der Himmel ist karibikblau, die Sonne strahlt, Brüssel glänzt wie frisch gestrichen. Auf dem Markt, 100 Meter vom Gare Central entfernt, sitzen Jugendliche mit Cola und Pommes um den Brunnen. Vögel wippen zwischen den ersten Blüten der Platanen, Besuchergruppen schieben sich durch die Gassen.

Überall im alten Zentrum der Stadt, vom Rathausplatz mit seinen golden verzierten Palästen bis hoch zu den Treppen des Mont des Arts, spielen Straßenmusiker, swingen Besucher im Takt, schnellen Skateboarder und E-Tretroller über den Asphalt. Vergessen der Müll auf den Trottoirs, das Grau hinter dem Bahnhof. An diesem Sonntag im März ist Brüssel eine lebendige, fröhliche, moderne europäische Stadt.

Sie sieht so gar nicht nach jenem Zentrum der europäischen Macht aus, das uns das Fernsehen in vielen Nacht- und Krisensitzungen präsentiert. Aber vielleicht gibt es dieses Monster-Brüssel ja auch nur im Fernsehen; und in den Wahlprogrammen der Rechtspopulisten, die die EU wo irgend möglich zurückbauen wollen.

Wir wollten es herausfinden – und haben genauer hingeschaut. 1,2 Millionen Einwohner hat die belgische Hauptstadt im Zentrum Westeuropas. Seit 1997 ist sie offizieller Sitz der EU. Ein kleines Land, eine zentrale Lage, mitten im Dreivölkerstaat aus Wallonen, Flamen und Francophonen – Brüssel schien wie geschaffen als Hauptstadt für das Vereinte Europa. Ein Hauch von Bonn, unaufdringlich und charmant, eine Art Spielhauptstadt mit eingebautem Understatement.

Heute werden hier die Weichen für 513 Millionen Europäer auf dem Kontinent gestellt. 50.000 Menschen arbeiten für die EU-Institutionen, umkreist von Satelliten aus etwa 25.000 Lobbyisten, Verbandsmenschen, Nicht-Regierungs-Aktivisten. Ein Drittel der Einwohner Brüssels ist irgendwie mit der EU verbandelt.

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Place Flagey, Studentenviertel Ixelles. Auf den Bänken vor dem Café Belga ist kein Platz mehr frei, hier treffen sich Studenten, Modeleute, Politiker, Journalisten. Wie Eric Bonse. Seit 2004 ist er Korrespondent in Brüssel, erst beim Handelsblatt, jetzt bei der taz. In seinem eigenen Blog, „Lost in Europe“, versucht er, den Menschen außerhalb der EU-Welt die EU zu erklären.

Aufbruchstimmung? Nein. Bonse wundert sich manchmal selbst. „Es ist seltsam ruhig.“ Das mag auch daran liegen, dass in Brüssel anderes auf dem Plan steht. Am Wochenende der EU-Wahl wird auch das belgische Parlament gewählt. Ein Regierungswechsel ist denkbar, die Grünen legen in Umfragen ungeheuer zu. Da muss Europa warten, der Wahlkampf soll erst nach Ostern losgehen.

Dabei ist die Angst vor einem Rechtsruck allgegenwärtig. Mal lähmt sie, mal mobilisiert sie letzte Reserven. „Das Europäische Parlament drückt bis zur Wahl noch so viele Beschlüsse wie möglich durch.“ Urheberrecht, Plastikverbot, sogar einen Europäischen Verteidigungsfonds für Rüstungsgüter. Bonse ärgert das. „Über welche Themen können die Bürger bei der Wahl dann noch entscheiden?“

„Hey, kannst du ein Foto von uns machen?“, fragt vom Nebentisch die Redenschreiberin von Jean-Claude Juncker

Drei Brüssels

Bonse nimmt einen Schluck Blanche, das milchige belgische Bier mit Zitrone. Er liebt Europa. Liebt den Mix von Kulturen und Perspektiven auf dem Kontinent. Ja, er würde die EU gerne zusammenwachsen sehen. Umso mehr stört ihn, dass sich die Politik zuweilen abschottet. Eilverfahren, Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, Rundrufe bei Journalisten um 11 Uhr nachts – Beschluss gefällt. Bei den täglichen Pressekonferenzen der Kommission wird Neues verkündet, selten kritisch diskutiert.

