„Unsere Demokratie steckt fest in Gewohnheiten“
Der Wind zerrt an den Fahnen vor dem Reichstag, ein paar Kids kicken einen Ball über die Wiese. Langsam rollen die Autos der Fahrbereitschaft vor das Abgeordnetenhaus nebenan, ein TV-Team filmt einen Take. Der Politbetrieb beginnt. Es ist knapp drei Jahre her, da ging Max Oehl jeden Tag hier aus und ein. Damals führte der 32-Jährige als Vorsitzender der NGO Refugee Law Clinics, einer studentischen Rechtsberatung für Migrationsfragen, viele Gespräche mit Abgeordneten, um sie für eine weniger restriktive Migrationspolitik zu gewinnen. Eine Art Lobbyarbeit für Geflüchtete. „Da habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, mit wem man spricht“, sagt Oehl. Allzu oft traf er auf Politiker:innen, die am Business-as-usual festklebten. Seltener begegnete er neugieren Menschen mit Gespür für den zeitgemäßen Wandel, offen für Anregungen der Zivilgesellschaft.
„Unsere Demokratie steckt fest in Gewohnheiten und Funktionärsstrukturen“, erkannte Oehl und schlussfolgerte: „Wir brauchen einen Refresh des Bundestages.“ Junge, dynamische Menschen mit Lust auf Veränderung, Mut zum Handeln und progressiven Ideen im Kopf, bunt und divers wie die Gesellschaft. Die den Spirit von der Straße, von Bewegungen wie Fridays for Future in das Parlament tragen. Oehl entschied: „Ich will solche Leute suchen und ihnen helfen, politisch erfolgreich zu werden.“
Gemeinsam mit der Expertin für Politische Kommunikation, Eva-Maria Thurnhofer, dem Theatermann Daniel Veldhoen und Sozialunternehmerin Alisa Wieland gründet Oehl 2019 Brandnew Bundestag.
„Wir müssen es gemeinsam angehen, über Parteigrenzen hinweg.“
Aber wie geht das, als Grassroots Movement neue Leute ins Parlament zu heben? Max Oehl lacht. „Indem man sich erst mal Gedanken macht, was sie vertreten sollen.“ Was ist eigentlich progressiv? Welche Themen treiben die Gesellschaft an? Das Team trommelt Menschen aus unterschiedlichen Berufsgruppen zusammen, holt Vertreter von NGOs dazu. Gemeinsam scannen sie Debattenforen, analysieren dutzendweise Wahlprogramme. Am Ende destillieren sie vier große Kernthemen heraus, bei denen sich etwas tun muss: Überwindung der Klimakrise, soziale Gerechtigkeit, nachhaltiges Wirtschaften, ein solidarisches Europa. „Spannend: Fast alle Parteien gehen in diese Richtung, nur über die Wege sind sie uneins – und verlieren sich im Klein-Klein des Alltags“, sagt Oehl und fordert: „Schluss damit. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir es gemeinsam angehen, über Parteigrenzen hinweg.“
„Hey Deutschland, wer sollte Politiker:in sein?“ postet Brandnew Bundestag im Mai 2020 zu Beginn einer großen
Social-Media-Kampagne. Hundert Vorschläge gehen ein. Dann müssen sich die Vorgeschlagenen bewerben wie für einen Job. Fragebogen ausfüllen: Was treibt mich an, was will ich, was macht mich kompetent? Auswahlrunden überstehen: Engagieren sie sich zivilgesellschaftlich, haben sie Politikerfahrung, können sie ihre Anliegen gut vertreten, mit Druck umgehen? Die Endauswahl trifft eine sechsköpfige Jury von prominenten Aktivist:innen der Zivilgesellschaft. Inklusions-Aktivist Raúl Krauthausen etwa ist dabei und die Feministin Kübra Gümüşay. Die Journalistin Melanie Stein von der Initiative „Wir sind der Osten“ und Sozialunternehmer Shai Hoffmann, der Gründer von DemokratieBus.
Brandnew Bundestag: Motivation und Austausch
Elf Kandidat:innen wurden bislang ausgewählt. Manche parteilos, andere parteipolitisch engagiert. Wie die Intensivkrankenschwester Seija Knorr-Koening (SPD), die sich für gute Arbeitsbedingungen in der Pflege stark macht. Wie Behzad Borhani (Die Grünen), der sich gegen Rechtsextremismus und für ein solidarisches Europa engagiert, oder die parteilose Umweltingenieurin Franka Kretschmer, die sich für wissenschaftsbasierte Strategien gegen den Klimakollaps einsetzt. Und eben Rasha Nasr (SPD), die Ostdeutsche mit syrischem Migrationshintergrund aus Dresden. Seit Januar ist sie Kandidatin.
