Beißend weht ihm der Geruch des frisch geölten Eichenparketts entgegen, als er die Tür öffnet. Hans Joosten läuft über den angrenzenden, noch kargen Betonflur und die unverputzte Treppe hoch ins nächste Stockwerk. Er schreitet den sonnendurchfluteten Raum ab, inspiziert die Wandlampen, sie sind noch ganz neu. Daneben: halbfertige Stufen, die sich weiter nach oben, zur Galerie schlängeln. Ohne zu zögern klettert Joosten das offene Treppengerüst hinauf, gibt zu verstehen, ihm zu folgen.
Dort angekommen, lehnt er sich an das Metallgeländer und blickt stolz um sich. Baustellenbesuch. Wo früher ein Hörsaal für Chemie war, werden in den nächsten Monaten Bücher einziehen – Zehntausende. „Die größte und schönste Moorbibliothek der Welt“, hofft Joosten. In Greifswald.
Verschnörkelte Zinnen säumen den kompakten, mehr als hundert Jahre alten Backsteinbau, in dem bis 2011 Vorlesungen der Universität Greifswald stattfanden. Bald sollen hier Literaturabende veranstaltet werden, Menschen zu Mooren forschen, mit Zugang zu 50.000 Moor-Publikationen: wissenschaftliche Standardwerke und Fachzeitschriften, Romane und Sachbücher, Bücher über Geschichte, Kunst, Religion und Bücher für Kinder. Was sie eint, ist das Moor. 7.000 davon hat allein Joosten zusammengetragen, einige selbst verfasst. Einen richtigen Platz sollen sie nun bekommen, das wünscht sich der 69-Jährige schon lange.
Nach und nach lässt er alle katalogisieren und, wo es urheberrechtlich erlaubt ist, digitalisieren – damit so viele Menschen wie möglich sie kostenfrei lesen können. Der Niederländer war bis zu seinem Ruhestand 2021 Professor für Moorkunde an der Universität Greifswald. Wenige hundert Meter entfernt vom alten Chemiehörsaal, in der denkmalgeschützten Villa Ellernholz, hat Joosten das renommierte Greifswald Moor Centrum mitgegründet – und dort seine Moorbibliothek geschaffen. Doch ihr Raum reicht längst nicht mehr aus.
Geruch vergilbter Bücher
Wer sie im ersten Stockwerk der Villa Ellernholz betritt, erkennt das sofort: In den Holzregalen türmen sich Bücher, auf jedem Zentimeter, quer und senkrecht gestapelt. Manche Exemplare sind noch foliert, ganz frisch gedruckt, andere alt, mit abgegriffenem Umschlag. Ein Moorgemälde prangt an der Wand, Kartons sind auf dem Boden geparkt, umweht vom Geruch vergilbter Buchseiten.
Joosten und sein Laptop versinken zwischen all den Bücherpacken auf dem Tisch. Ihm gegenüber sitzt Besuch, die Umwelt-Historikerin Katja Bruisch. Eigentlich arbeitet sie am Trinity College Dublin zur Geschichte von Torf als Brennstoff in Russland. Für eine Woche ist sie nach Greifswald gekommen – der russischsprachigen Sammlung wegen.
„Um alle Bücher der Moorbibliothek zu lesen“, hat Joosten überschlagen, „braucht man 88 Jahre.“ Nicht immer findet er derweil, wonach er sucht, zu verstreut sind die Werke, auch über einige Räume der Universität. Sein vielleicht wichtigstes Buch aber hat er – geübt darin, seine Geschichte zu erzählen – griffbereit, im Regal links vom Fenster: Botanisch-geologische Moorkunde.
Vor knapp fünfzig Jahren war er, damals Biologiestudent an der Universität Nijmegen, darauf gestoßen und so fasziniert, dass er die 360 Mark auftreiben musste. „Das war mehr, als ich im Monat hatte, um Miete und Essen zu bezahlen.“ Joosten verkaufte seine Briefmarkensammlung, borgte sich Geld bei Freund:innen. Es sollte sich lohnen: „Das Buch war ganz wichtig für meine ,Moorwerdung‘, danach war ich ergriffen von den Mooren“, sagt er mit niederländischem Akzent.