„Und der Brexit überschattet alles.“ Bonse schüttelt den Kopf. „Statt sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, sollte die EU Zukunftsvisionen entwickeln. Der defensive Mittelweg ist der Tod.“ Aber die Krisen der Vergangenheit hätten Kraft geraubt. „2014, nach dem Ende der Eurokrise, gab es noch Aufbruchstimmung, dann kam die Migrationskrise, heute läuft bei vielen die innere Kündigung.“

Sich selbst würde er als „desillusionierten Europäer“ bezeichnen. Vom Nachbartisch winkt eine Frau herüber. „Eric, kannst du ein Foto von uns machen?“ – „Das ist die Redenschreiberin von Juncker.“ Bonse grinst. „Willkommen in der EU-Bubble.“ Sie ist freilich nicht die einzige Blase in der Stadt. Es gibt drei Brüssels in Brüssel, sagen die Brüsseler. EU-Brüssel, Brüssel-Brüssel, Migrations-Brüssel. In Einwanderer-Viertel wie Molenbeek verirrt sich kaum jemand, der nicht dazugehört, auch im kongolesischen Quartier, nahe der Place Namur wirdes abrupt homogen. Läden mit bunten Stoffen und Afro-Perücken, Schaufensterpuppen mit dunklem Teint. Weiße sieht man kaum. Brüssel, heißt es, mischt sich nicht.

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Verzerrt das die Wahrnehmung? „Bestimmt“, sagt Max von Abendroth. So oft es geht, wechselt der Chef des Dachverbandes der Europäischen Stiftungen (DAFNE) die EU-Blase gegen die Brüssel-Brüssel-Blase. Seine Frau ist Architektin, die Söhne gehen auf eine Belgische Schule. „Die Kids fühlen sich als Belgier, sie kennen die Lieblingsgerichte der Prinzen und Prinzessinnen und finden es selbstverständlich, im Theater applaudierend aufzustehen, wenn das Königspaar kommt“, sagt Abendroth.

„In der Schule kommt die EU fast nicht vor.“ Für die Belgier, 53 Prozent der Bevölkerung der Stadt, sind Themen wie Migration und Klimaschutz wichtiger. Zum „March for Europe“ gestern Mittag kamen gerade einmal 500 Teilnehmer. „Erschreckend, oder?“

Nur manchmal brennt die Luft

Es ist Montagmorgen. Die Brüsseler zwängen sich in U-Bahn, Tram und Bus. Philantrophy-Haus, Sitz von zehn zivilgesellschaftlichen Organisationen. Hier zogen die Pro-Europäer vorbei, jetzt rauscht der Berufsverkehr. Max von Abendroth macht sich Sorgen. Denn Bürgerbewegungen sind immens wichtig. Sie sorgen für „demokratisches Backing“, wie er dazu sagt, wichtig gerade bei schwierigen Entscheidungen. Zum Beispiel gegenüber Polen, als die EU-Kommission erfolgreich androhte, Fördermittel zu streichen, wenn das Land die politische Einflussnahme auf Richter nicht zurücknehme.

