Unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler soll der erste bundesweite Bürgerrat Klima ab dem 26. April 2021 tagen. Beraten durch führende Wissenschaftler*innen werden 160 zufällig ausgeloste Bürger*innen Empfehlungen für die deutsche Klimapolitik der nächsten Legislaturperiode erarbeiten. Geplant sind zwölf Sitzungen bis zum 23. Juni, im Herbst sollen die Ergebnisse allen Parteien des deutschen Bundestages überreicht werden.
Verschiedene Initiativen hatten sich dafür stark gemacht. Das Projekt Bürgerrat Klima vom gemeinnützigen Verein BürgerBegehren Klimaschutz startete im Dezember 2020 mit einem Aufruf der Scientists for Future. Zuvor hatte sich bereits ein Bündnis aus jungen Aktivist*innen per Petition für einen deutschen Klimabürger*innenrat eingesetzt und das Thema auf die mediale und politische Agenda gerückt.
Klima-Bürger*innenrat: Chronik einer Petition
Mindestens 70.000 deutsche Bürger*innen wünschen sich mehr Mitbestimmung in Klimafragen. Das macht eine Petition der Initiative „Klima-Mitbestimmung Jetzt“ sichtbar, die diese am 19. November startete und 28 Tage später erfolgreich abschloss. Da das notwendige Quorum von 50.000 Stimmen weit überschritten wurde, können die sogenannten Petent*innen ihr Anliegen persönlich vor dem Petitionsausschuss des Bundestages darlegen. Sie fordern, dass die Regierung noch in dieser Legislaturperiode einen bundesweiten Bürger*innenrat zur Klimapolitik einberuft. Das Gremium soll sich insbesondere einer Frage widmen: Wie kann Deutschland seinen Beitrag zur Einhaltung des Pariser Klima-Abkommens leisten – unter Berücksichtigung sozialer Gerechtigkeit?
Hinter der Petition steht eine Initiative aus 30 Schüler*innnen, Student*innen und Berufseinsteiger*innen. „Einige von uns kommen von Klimabewegungen wie Fridays For Future und Extinction Rebellion“, sagt Simon Wehden in einem digitalen Pressegespräch am Montag. Aus der Frustration heraus, kein politisches Gehör zu finden, suchten sie nach anderen Hebeln. „Uns eint unsere Begeisterung für die Demokratie, für gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Klimaschutz.“ Wichtig sei laut Wehdens Mitstreiterin Mira Pütz, dass ihr Bündnis überparteilich sei. „So wie das Coronavirus kein Partikularinteresse ist, ist das Klima auch keines. Klimaschutz liegt im Interesse aller.“
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Klima-Bürger*innenrat repräsentiert Vielfalt einer Gesellschaft
Ein Bürger*innenrat ist ein temporäres Gremium, das sich meist aus 100 bis 150 zufällig ausgewählten Menschen zusammensetzt, die über mehrere Wochenenden hinweg tagen. Teilnehmen kann jede*r. Über die Melderegister der Kommunen wird Kontakt zu den Bürger*innen aufgebaut und festgestellt, wer Interesse hat. Danach entscheidet das Zufallsprinzip. Hierdurch grenzt sich ein Bürger*innenrat von anderen Formen der Bürger*innenbeteiligung ab, die oft von bestimmten Bevölkerungsgruppen gestaltet werden, etwa von Menschen, die sich das Engagement zeitlich und finanziell leisten können. Ein Bürger*innenrat spiegelt die demographische, ethnische und soziale Vielfalt der Gesellschaft wieder.
Klar ist, dass die Teilnehmer*innen nicht das gleiche Vorwissen zu einem Thema mitbringen. Deswegen werden sie von unabhängigen Expert*innen auf den gleichen Wissenstand gebracht, bevor die Diskussionsrunden starten und Handlungsempfehlungen formuliert werden. Die Ergebnisse der Tagungen werden an die Regierung übergeben, die allerdings nicht zum Handeln verpflichtet ist. Beispiele aus anderen Ländern zeigen aber, das die Stimmen der Bürger*innen ernst genommen werden.
Irland ist Pionier – seit 2012 tagen Bürger*innenräte
Die populärsten Beispiele stammen aus Irland. Hier diskutierte die einberufene „Citizens’ Assembly in Ireland“ ab 2016 über die Themen gleichgeschlechtliche Ehe und das Recht auf Abtreibung. Die Empfehlungen der Bürger*innenräte wurden vom Parlament angenommen und anschließend in Volksabstimmungen bestätigt. So kam es in beiden Fällen zur Legalisierung. 2017 tagte ein Bürger*innenrat zur Klimapolitik Irlands. 80 Prozent der Teilnehmenden befürworteten beispielsweise eine CO2-Steuer, die daraufhin im folgenden Staatshaushalt umgesetzt wurde.
