Zugang zu Covid-19-Impfstoffen

„Geistige Eigentumsrechte sind erhebliche Barrieren“

Mehr als 100 Länder unterstützen den Vorschlag, geistige Eigentumsrechte für COVID-19-Technologien auszusetzen. Nachdem sich die USA am 5. Mai dafür ausgesprochen hat, wird vermehrt darüber diskutiert. Für Ärzte ohne Grenzen ist es eine wichtige Option, um die Pandemie weltweit zu bekämpfen.

Während die meisten Menschen in Deutschland voraussichtlich bald geimpft werden können, haben Menschen in vielen Ländern noch kaum Zugang zu Impfstoffen und anderen Mitteln zur Bekämpfung von COVID-19. Um diese Lage zu verbessern, haben Indien und Südafrika im Oktober 2020 gefordert, geistige Eigentumsrechte wie Patente für COVID-19-Technologien auszusetzen. Diese Rechte sind von der Welthandelsorganisation (WTO) im sogenannten TRIPS-Abkommen geregelt. Am  5. Mai hat die amerikanische Handelsbeauftragte Katherine Tai verkündet, dass die USA den Vorschlag unterstützt. Der Druck auf die Europäische Union, die die Aussetzung bisher blockiert, wächst. Wir haben mit Elisabeth Massute von Ärzte ohne Grenzen darüber gesprochen, wie die Aussetzung die globale Gesundheitssituation verbessern könnte, und was noch getan werden muss, um Gesundheit für alle Menschen zu ermöglichen.

Nach langer Blockadehaltung hat sich die USA jetzt für die Patent-Aussetzung ausgesprochen. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?

Das ist ein historischer Moment, den wir stark befürworten. Allerdings müssen jetzt schnell Verhandlungen stattfinden, um die Aussetzung umzusetzen. Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen lehnt den Vorschlag von Indien und Südafrika weiter ab. Die EU sollte ihre Blockadehaltung lösen. In einer globalen Pandemie wie dieser müssen alle Maßnahmen genutzt werden, um schnell mehr Menschen zu schützen. Der Entschluss der USA bezieht sich außerdem nur auf Corona-Impfstoffe – die Forderung von Südafrika und Indien geht aber darüber hinaus und schließt alle COVID-19-Technologien ein.

Bereits im Oktober 2020 haben Indien und Südafrika Ausnahmen vom internationalen Abkommen zu geistigen Eigentumsrechten, dem TRIPS-Abkommen, gefordert. Mehr als 100 Länder haben sich mittlerweile angeschlossen. Was genau wird da gefordert?

Der Vorschlag von Indien und Südafrika, die geistigen Eigentumsrechte für Technologien, die wichtig zur Bekämpfung von COVID-19 sind aktuell auszusetzen, umfasst nicht nur Impfstoffe. Es geht auch um Medikamente, Diagnostika, also Schnelltests, Beatmungsgeräte oder Schutzkleidung. Kurz: Für den Zeitraum der Pandemie müssen diese Eigentumsrechte ausgesetzt werden und Technologietransfers stattfinden, damit die globale Produktion ausgeweitet werden kann.

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Wie lange sollen die Ausnahmen gelten?

Indien und Südafrika haben das weit gefasst. Das Ende ist so definiert, dass ein Großteil der Menschen weltweit die Pandemie überstanden hat.

Würde es nicht reichen, wenn die bisherigen Impfstoffe und medizinischen Geräte besser verteilt werden würden?

Jein. Länder, die sich bereits große Impfstoff-Kontingente gesichert haben, sollten schnell Dosen abgeben, um den kurzfristigen Bedarf an anderer Stelle schneller zu decken. Gerade damit Gesundheitspersonal in ärmeren Ländern auch immunisiert werden kann, genau wie die Risikogruppen in ärmeren Ländern. Die Ansätze für eine gerechte Verteilung haben bislang noch nicht funktioniert. Und wir sehen, dass die Herstellung von Impfstoffen aktuell noch von den wenigen Herstellern getragen wird. So werden die zur Verfügung stehenden Dosen künstlich verknappt – auch durch Barrieren wie geistige Eigentumsrechte. Man braucht zwingend eine weltweit gerechte Verteilung. Und um das zu erreichen, muss auch die Produktion gesteigert werden.

Elisabeth Massute ist politische Referentin in der Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen in Berlin. Sie beschäftigt sich insbesondere mit dem gerechten und bezahlbaren Zugang zu lebensnotwenigen Medikamenten und Impfstoffen. Bild: MSF/Barbara Sigge

Was sind Ihre Hauptgründe: Warum braucht es diese Patentfreigabe?