Diese Woche ruft der Stifterverband eine Initiative für einen europäischen Binnenmarkt für Philantrophie ins Leben. Bis heute wird der Fluss von Fördermitteln durch die national unterschiedlichen Steuerregeln und Vorschriften gebremst. Viele Bürgerprojekte scheitern daran, vor allem in Osteuropa. Von Abendroth will das ändern. „Wer soll sie stützen, wenn nicht das vereinte Europa?“

Am Place Robert Schumann im Osten der Stadt ist man plötzlich mitten im Fernsehbild: Vor dem konkav gewölbten, silbernen Bau, dem Sitz der EU-Kommission, flattern 28 Europafahnen im Morgenwind. Was auf dem Bildschirm scheint wie Teil eines freundlichen, begrünten Vorplatzes, mit Bänken, Bürgern und geschäftigen Politikern, eine europäische Agora, ist in Wahrheit ein mediales Schummelbild: Wer dem Konkav den Rücken dreht, sieht, was der Bildschirm verschweigt – eine enge Straße, dahinter der nächste Verwaltungsbau. Versprengte Besuchergruppen schlendern vorbei.

Vergangene Woche ließ der Brexit die Luft brennen, heute ist es auch hier seltsam ruhig. „Klar“, sagt Stephan Scheuer, „diese Woche sind alle in Straßburg, dort tagt das Parlament.“ Scheuers Büro liegt in einem verwinkelten Altbau, wie zufällig hingekegelt zwischen kleinen Bürgerhäusern und großen Glasbauten. Rechts der Blick auf Kommission und Rat, links in der Ferne das Parlament. Scheuer braucht die Nähe zur Macht. Er ist Lobbyist, Generalsekretär der Coalition for Energy Savings, in der 30 Organisationen vertreten sind, vom WWF bis zur europäischen Heizungsindustrie.

Seine Themen: mehr Umweltschutz, mehr Energieeffizenz, „eine faire, soziale Energiewende“. Durch schärfere Standards, auch gegen den Widerstand der Nationalstaaten. Mit Hilfe von Digitalisierung. „Ohne smarte Gebäude, ohne ein Mehr an Effizienz“, so Scheuer, „lässt sich das Klimaziel der Kommission nicht erreichen.“ Minus 40 Prozent Treibhausgas-Ausstoß bis 2030.

Europa kann ganz klein sein

Manchmal trifft Scheuer seine Gesprächspartner beim kleinen Italiener um die Ecke. Parlamentarier, Referenten, Menschen in den Fachausschüssen. Auch Politprominenz geht hier ein und aus, vergangene Woche war Viktor Orbán da. Die Wege in Brüssel sind kurz, unkompliziert, erstaunlich unbürokratisch. Kurz durchklingeln, Termin machen, das geht, sagt Scheuer. In Freiburg hat er Wasserwirtschaft studiert, nach einem Jahr im europäischen Umweltbüro ließ er sich endgültig in Brüssel nieder. Er hat Aufbruchsphasen erlebt wie bei der Osterweiterung Ende der 90er. Wie bei der Verleihung des Nobelpreises an die Europäische Union 2012, „das hat hier viele unglaublich berührt.“

Heute spürt er die Skepsis der Bürger. Den Mechanismus der Nationalstaaten, oft auch der Industrie: Klappt was nicht, schieben sie der EU den schwarzen Peter zu. „Und verschweigen, dass sie selbst mitentschieden haben.“ So war es bei der Glühbirnenverordnung 2009. „Die Industrie wollte weg von der Birne, hat aber nicht rechtzeitig guten Ersatz geliefert.“ Beim Plastikverbot blieb der Aufschrei aus, die Verbraucher wollen den Müll nicht mehr. „Aber wer sieht das als Leistung der EU?“

Es sind auch solche Mechanismen, die Scheuer pessimistisch stimmen. „Der organisatorische Zusammenschluss der europäischen Länder ist die weltweit großartigste Errungenschaft der vergangenen 50 Jahre“, sagt er. „Aber wenn die EU nicht klarer Kante zeigt und beweist, was sie für die Bürger tut, wird es eng. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“