Von Oktober 2019 bis Januar 2020 fanden sich 150 per Losentscheid ausgewählte französische Bürger*innen an sieben Wochenenden zusammen, um zu diskutieren, wie Frankreich seine Emissionen bis 2030 um mindestens 40 Prozent im Vergleich zu 1990 senken sollte. Im Juni legte der Bürger*innenrat zahlreiche Lösungsvorschläge vor, darunter ein Tempolimit von 110 Stundenkilometern, die Einschränkung von Inlandsflügen, der Ausbau und die Vergünstigung des Zugverkehrs, ein unkompliziertes CO2-Label-System für Konsumgüter und Dienstleistungen sowie ein Werbeverbot für besonders klimaschädliche Produkte. Emmanuel Macron hatte daraufhin angekündigt, die Franzosen in einem Referendum über einige der Vorschläge abstimmen zu lassen, etwa darüber, ob der Klima- und Naturschutz in die Verfassung aufgenommen werden soll. Damit es zur Volksabstimmung kommt, müssen sich zunächst Nationalversammlung und Senat einverstanden erklären. Im März 2021 machte Frankreichs Nationalversammlung den ersten Schritt: sie stimmte mit großer Mehrheit für die Aufnahme des Klimaschutzes in die Verfassung.
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Im Laufe des Jahres 2020 tagte auch in Großbritannien ein Klima-Bürger*innenrat. 2021 beziehungsweise 2022 soll nun Deutschland nachziehen. Die Petent*innen von „Klima-Mitbestimmung Jetzt“ fordern, dass die deutsche Regierung noch in dieser Legislaturperiode reagiert. Vor der Bundestagswahl im September 2021 werden die Sitzungen aber nicht stattfinden können. „Die Planung kostet viel Zeit und Geld, vor allem wenn der Rat zivilgesellschaftlich organisiert wird“, sagt Philipp Verpoort von „Klima-Mitbestimmung Jetzt“ im Pressegespräch am 21. Dezember. In Deutschland werde es wohl anders laufen, als in Frankreich, wo Macron die Initiative mit einem Staatsetat von vier Millionen Euro ausgestattet hat. „In Deutschland wird es eher über Crowdfunding geregelt und die Regierung übernimmt die Schirmherrschaft.“ So wie beim Bürger*innenrat zu Deutschlands Rolle in der Welt, der im Januar 2021 mit Online-Sitzungen begonnen und seine Ergebnisse im März an Schirmherr Wolfgang Schäuble übergeben hat.
Am 25. Januar 2021 traten die Petent*innen vor den Ausschuss
Was erhoffen sich die Initiator*innen von einem Klima-Bürger*innenrat? „Idealerweise fließen die Ergebnisse des Rats die Koalitionsverhandlungen ein“, sagt Petent*in Tabea Hosak dazu. Ein einzelnes Gremium würde aber nicht reichen. Um bei den vielen Klimafragen in die Tiefe gehen zu können, müssten weitere Räte folgen.
Unterstützer Philipp Verpoort glaubt, dass sich ein deutscher Klimabürger*innenrat thematisch auf die Energiepolitik rund um den Kohleausstieg und auf die Verkehrspolitik konzentrieren könnte. Die Themenbereiche lassen sich aber auch breiter halten, wie in Frankreich. Hier drehte sich alles um fünf Schwerpunkte: Mobilität, Wohnen, Konsum, Produktion und Arbeit. „Die Teilnehmer müssen nicht alles wissen. Sie müssen nur genügend Expertise entwickeln, um eine Entscheidung treffen zu können.“
Den Petent*innen geht es um die Umsetzung des Verfahrens und weniger um die inhaltliche Ausarbeitung. Am 25. Januar 2021 präsentierten sie ihr Anliegen vor dem Bundestagsausschuss. Die Abgeordneten zeigten sich interessiert und werden nun über die Petition beratschlagen. Dann wird sich zeigen, wieviel Bürgernähe die deutsche Demokratie in Klimafragen zulässt. Laut einer Umfrage des Umweltbundesamts wünschen sich 80 Prozent der Deutschen eine entschiedenere Klimapolitik, etwa die Beschleunigung der Energiewende und mehr Naturschutz.
Dieser Text erschien ursprünglich am 21. Dezember 2020 und wurde am 7. April 2021 aktualisiert.
In Bürger*innenräten kommen „ganz normale“ Menschen zusammen, um ihre Zukunft mitzugestalten. Immer mehr europäische Regierungen berufen sie ein, um ihre Demokratien zu stärken.