Wir von Ärzte ohne Grenzen beschäftigen uns jetzt seit 20 Jahren mit dem gerechten und bezahlbaren Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln, und damit auch zu Impfstoffen. Wir merken immer wieder, dass hohe Preise, aber eben auch geistige Eigentumsrechte erhebliche Barrieren für diesen Zugang sind. Sie müssen insbesondere in einer globalen Pandemie aus dem Weg geräumt werden. In einer globalen Pandemie geht es darum, schnell das Virus einzudämmen und Menschenleben zu retten. Die Gesundheit der Menschen weltweit muss, gerade auch bei den politischen Entscheidungen, im Mittelpunkt stehen.

Vor allem die Staaten der Europäischen Union wehren sich gegen eine Ausnahmeregelung. Können Sie deren Position nachvollziehen?

Nein. Der Waiver (Anm. d. Red.: Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte) kann von den WTO-Ländern (Anm. d. Red.: WTO = Welthandelsorganisation) freiwillig umgesetzt werden. Das heißt, selbst wenn alle Mitglieder diese Aussetzung beschließen, müssen sie sie nicht zwangsläufig im eigenen Land umsetzen. Die Haltung der Europäischen Union ist nicht zielführend für eine schnelle Eindämmung der Pandemie. In der Vergangenheit haben reichere Länder immer wieder gefordert, dass die ärmeren Länder konkrete Vorschläge machen sollen. Jetzt gibt es konkrete Vorschläge, die von über 100 Ländern unterstützt werden, vor allem aus dem Globalen Süden. Dennoch werden diese Vorschläge weiterhin blockiert, obwohl die Länder das nicht mal umsetzen müssten. Das ist ein erhebliches Ungleichgewicht.

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Wie kann es sein, dass die Forderung nicht umgesetzt wird, obwohl sich eine Mehrheit der Länder dafür ausspricht? Gibt es da kein Mehrheitsprinzip?

Maßnahmen werden auf WTO-Ebene normalerweise im Konsens beschlossen, und deshalb ist diese Entscheidung noch nicht gefällt worden. Die neue WTO-Direktorin Dr. Ngozi Okonjo-Iweala hat jetzt die Mitgliedsstaaten der WTO mehrfach um konkrete, textbasierte Verhandlungen gebeten.

Gibt es historische Erfolgsgeschichten, wurden früher schon Patente für Medikamente oder medizinische Geräte aufgehoben?

Ja. Ein Beispiel ist das Hepatitis-C-Medikament Sofosbuvir. Es ist in den USA vor einigen Jahren als die “Tausend-Dollar-Pille” in die Geschichte eingegangen, ein Medikament, das damals teurer war als Gold. Die Firma Gilead hatte das Patent inne, obwohl die Forschung und Entwicklung maßgeblich an Universitäten stattgefunden hat. In einigen Ländern, wie Malaysia, wurden Zwangslizenzen erlassen. Das ist aber eine nationalstaatliche Maßnahme.

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Zwangslizenzen heißt, dass die Lizenz freigegeben werden musste?

Genau, eine Zwangslizenz wirkt wie eine Patentaussetzung, aber nur für ein Produkt in einem einzelnen Land. Diese Maßnahme ist also schwierig für Länder, die gar keine produzierende Pharma-Industrie haben. Für diese Fälle gibt es in den TRIPS (Anm. d. Red.: internationales Abkommen zur Regelung geistiger Eigentumsrechte) sogenannte Exportlizenzen, das wurde in der Geschichte aber bisher nur einmal umgesetzt: In Kanada wurde ein HIV-Medikament produziert und das dann nach Ruanda geschickt. Beide Maßnahmen sind allerdings mit einem komplizierten und langsamen Verfahren verbunden. Deswegen sind sie keine Alternativen zu der jetzt geforderten Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte.

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Wie wären geistige Eigentumsrechte für Medikamente in einer idealen Welt geregelt?

Es wird geschaut: Wer hat eigentlich den Anteil daran geleistet, wer hat dazu beigetragen, dass diese Forschung und Entwicklung stattgefunden hat? Das betrifft auch Lizensierung an Universitäten für Grundlagenforschung. Erhaltene Fördergelder, etwa der Bundesregierung an deutsche Pharmaunternehmen, müssen an Bedingungen geknüpft werden. Das sollte gelten für Zugang, Bezahlbarkeit, Technologietransfers, sich aber auch in einer verbindlichen Regelung der geistigen Eigentumsrechte spiegeln. Wenn klar ist, der Anteil öffentlicher Förderungen ist größer als der der privaten Investitionen, dann muss dies berücksichtigt werden. Es darf nicht von Profitinteressen abhängig sein in Pandemiezeiten, sondern von dem Interesse öffentlicher Gesundheit, und den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen.