Das merkt, wer durch die Straßen streift und Menschen nach der EU fragt. Ein Taxifahrer, der nicht wählen geht, obwohl Nichtwähler in Belgien eine Geldbuße erwartet. Drei Mal schon hat er dagegen verstoßen. Die Geldbuße kam nicht. „Die Botschaft ist doch klar: Meine Stimme ist egal.“ Ein Klimaaktivist aus Wallonien, der mit den Schultern zuckt. „Was tut schon die EU außer reden?“

„Reden hilft“, sagt der Schotte Jonathan Murray, Geschäftsführer des Thinktanks Friends of Europe. Er will, dass Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Bürger, Experten, Politiker. Sein Ansatz: lieber mit Worten streiten als mit Stühlen werfen. Auch er sieht Probleme – Migration, Brexit, Osteuropa. Auch er erlebt die aggressive Europaverachtung rechts außen – Beleidigungen, Verzögerungsanträge, die höchsten Fehltage aller Fraktionen. Doch eine Umfrage seines Thinktanks macht Mut: 41 Prozent der unter 35-Jährigen glauben, dass ihr Leben ohne die EU schlechter sei, 90 Prozent aller Bürger wollen, dass die EU mehr als ein Binnenmarkt ist und sich um Klima, Jobs, Frieden kümmert.

Die in Brüssel – wer soll das sein? Wir alle sind Brüssel, wir alle sind Europa

Schwung der Jungen

Tina Hocevar möchte vor allem die Jugend gewinnen. Wenn die Vizepräsidentin des European Youth Forums mit ihrem Team auf Roadshows bei Jugendlichen für Europa trommelt, TV-Debatten oder Europäische Jugendtage organisiert, spürt die Slowenin „die Vibes“. Viele Junge beginnen aufzuwachen. Einfach durch Europa tingeln, überall arbeiten und leben können, Frieden, Freiheit, das ist vielleicht doch nicht so selbstverständlich, wie es sich anfühlt. Mit hunderten jungen Europäern hat die 29-Jährige mittelweile diskutiert und immer wieder gemerkt: „Die Jungen erwarten, dass die EU deutlich Position bezieht. Beim Schutz der Bürgerrechte, gerade wenn der Spielraum immer enger wird wie in Osteuropa. Beim Klimaschutz.“ Nicht gut, wenn, wie neulich, Fridays For Future zu Gast ist und das Parlament leer. Gut, wenn Abgeordnete zu Jugendtalks kommen und zuhören: Was wollt ihr? Hocevar ist optimistisch. „Es tut sich was, endlich. Wir müssen alle Verantwortung übernehmen“, sagt sie. „Die in Brüssel – wer soll das sein? Wir alle sind Brüssel, wir alle sind Europa.“

Optimisten gibt es auch in der Brüsseler Wirtschaftswelt. Menschen wie Paolo Falcioni, „überzeugter Europäer italienischer Herkunft“. Als Direktor des Verbandes Applia vertritt er die europäischen Haushaltsgerätehersteller – vom Kühlschrank bis zum elektrischen Sahnequirl. Für die Rechtsruck-Angst in der Brüsseler EU-Blase hat er keine Zeit. Sein Credo: Hoffnung. Sein Ziel: mehr Markt, mehr Wirtschaftsintegration, mehr Harmonierung. Einheitliche Konsumentenverordnungen wie gleiche Garantieregeln; europaweite Ressourcenkreisläufe, ein Binnenmarkt für Müll. „Bisher ist Recycling ein nationaler Regelungs-Horror“, sagt Falcioni. „Egal, wer ins Parlament einzieht: Wir werden sie davon überzeugen, dass die Wirtschaft mehr Europa braucht.“ Sein stärkstes Argument: Arbeitsplätze, 70 Prozent der Haushaltsgeräte der Bürger werden in der EU produziert.

