Ost und West

Warum wir unsere Vielfalt feiern sollten

Nach 30 Jahren Einheit scheint Deutschland gespalten wie nie zuvor. Stimmt das? Was unterscheidet Ost und West heute noch? Der Sozialwissenschaftler Daniel Kubiak hat sich auf die Suche gemacht.

Im 30. Jahr der Einheit läuft noch ein Graben zwischen Ost und West, oder?

Einspruch. Das Narrativ stimmt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive nicht. Der Osten steht zwar schlechter da bei den Einkommen, bei Eigentumsverteilung, Rentenhöhe, in der Zahl der Krankenhäuser oder beim öffentlichen Nahverkehr. Aber erstens gibt es ähnlich große Unterschiede etwa zwischen dem Ruhrgebiet und München. Zweitens hängt die Bewertung von der Perspektive ab. So liegt das Wirtschaftsniveau im Osten bei 75 Prozent des Westniveaus. Man kann also sagen: Der Osten hinkt hinterher. Man kann aber auch sagen: Der Osten ist sehr erfolgreich. Denn das Wirtschaftsniveau ist im Osten seit 1990 von 43 Prozent auf 75 Prozent angestiegen.

Und in der politischen Haltung?

Hier gibt es zwar Unterschiede, etwa im Wahlverhalten. So werden in den neuen Bundesländern seltener die Grünen gewählt als in den alten und häufiger die AfD. Doch die politischen Einstellungen von Ost- und Westdeutschen haben sich angeglichen. Die Otto Brenner Stiftung hat junge Deutsche befragt, und bundesweit stimmten 25 Prozent von ihnen der Aussage zu: „Es sollte einen starken Führer geben, der sich nicht um Parlamente und Wahlen kümmern muss.“ Ost und West macht weniger Unterschied, als die Wahlerfolge der AfD vermuten lassen.

Wo unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche?

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Identitätsfragen spielen im Osten eine größere Rolle als im Westen. Auch das zeigt die Umfrage: Im Westen fühlen sich acht Prozent westdeutsch, im Osten 20 ostdeutsch. Dabei wollen sie sich nicht bewusst abgrenzen. Diese Identität wird an sie herangetragen.

Was heißt das?

Identität ist immer eine Aushandlung zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung. Wie sehe ich mich, wie sehen mich die anderen? In Gruppendiskussionen sagen Westdeutsche, „die“ Westdeutschen gebe es nicht, aber „die“ Ostdeutschen seien so und so. In den Kulturwissenschaften nennen wir das Othering: Leute werden zu anderen gemacht, weil das Eigene als Norm wahrgenommen wird. Mit dem Othering ist eine Abwertung verbunden. Erst wenn sie solche Zuschreibungen im Alltag oder in den Medien erleben, bezeichnen sich Ostdeutsche als ostdeutsch. Übrigens gibt es Analogien zwischen den Abwertungserfahrungen von Ostdeutschen und Muslimen. Beiden Gruppen wird von Westdeutschen unterstellt, sich als Opfer zu sehen und zu wenig von Extremismus abzugrenzen. Ein Drittel der Ostdeutschen internalisiert sogar die Einschätzung, dass sie noch nicht im heutigen Deutschland angekommen seien. Dabei ist noch nicht mal klar, was und wer das „heutige Deutschland“ und „die Ostdeutschen“ überhaupt sind.

Inwiefern?

Zählen Selbstzuschreibung, Wohnort, Herkunft? Was ist mit den zugewanderten Ostdeutschen im Westen, was mit den zugewanderten Westdeutschen im Osten? Bei Migranten gilt: Wer mindestens ein Elternteil oder Großeltern mit einem nichtdeutschen Pass hat, wird statistisch als Migrant geführt, obwohl er hier geboren und aufgewachsen ist. Wenn wir genauso einen Osthintergrund definierten, wären auf einmal viel mehr Menschen ostdeutsch als in Forschungen angenommen. Denn nach diesem Kriterium leben viele Ostdeutsche im Westen, die bislang gar nicht als Ostdeutsche gezählt werden.

Warum feiern wir nicht einfach statt dem Tag der deutschen Einheit einen Tag der deutschen Vielfalt?
Daniel Kubiak, Humboldt-Universität zu Berlin

Zeit also, neu über Ost und West nachzudenken?

Ja, und da tut sich was. Zum 20-jährigen Jubiläum der Einheit wurde der Diskurs von alten westdeutschen Männern bestimmt, Themen wie der Unrechtsstaat DDR, die Stasi, Kohl als Heilsbringer standen im Vordergrund. Jetzt kommen junge Stimmen zu Wort und andere Aspekte: die Migrationsgeschichte der DDR, der Rassismus der 90er, allmählich auch die Rolle des Westens in der Wiedervereinigung. Wir sollten Zwischentöne erkunden statt Schwarz-Weiß-Denken zuzulassen. Und endlich die Komplexität moderner Gesellschaften akzeptieren. Ein pluraler Staat mit gleichen Freiheits- und Teilhaberechten muss nicht verbunden sein mit kultureller Einheit. Viele junge Ostdeutsche haben die Nase voll vom Ostdeutschsein, weil es immer mit Abwertung verbunden ist. Warum feiern wir nicht einfach statt dem Tag der Deutschen Einheit einen Tag der Deutschen Vielfalt? Als Signal an jeden: Du kannst so sein, wie du willst und hast hier deinen Platz.

Daniel Kubiak

forscht an der Humboldt-Universität zu Berlin über Identität und Ost-West-Differenzen. Er ist in Ostberlin aufgewachsen.

Bild: Tom Barrett/Unsplash

Identitätsfragen spielen im Osten eine größere Rolle als im Westen, sagt der Sozialwissenschaftler Daniel Kubiak. Doch die Ostdeutschen wollten sich nicht bewusst abgrenzen. Diese Identität werde an sie herangetragen.

Anja Dilk

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