Einzelne Unternehmen würden weniger Profit machen. Würden sie dann nicht die medizinische Forschung vernachlässigen?

Das ist ein klassisches Argument: Patente seien innovationsfördernd. Wir beobachten seit Jahren, dass die Orientierung auf Profit auch nicht innovationsfördernd ist. Vor allem, wenn wir uns vernachlässigte Krankheiten anschauen, und Gesundheitsbedürfnisse von Menschen in ärmeren Ländern. Es wird dort in Forschung und Entwicklung investiert, wo große Profitmargen im Gesundheitsbereich möglich sind, nicht unbedingt wo die Gesundheitsbedürfnisse am größten sind. Gerade was Impfstoffe gegen Erreger mit pandemischem Potenzial betrifft, gab es auch in der Vergangenheit kaum private Investitionen von Firmen. Deswegen wurde die Coalition for Epidemic Preparedness (Anm. d. Red.: Koalition für Innovationen in der Epidemievorbeugung), CEPI – auch mit deutschen Steuergeldern gefördert – nach dem Ebola-Ausbruch in Westafrika 2016 ins Leben gerufen: Weil man gesagt hat, man will nie wieder ohne einen wirksamen Impfstoff oder Medikament gegen solche Erreger mit Pandemiepotenzial dastehen.

Außer der Patentfreigabe: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Maßnahmen, um die Pandemie auf globaler Ebene einzudämmen?

Das sind dreierlei Maßnahmen. Kurzfristig wäre es wichtig, dass Länder, die sich zu viel Impfstoffdosen gesichert haben, und momentan schon Gesundheitspersonal und Risikogruppen geimpft haben, schnell Dosen abgeben. So können auch Gesundheitspersonal und Risikogruppen in ärmeren Ländern geschützt werden, um kurzfristig mehr Menschenleben zu retten und mehr Menschen zu schützen. Dann wäre es mittelfristig wichtig, Patente auszusetzen. Außerdem muss Technologietransfer stattfinden, damit mehr Impfstoff, aber auch Medikamente, Schutzkleidung etc. produziert werden können. Und wir brauchen eine Dezentralisierung der Produktion.

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Die meisten Impfstoffe für COVAX (Anm. d. Red.: Mechanismus zur globalen Verteilung von Corona-Impfstoffen) wurden zum Beispiel im Serum Institute of India produziert. Jetzt sehen wir, dass Indien selbst einen krassen Anstieg an Infektionszahlen in den letzten Wochen erlebt hat. Die Lage ist kritisch, und jetzt werden dort keine Impfstoffe mehr exportiert, was natürlich wiederum Auswirkungen für andere Länder hat. Man muss schauen, dass nicht nur an wenigen Orten produziert wird für die Weltgemeinschaft, sondern an vielen Orten, sodass auch schneller lokal reagiert werden kann. Der langfristige Aufbau von Produktionskapazitäten dauert natürlich länger, aber ist ein wichtiges Thema. Denn bisher ist es ja so, auch wenn wir über die Corona-Pandemie hinausblicken, dass nur ein Prozent der Impfstoffe, die in Afrika verimpft werden, tatsächlich auch in Afrika produziert werden.

Und an wen ginge diese Forderung, wer müsste dafür sorgen, dass da Produktionskapazitäten geschaffen werden?

Das ist ganz unterschiedlich. Die Afrikanische Union hat zusammen mit dem afrikanischen CDC (Anm. d. Red.: Zentrum für die Kontrolle und Prävention von Erkrankungen) eine Initiative gestartet, um mehrere Produktions-Hubs in Afrika aufzubauen. Aber es natürlich auch an Ländern wie Deutschland, diese Maßnahmen zu unterstützen. Das BMZ (Anm. d. Red.: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) untersucht bereits, wie dies unterstützt werden könnte, in Senegal, Ghana und Südafrika. Das ist richtig und wichtig, aber für die Deckung des Bedarfs in der jetzigen Pandemie wird das wahrscheinlich nicht mehr reichen.

BIld: IMAGO / AFLO

Protestierende forderten Ende April vor dem Gebäude des US-Pharmaunternehmens Moderna den weltweiten Zugang zu COVID-19-Impfstoffen. Die US-Regierung unterstützt nun den Vorschlag, die geistigen Eigentumsrechte für Impfstoffe auszusetzen.

Antonia Vangelista

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