Zweifelnde Kompromissmaschine

Parlamentsgebäude. Putzkolonnen ziehen mit Teppichschaumwagen durch die Hallen, ein Staubsauger dröhnt, Kabel werden neu verlegt, der Plenarsaal ist geschlossen. „Hallo, nenn mich Christina“, sagt Christina und zieht den Parlamentskalender hervor. In pinken Wochen treffen sich die Ausschüsse, in blauen die Fraktionen, in roten wie jetzt tagen die Abgeordneten in Straßburg. Trotzdem hat die Schwedin alle Hände voll zu tun. Organisiert Meet­ings mit Experten, entwickelt Vorlagen, recherchiert Studien. Sie arbeitet für die Ausschüsse im Parlament, zuständig mal für Gesetzgebung, mal für ihre Umsetzung. Christina ist, wenn man so will, eine jener verstaubten Bürokraten, von denen so oft die Rede ist, wenn Menschen über Brüssel reden. Verstaubt? Das ist so ziemlich das letzte, das einem einflällt, wenn einen die Schwedin begrüßt. Offenes Lachen, neugieriger Blick, schnell im Denken und doch bodenständig.

Christina weiß, dass die EU für viele da draußen so etwas ist wie ein schwarzes Loch. Weit weg, schwer zu verstehen, kaum zu durchschauen. „Tatsächlich findet man viele Informationen erst in den Tiefen der EU-Seiten, mühsam, wenn man nicht weiß, wo man suchen muss.“ Und wie schwer ist es, zu entwirren, wer genau was wie warum vertreten hat. Vorlagen werden x-mal geändert, diskutiert, wieder überarbeitet.  „Die EU ist eine riesige Kompromissmaschine.“ Die sich oft selbst misstraue. Ist ein geladener Experte unabhängig genug? Hat er eine heimliche Agenda im Kopf? „Die europäische Gesellschaft repräsentiert so viele unterschiedliche Perspektiven“, sagt Christina. „Über die Balance der Interessen muss immer wieder neu verhandelt werden.“ Freiheit versus Sicherheit, Wirtschaft versus Umwelt – wo genau liegt der europäische Konsens?

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„Umso wichtiger ist es, dass die Menschen sich Gehör verschaffen, im Dialog mit Politikern, durch Demos oder Zuschriften“, sagt sie. Druck aufbauen. Themen, die ihnen wichtig sind, auf die Agenda schieben. „Beim Umweltthema gelingt das allmählich.“ Die Parlamentarier hören ja durchaus zu. Auch wenn natürlich, parteipolitisch bedingt, jeder andere Schlussfolgerungen zieht. Aber das reicht Christina, und hier spricht als Privatperson,  nicht. Es muss mehr geschehen, keine Frage. Natürlich musste die EU in den vergangenen Jahren auf viele Krisen reagieren. Aber warum, verdammt, geht sie nicht mutiger voran? „Etwas tun hat seinen Preis, nichts tun auch.“ Manchmal denkt sie, die scharfe Kritik könne auch eine Chance sein. Es könnte die Proeuropäer zusammenschweißen: Lasst uns Europa neu denken. Es mutig weiterentwickeln. Bürgernah, solidarisch, demokratisch.

Christina muss los. Ihren Sohn treffen. Er ist 16. Gerade war er auf einer Klimademo. Sie ist gespannt, was er erzählt. Christina weiß, was seine Generation von Menschen ihrer Generation erwartet. Eine ehrliche Klimapolitik. „Dafür brauchen wir die EU, in welcher Form auch immer. Denn wie soll es ohne Kooperation gehen in einer globalen Welt?“

Die Sonne verschwindet hinter dem Parlament, Brüssels Häuser schimmern im Abendrot. Die Büros leeren, die Bars füllen sich. Aber die Debatten gehen weiter. Aufbruchsstimmung? Abwärtsspirale? Das ist längst nicht ausgemacht. Europa sind nicht „die da“, Europa ist nicht „dort“. Nicht Brüssel, nicht Straßburg. Europa sind: wir. Noch ist alles offen

 

Brüssel – Wie wir das Zentrum der europäischen Macht so kurz vor der Europawahl erleben

Anja Dilk

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