Zu tun hat das auch mit Joostens Heimat Liessel, wo er mit seinen sieben Geschwistern aufwuchs: Im Südosten der Niederlande, unweit Joostens Dorf, lagen vierzig Prozent der Hochmoor-Reste des Landes. Viele mussten trockenem Ackerland weichen. Um das zu verhindern, engagierte er sich im Gemeinderat und gründete eine Schutzgruppe. Etliche Male gingen sie vor Gericht, um das Moor zu bewahren. Joosten klagte sogar gegen seinen Vater, der im Moorschutzgebiet jagen wollte, und gegen den Schweinehof der jüngeren Schwester. Überworfen habe er sich darüber nicht mit der Familie. Ehrlich für das einzustehen, woran man glaubt – das hatten die Joostens zu Hause gelernt. Seit dieser Zeit wächst auch Joostens Bibliothek.
„Es ist immer schlimmer geworden“, erinnert sich seine Frau Ine Joosten. 1974, in dem Jahr, als er das erste Moorbuch zu seinem Heimatmoor kaufte, lernten sie sich kennen. 1996: Umzug nach Greifswald. Zu diesem Zeitpunkt füllten die Moorbücher schon die Hälfte eines Frachtcontainers. Michael Succow, damals einer der wichtigsten Moorforscher, hatte Hans Joosten angeboten, den Studiengang „Landschaftsökologie und Naturschutz“ mit aufzubauen. Der Umgangston an der deutschen Universität war steifer, viel Respektgehabe, sagt Joosten, der weiter hin konsequent alle duzte. Den Hang zum Informellen, eine niederländische Gewohnheit, sieht man ihm heute noch an.
Das Ende seines abgewetzten Ledergürtels baumelt meist neben der Hosenschlaufe, den Bart trägt er oft etwas zu lang, ebenso die weißen Haare, die widerspenstig vom Kopf abstehen. Auch als Joosten im September 2022 das Bundesverdienstkreuz im Schloss Bellevue erhält, kommt er ohne Jackett, „ich besitze nicht mal eins“, sagt er. Hans Joosten gefällt sich in dieser Rolle des Uneitlen, spielt damit. Wenn er auch mancherorts aneckt: Beim Publikum, in den Medien fällt er auf, weil er das möchte.
Ein Häppchen Moor
So steckt er, um Proben zu nehmen, schon mal seinen Arm statt eines Bohrers in den Sumpf, kostet Moorhäppchen. Ein „sehr erfolgreiches Gimmick“ sei das, mit Werbeeffekt fürs Moor. Ein ehemaliger Student von Joosten erinnert sich: Als Dozent verlangte er seinen Studierenden zwar viel ab, ließ sich aber zugleich auf Kritik ein und begegnete allen nahbar und fair. Auf zahlreichen Exkursionen, etwa nach Belarus oder ins russische Karelien, saß er mit am Lagerfeuer, stimmte Lieder an.
Sein lockeres Auftreten macht es leicht, in dem renommierten Professor von heute den jungen Aktivisten von damals zu sehen. Er hat sich den unbequemen Hans behalten, der als radikaler Sozialist Ende der 1970er mit anderen Aktivist:innen vor Ort seine Moorschutzgruppe gründete. „Wir haben einen Streifen in den Sand gezogen und gesagt: Jeder, der unser Moor antastet, den bekämpfen wir.“
Resolut klingt er, als er sich daran erinnert, ein wenig schelmisch. Später kooperierte die Truppe mit Landwirt:innen, um ihnen den Weg aus den Mooren hinaus zu ebnen, die Regierung zahlte für den Ausstieg. So hat die Gruppe seit Ende der 1990er bis heute dazu beigetragen, 1.200 Hektar Agrarland dem Moor zurückzugeben.
Moor muss nass
Vor 25 Jahren etablierte Joosten einen wichtigen Baustein für den weltweiten Moorschutz: die Paludikultur. Nasse Moore, nicht trockengelegte, die bewirtschaftet werden. Dazu forschte er auch gemeinsam mit der Torfindustrie, aber nur „mit den Vernünftigen“, wie er sie nennt, solchen, die ernsthaft einen Wandel suchen. „Moor muss nass.“ Seine Vorträge beende er immer mit dieser Formel. „Kürzer kann man es nicht ausdrücken.“
Joosten vereint Wissenschaft und Aktivismus. Dass die Moore politisch so wichtig geworden sind, haben sie zum Teil auch ihm zu verdanken. Der Moorkundler war auf fast jeder UN-Klimakonferenz zwischen 2006 und 2021, um sich dort mit anderen Wissenschaftler:innen für das Ökosystem starkzumachen. „Das Klimapotenzial der Moore war lange völlig unterbewertet, wir haben sie politisch hochgespielt.“ Bis heute ist er Generalsekretär der IMCG, eines weltweiten Netzwerks von Moorschützer:innen, und Mitglied eines Moor-Gremiums der Vereinten Nationen.
