Kinder und Bücher

„Lies doch selbst, du Lauch!“

Danny Beuerbach will Kinder für Bücher begeistern. Klappt nicht immer auf Anhieb, doch wer sich traut und dem Münchner Friseur vorliest, bekommt Rabatt.

Herr Beuerbach, Kinder zahlen für einen Haarschnitt nur die Hälfte bis gar nichts, wenn sie Ihnen vorlesen, wie kam es dazu?

Zufall. Es hat sich so ergeben. Ich wollte wieder mehr lesen, bin aber nicht dazu gekommen. Irgendwann habe ich mir die Frage gestellt: Wenn du dich abends nicht mehr aufraffen kannst, warum lässt du dir dann nicht während deiner Arbeitszeit vorlesen? Also habe ich ein Buch eingepackt und es meinen Lieblingskunden in die Hand gedrückt. Das war toll, wie ein Hörspiel. Das zweite Buch war ein Kinderbuch – und als das erste Kind anfing vorzulesen, merkte ich, dass es da um viel mehr geht. Mit einem Buch in der Hand fahren Kinder runter – und am Ende sind sie stolz auf sich und ihre Leistung. Da habe ich angefangen, Rabatt auf Kinderhaarschnitte zu geben: Wer vorliest, bekommt 50 Prozent.

Sie sind dann aber noch zwei Schritte weitergegangen …

Zuerst habe ich angefangen, mit Buchläden und Bibliotheken zusammen Aktionen zu organisieren. Das war nicht ganz einfach. Am Anfang habe ich nur Absagen kassiert, heute kommen die Anfragen von selbst, auch Veranstalter von Messen und Events rufen mich an – vor Corona war ich dreimal pro Woche unterwegs, in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Honorare ermöglichen es mir, darüber hinaus mit Organisationen zusammenzuarbeiten, die kein Geld haben für Extra-Aktionen, geschweige denn Zugfahrkarte oder Zimmer. Flüchtlingsheime zum Beispiel oder Vereine, die sich um Kinder aus einkommensschwachen Familien kümmern.

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In Buchläden und Bibliotheken, auf Messen und Events kommen in der Regel nur Kinder, die gut lesen können, weil sie sich für Bücher interessieren und von ihren Eltern gefördert werden. Im Grunde mag ich das Wort fördern nicht. Es geht in die Richtung: Das Optimum aus einem Menschen herausholen, passend machen – für eine Gesellschaft, die an ihre Mitglieder ganz bestimmte Anforderungen stellt. Aber gut, Lesekompetenz ist hierzulande sehr wichtig. Wer nicht lesen kann, wird schnell zum Außenseiter, als minder intelligent abgestempelt, gehänselt. Bei mir war das zumindest so. In der ersten und zweiten Klasse haben weder meine Lehrer noch ich gemerkt, dass ich gar nicht richtig lesen kann, ich habe mir die Wörter visuell eingeprägt. Als es dann in der dritten Klasse auffiel, stellte sich die Frage, ob ich zurückgestuft werden muss. Das war für mich schlimm: Man ist aufgeweckt, witzig, hat Ideen und Phantasie – und plötzlich wird man wegen einer vermeintlichen Schwäche abgewertet.

Haben Ihre Eltern nicht gemerkt, dass Sie Schwierigkeiten beim Lesen haben?

Ich bin zusammen mit meiner Mutter, meiner Tante und drei Schwestern in einer Zweizimmerwohnung aufgewachsen. Bücher spielten keine Rolle. Meine Mutter konnte selbst nicht gut lesen, meine Tante war geistig nicht so fit. Doch der Hauptgrund war vermutlich, dass ich gar nicht das Bedürfnis hatte, zu lesen. Immer war jemand da, mit dem ich reden und spielen konnte. Das war spannender – und auch sehr prägend: Zu sechst auf wenigen Quadratmetern, ohne Möglichkeit sich zurückzuziehen, da läuft alles über Kommunikation: Du teilst dich mit, hörst zu, findest schnell Kompromisse, steckst zurück, verzeihst. Nur meine ältere Schwester war eine echte Leseratte, sie hat Bücher verschlungen.

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Wie schaffen Sie es, Kinder und Jugendliche zum Lesen zu bekommen?

Diese Frage stellen mir auch Eltern gern: Wie kann ich mein Kind fürs Lesen begeistern? Meine Antwort: Sich vor allem Zeit nehmen für das Kind, bei ihm sein und bei ihm bleiben, nicht sofort verbessern und bewerten. Ich denke, das ist der Grund, warum Kinder mir vorlesen: Beim Haareschneiden bin ich ganz nah bei ihnen, laufe nicht weg und lasse ihnen die Zeit, die sie benötigen. Der Schnitt dauert so lange wie das Vorlesen, manchmal ein bisschen länger. Und danach gibt es immer Applaus.

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Klar gibt es Kinder, die nicht zur Ruhe kommen oder auf dem Stuhl noch unruhiger werden. Dann lässt man sie eben zappeln oder gibt ihnen zum Buch noch etwas anderes in die Hand, mit dem sie spielen können: einen Ball, einen Kamm. Letztlich ist es ja auch eine Gabe! Warum als Kind mühsam lernen, sich auf eine Sache zu konzentrieren, am besten alleine auf seinem stillen Zimmer, wenn später Multitasking im Open-Space-Büro gefragt ist?