Was hat ihr das bisher gebracht? „Zum einen einen wahnsinnigen Motivationsschub“, sagt Nasr. Zum anderen sei die Zusammenarbeit mit einer lauten, bunten Bewegung, die mit Power etwas voranbringen möchte, ebenso inspirierend wie der überparteiliche Austausch mit den anderen Kandidat:innen, jenseits von parteipolitischem Hickhack. Hilfreich seien die wöchentlichen Workshops mit Expert:innen, die Brandnew Bundestag für die Kandidat:innen organisiert. Interviewtrainings, Schulungen in Sachen Social-Media-Verkaufe oder Umgang mit Hate-Speech. Nicht zu vergessen die Netzwerk- und Pressearbeit, die Rasha Nasr schnell bekannter macht. Berichte im Fernsehen, in Magazinen, in Podcasts. „So viel Aufmerksamkeit hätte ich sonst nie so schnell bekommen.“
Mangelnde Vielfalt im Bundestag
Wird das reichen? „Das hängt von vielen Faktoren ab“, sagt Bernhard Weßels, Professor für Demokratieforschung am Wissenschaftszentrum Berlin. Unabhängige Kandidat:innen etwa haben weniger Chancen als jene mit einem guten Listenplatz einer Partei. „Aber diese Lobbyarbeit für junge Politik ist ein hochinteressantes Verfahren und ein gutes Mittel, um Themen zu setzen und die öffentliche Diskussion über die mangelnde Vielfalt des Bundestages voranzubringen.“ Darüber wird in der Politikwissenschaft seit Jahren debattiert. „Zwar muss der Bundestag nicht jede Gruppe in der Gesellschaft genau widerspiegeln, solange ihre Mitglieder die Interessen aller angemessen repräsentieren können“. Aber dieses Prinzip stoße gerade bei Gruppen mit anderem kulturellem Background, anderem Geschlecht oder Menschen mit Beeinträchtigungen an seine Grenzen. „Die Erfahrungswelt der meisten Abgeordneten ist zu weit von diesen entfernt“, sagt Weßels. Gerade mal 31,4 Prozent der Abgeordneten sind weiblich, aber gut 50 Prozent der Menschen in Deutschland. Im Parlament haben nur 8,2 Prozent einen Migrationshintergrund, in der Bevölkerung sind es 23,6 Prozent. „Das ist nicht zu rechtfertigen.“
Es fehle auch die berufliche Durchmischung. Der überproportional hohe Anteil an Akademiker:innen im Bundestag, die 83 Prozent der Abgeordneten stellen, ließe sich allerdings zumindest auch sachlich erklären. Denn das deutsche Parlament ist ein „Arbeitsparlament“, Regierungsvorlagen für neue Gesetze werden erst durch Ausschüsse geprüft und dann vom Parlament verabschiedet. Etwa zwei Drittel der Gesetzesvorhaben werden dabei geändert, ein Drittel davon massiv. Zwar unterstützen 3.000 Mitarbeiter:innen des Wissenschaftlichen Dienstes die Abgeordneten. „Aber das ist viel zu wenig“, sagt Weßels. „Wer nicht genug Fachkenntnis und Übung mit der Analyse von Texten hat, für den ist es schwer, die zentralen Probleme zu identifizieren. Ein akademischer Hintergrund kann da hilfreich sein.“
Brandnew Bundestag dreht weiter auf. 160 Freiwillige sind an Bord, neue Mitstreiter:innen werden gesucht. Seit März läuft ein Crowdfunding, um die Wahlkampfarbeit der spendenfinanzierten Initiative für ihre Kandidat:innen finanziell auf eine solide Basis zu stellen. Und wenn die Bundestagswahl vorbei ist? „Machen wir weiter für Landtags- und Kommunalwahlen“, sagt Eva-Maria Thurnhofer. „Wir wollen Lautsprecher für den politischen Wandel stark machen“, sagt Max Oehl. Rasha Nasr sucht ein paar Unterlagen zusammen, sie muss los zur AG Soziales. Sie weiß, dass es schwer wird, in den Bundestag zu kommen. Aber aufgeben? „Wie gesagt: Kommt nicht infrage“, sagt Nasr, nimmt die Kopfhörer aus den Ohren und eilt in den Sächsischen Landtag.
Rasha Nasr (SPD) ist Ostdeutsche mit syrischem Migrationshintergrund. Seit Januar ist sie Direktkandidatin der SPD Dresden-Süd. Die Initiative Brandnew Bundestag gibt ihr Motivation und medialen Rückenwind.