Noch immer ist er viel unterwegs. Gerade war er in Indien, danach ist er in den Südosten der USA gereist, zum Okefenokee Swamp. Dort hat er dessen Nominierung als Weltkulturerbe vorbereitet. Aus aller Welt trudeln Bücherspenden in Greifswald ein. Gerade war eine Delegation um den finnischen Moorforscher Harri Vasander hier, mit tausend Publikationen im Gepäck. Durch „Bettelbriefe” an Forschende, Politiker:innen oder Unternehmer:innen zieht Joosten Spenden an Land.
„Wenn ich mich reinhänge, kann ich so in einer Woche 10.000 Euro schaffen.” Joosten hält noch immer Vorträge und schreibt Gutachten – sofern sie ihn interessieren und ein Honorar herausspringt, das er in die Bibliothek stecken kann. Langfristig finanzieren sollen die Bibliothek auch Mieteinnahmen von drei Wohnungen, die in das Gebäude integriert sind. Doch um den alten Hörsaal barrierefrei zu renovieren und zu verwalten, braucht es 1,8 Millionen Euro, auch weil Quecksilberreste früherer Experimente aufwendig entfernt werden mussten.
450.000 Euro fehlen Joosten noch. Den Grundstein legten die 250.000 Euro des Deutschen Umweltpreises der Bundesstiftung Umwelt, den der Forscher 2021 bekam. Rechtlich eingebettet ist das Projekt über die neu gegründete Stiftung Moorbibliothek, derzeit verwaltet von der Michael Succow Stiftung. Eröffnet werden soll die Bibliothek im Herbst dieses Jahres. Der Name ist ganz schlicht: Moorbibliothek, und auf Englisch Peatland Library.
Ausprobieren statt planen
Hans und Ine Joosten haben schon Hunderttausende Euro eigenes Geld in die Bibliothek gesteckt und sagen: Notfalls gehen sie ran an ihre Altersvorsorge. Sie haben Vertrauen, dass sich alles fügen wird. „Im Moor habe ich gelernt, weniger vorauszuplanen”, sagt Hans Joosten. „Dort weißt du auch vorher nicht, was dir unterwegs begegnet, welche Stellen du umlaufen musst.” Probleme lösen, wenn sie kommen. Verdienen werden die Joosten nichts daran. Ein Herzensprojekt, wo „Moormenschen ihre Informationen und Inspiration holen und hinbringen können.”
In Groß Karrendorf, neun Kilometer entfernt von Greifswald, wohnt das Ehepaar in einem zweihundert Jahre alten Backsteinhaus. Unweit von den Karrendorfer Wiesen, wo Rinder grasen und das Meer immer wieder übertritt. „Es ist nicht das meisttypische Moor”, sagt Joosten in seinem niederländischen Deutsch. Aber er liebt ihn, seinen „Hintergarten”, der an seine Heimat erinnert: eine offene Landschaft, durch die ungebrochen der Wind saust, begrenzt nur von Ostsee und Wolkenhimmel.
Gern radelt er frühmorgens hierher, um im Meer zu schwimmen. In seinen dunkelgrünen Gummistiefeln stapft Hans Joosten durch die sumpfigen Karrendorfer Wiesen. Während die Outdoorjacke um ihn herumflattert, erzählt er unentwegt davon, wie sie hier alles wiedervernässt haben. Mit seinen Händen und den stechend blauen Augen, die ihr Gegenüber fokussieren, unterstreicht er, warum das so wichtig ist. Pausen erlaubt er sich kaum. Wenn die Moorbibliothek endlich fertig ist, wolle er noch ein paar Bücher schreiben. Auch ein ganz besonderes, habe er versprochen: „Ein Kinderbuch, für meine Enkelinnen.”
Forscher Hans Joosten baut in Greifswald eine riesige Moorbibliothek. Wo früher ein Hörsaal für Chemie war, werden in den nächsten Monaten Zehntausende Bücher einziehen.