Danny Beuerbach absolvierte nach der Schule eine Ausbildung zum Friseur und arbeitete danach zehn Jahre lang für renommierte Salons, Magazine und Fashion Shows im In- und Ausland. Heute lebt er als freiberuflicher Hairstylist in München und tourt als Vorlesefriseur regelmäßig durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Sein Kinderbuch „Der magische Friseur“ ist vergangenes Jahr im Ravensburger Verlag erschienen.
Bild: fotoarbyter@zürich

Etliche Untersuchungen zeigen, dass Jungs in Punkto Lesen schlechter abschneiden als Mädchen, Wissenschaftler sprechen von einer „Leselücke“, was ist Ihre Beobachtung?

Was auffällt: Mädchen sind viel mutiger. Es ist ihnen nicht peinlich, vor anderen laut zu lesen. Jungs halten sich stärker zurück – dabei lesen sie, wenn sie denn mal lesen, nicht schlechter. Ich denke, wir alle haben noch zu viele Schubladen im Kopf: Jungs haben es mit Zahlen, Mädchen mit Büchern. Diese Stereotype haben Einfluss: Was wird von mir erwartet, was traut man mir zu – und was traue ich mir selber zu? Ist es als Junge überhaupt cool, ein Buch in der Hand zu haben und vorzulesen – oder ist das nicht Mädchenkram? Außerdem gibt es für meinen Geschmack keine richtig guten Bücher für Jungs, die Geschichten sind alle sehr brav, mit pädagogischem Wink und vom Thema her erwartbar: immer wieder Fußball, Bagger, Pirat, Feuerwehrmann. Also auch hier Schublade. Ich wünschte mir mehr Mut, Offenheit, Interesse: Was bewegt Kinder wirklich, was sind ihre Themen und welche Geschichten wollen sie hören?

Wie nachhaltig sind Ihre Aktionen? Erfahren Sie manchmal von Kindern, ob sie drangeblieben sind am Lesen?

Leider nicht. Aber es ist ganz besonders schön, wenn es mir gelingt, Kinder, die so gar keine Lust haben, für diesen einen Moment zum Lesen zu bringen – und sie dabei merken: Ist gar nicht so schwierig. Ich bin besser als gedacht. Aber nur Kinder zum Lesen zu bringen, wäre mir zu wenig. Es ist schon die Kombination: Cooler Haarschnitt, reisen, andere Städte kennenlernen, andere Viertel, mich mit den Kids verbal zu batteln – oft höre ich Sätze wie „Lies doch selbst, du Lauch“ – und sie dann doch für die Aktion zu gewinnen.

Wie sieht es bei Ihnen mittlerweile aus, kommen Sie selbst wieder mehr zum Lesen?

Ja. Aber ich lese nicht mehr zwischendurch, sondern nehme mir bewusst Zeit dafür. Und ich lese nur noch Bücher, die mich wirklich interessieren. Weil mich die Sprache fesselt oder das Thema. Eines meiner letzten Bücher war das Jugendbuch: „Als mein Bruder ein Wal wurde“. Ich bin nicht mehr davon losgekommen, habe sogar bei Freunden während des gemeinsamen Essens gelesen. Letztlich geht es darin um die Frage: Wer darf über das Leben eines schwer kranken Menschen bestimmen? Ich musste diese Entscheidung vor 13 Jahren für meine Mutter treffen, sie hatte Krebs und ein Arzt stellte mich vor die Wahl: Operation, länger leben im Wachzustand aber starke Schmerzen oder keine Operation, weniger lang leben im Dämmerschlaf aber keine Schmerzen. Mit dem Buch ist das Ganze wieder hochgekommen – und ich habe gemerkt, welche Macht Bücher haben können. Ich habe danach der Autorin geschrieben und mich bedankt, nach all den Jahren ist ein Knoten geplatzt und ich konnte die Geschichte für mich abschließen.

Sie werden bald Papa, wollen Sie Ihrem Kind später mal vorlesen?

Klar. Ich freu mich drauf. Aber dann stell ich mir auch wieder die Frage, ob das alles richtig ist. Warum liest man Kindern vor? Damit sie sich beruhigen, in ihrem eigenen Bett und ihrem eigenen Zimmer schlafen? Ist der Mensch überhaupt dafür gemacht, ein eigenes Zimmer zu haben? Lesen ist ein sehr komplexes Ding, ich mache mir viele Gedanken: Warum hat es überhaupt diesen hohen Stellenwert? Wie beeinflusst es unsere Sprache, unsere Kommunikation und unseren Umgang miteinander? Kinder, die geübt im Lesen sind, finden die richtigen Worte, treffen den richtigen Ton und ecken dadurch weniger an. Das ist einerseits natürlich toll und für uns Erwachsene angenehm, weil leichter zu handeln und höflich. Andererseits erlebe ich Kinder, die nicht so geübt sind im Lesen, oft unmittelbarer. Ihre Sprache ist weniger geschliffen, dafür individueller und frei heraus. Ich werde es schon sehen: Vielleicht lese ich ja meiner Tochter in ihrem eigenen Zimmer vor, aber hänge zuvor die Tür aus.

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Bild: fotoarbyter@zürich

Friseur Danny Beuerbach hatte einen besonderen Einfall, um Kinder für das Lesen zu begeistern: Sie dürfen ihm vorlesen, während er ihnen die Haare schneidet.

Heike Littger

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