Sexualität in Nordafrika

Tausendundein Widerspruch

In seinem neuen Buch Let’s talk about Sex, Habibi räumt Mohamed Amjahid mit Vorurteilen über Sexualität in Nordafrika und der arabischen Welt auf. Das ist gerade nach der WM in Katar ein wichtiger Beitrag.

Sexpositive Predigten eines Imams, Gewürzcocktails gegen Potenzprobleme und selbstbewusste Stripperinnen, die einen symbolischen Vulvatanz aufführen – das neue Buch des Journalisten Mohamed Amjahid, Let’s talk about Sex, Habibi, ist ein Querschnitt durch die Kultur und Geschichte der nordafrikanischen Lust. Darin erzählt Amjahid sowohl von seinen Erlebnissen als Reporter im Maghreb als auch von persönlichen Erfahrungen, die er während seiner Kindheit in Marokko und während seines Studiums in Ägypten gesammelt hat. Dabei verharmlost er weder die unmenschlichen Gesetze, die es in Marokko und anderen Ländern der arabischen Welt gegen außerehelichen Sex und Homosexualität gibt, noch die systematische Unterdrückung von Frauen und Queers, zu denen er sich selbst zählt.

Amjahid erzählt aber auch von Freiheit: etwa vom Moussem-Fest im nordmarokkanischen Meknès, das einmal im Jahr zur öffentlichen Orgie ausartet, von Hamams als Treffpunkten für queere Menschen, von Gebetskreisen, in denen Frauen über Schwänze und häusliche Gewalt sprechen. Eine Welt der manchmal verkorksten, manchmal ausschweifenden Sexualität, die parallel zu allen religiösen und politischen Zwängen ausgelebt wird. Also im Grunde genau wie überall sonst auf der Welt. Das zu betonen ist wichtig, denn ähnlich wie Schwarze Menschen und Latinx werden Nordafrikaner:innen und Araber:innen seit Jahrhunderten hypersexualisiert: Aus Frauen werden wahlweise Haremsfantasien bedienende Orient-Perlen oder frigide Opfer des Kopftuchterrors, aus Männern lüsterne Vergewaltiger, die permanent auf deutsche Frauen lauern. Man denke nur an die Kölner Silvesternacht, nach der alle nordafrikanischen Männer im Land unter Generalverdacht gestellt wurden.

Das ist gerade nach der viel besprochenen WM in Katar ein wichtiger Beitrag. Sehr oft hieß es in der medialen Debatte dazu: Queerness und offen ausgelebte Sexualität sei eine westliche Angelegenheit, die man einer anderen Region nicht aufzwingen dürfe. Dass das absoluter Unsinn ist, zeigt eben dieses Buch. Ob man zum Beispiel schwul auf die Welt kommt, hat rein gar nichts mit der Tatsache zu tun, ob man in Ägypten oder als Muslim aufwächst. Gleichzeitig erinnert uns Amjahid auch daran, wie heuchlerisch es von Europa ist, sich als Krone der Zivilisation aufzuspielen, wenn es um Sexualität geht.

Es werde, so Amjahid, vergessen, dass es vor allem auch europäische Männer seien, die heute nach Marokko reisen, um Sex mit Minderjährigen zu kaufen. In einem Fall von 2013 habe der spanische König den marokkanischen Monarchen sogar um Begnadigung eines verurteilten Spaniers gebeten, der Kinder in Marokko missbraucht hatte. Amjahid beschreibt die Kontinuität dieser Doppelmoral, die auf die französische Kolonialzeit in Nordafrika zurückgehe. So zitiert er aus Tagebüchern von französischen Intellektuellen wie André Gide, der seine Pädophilie unter anderem in Ägypten auslebte und als „Freiheit“ glorifizierte, ähnlich wie Maler Paul Gauguin in Tahiti.

Eine andere interessante Episode zeigt, dass es in Algerien beim Kampf gegen das Kopftuch – heute das Symbol für die europäische Gewissheit, dem Islam moralisch überlegen zu sein – nicht nur um die „Befreiung der Frau“ ging, sondern um militärische Unterdrückung: Französische Soldaten brachten während der Besetzung Algeriens Plakate an, auf denen sie muslimische Frauen aufforderten, ihre Verschleierung abzulegen und sich westlich zu kleiden. Sie wollten verhindern, dass die Frauen unter den Stoffschichten Waffen an die Front schmuggelten oder Männer sich vollverschleierten, um der Gefangenschaft zu entkommen.

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