„Der Staat hat andere Prioritäten“

Diese NGO hilft obdachlosen Menschen in Moskau

Tausende obdachlose Menschen kämpfen jeden Tag in Russlands Hauptstadt um ihr Überleben. Doch auch, wenn die Coronakrise und der nahende Winter ihre Lage noch prekärer macht, gibt es Hoffnung.

Wenn es schon längst dunkel ist in der Millionenmetropole Moskau, sammeln sich auf einem kleinen Parkplatz hinter Gleisen am Jaroslawer Bahnhof bis zu 100 Menschen. Es sind vor allem Männer, die sich hier täglich in einer finsteren Ecke der sonst quirligen russischen Hauptstadt für eine Suppe, eine Tasse Schwarztee und ein paar Kekse anstellen. Doch es ist vielfach die einzige Chance für obdachlose Menschen in Moskau, in der Corona-Krise irgendetwas zu bekommen. Denn der Staat, sagen die Menschen, lässt sie alleine. Durch die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen und Freiwilligen können sie überleben. Doch auch für sie wird es in der Pandemie immer schwieriger.

Für die obdachlosen Menschen am Bahnhof im Osten Moskaus ist das Virus weit weg. Kaum jemand trägt eine Maske, weil sie kein Geld dafür haben. „Jeder hier hat schon viele Krisen überstanden. Vor der Krankheit selbst fürchte ich mich deshalb nicht“, sagt ein Mann Anfang 30. Er will seinen Namen nicht nennen. Er hat selbst seinen Job vor einigen Monaten wegen der Corona-Krise verloren. Seitdem weiß der Mann nicht, wovon er leben soll. „Ich habe Angst, dass die Obdachlosen vergessen werden. Und es werden ja immer mehr. Nur blickt niemand hin.“

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Die Corona-Pandemie hat das Riesenreich fest im Griff. Die Zahlen steigen rasant. Vor allem Moskau ist ein Hotspot, mit Zuwächsen von 5000 Infektionen pro Tag. Doch einen wochenlangen Lockdown wie im Frühjahr plant die Regierung bislang nicht. Damals durften die Bewohner für lange Zeit kaum noch vor die Tür. Viele Mitarbeiter wurden kurzerhand entlassen und suchen bislang vergeblich nach einem neuen Job. Bis zu zehn Millionen Menschen haben ihre Arbeit verloren, schätzen Experten. Corona-Hilfen für Selbstständige oder Kurzarbeit wie in Deutschland gibt es in Russland nicht. Alleine in Moskau hat sich die Zahl der Arbeitssuchenden im Sommer im Vergleich zum Vorjahr zeitweise verachtfacht.

Obdachlose in Moskau: „Das Land befindet sich in einer Sackgasse“

Die Einschränkungen haben die sowieso angeschlagene russische Wirtschaft noch einmal schwer ins Straucheln gebracht. Der Rubel hat gegenüber dem Euro und dem US-Dollar massiv an Wert verloren. Jeder fünfte Russe droht in die Armut abzustürzen. In manchen Regionen fern von Moskau lebt bereits jeder Vierte unter der Armutsgrenze.

Gennadi, der lieber anonym bleiben will, sucht schon seit mehreren Jahren einen neuen Job. Früher hat der Mann für einige Zeit als Busfahrer gearbeitet, bis plötzlich kein Geld kam. „Das Unternehmen sagte: Ich soll warten. Aber es kam nichts. Null.“ Schließlich hatte er kein Geld mehr für die Miete und landete auf der Straße. Seitdem würde der Mann aus der Ostukraine jede Stelle annehmen. Aber wegen der Corona-Krise werden kaum Jobs vergeben. „Das Land befindet sich in einer Sackgasse“, sagt Gennadi, der eine Winterjacke im Tarnmuster trägt. Seinen Tag verbringt er damit, einen warmen Platz zum Schlafen zu finden. „Bahnhöfe und U-Bahn-Stationen. Das sind meine Favoriten“, sagt der Mann.

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Die Stadt hat zwar in den kalten Monaten mehr Unterkünfte zur Verfügung gestellt, doch der Platz reicht nicht aus. Genaue Statistiken, wie viele Menschen in Russland kein Dach über dem Kopf haben, gibt es nicht. Die Nichtregierungsorganisation Notschleschka, auf deutsch Nachtasyl, geht von Zehntausenden aus. Einige waren schon vor Corona obdachlos, viele haben aber durch den Lockdown zuerst ihre Arbeit, dann ihre Wohnungen verloren.

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NGO Notschleschka hilft in Russland

Die Aktivist*innen von Notschleschka sind vor allem in den Großstädten St. Petersburg und Moskau aktiv. In der Hauptstadt arbeiten sie mit 12 Festangestellten und mehr als 100 Freiwilligen. Die einen sind für die Spenden zuständig, Sozialarbeiter und Juristen beraten obdachlose Menschen in Moskau auch bei komplizierten Fällen. Viele haben seit Jahren keine Dokumente, um sich auszuweisen. Dadurch wird es für sie schwerer, Hilfe vom Staat zu bekommen.

Die junge Politikerin Daria Bessedina hilft regelmäßig im Suppenbus aus. Seit vergangenem Jahr sitzt sie als Abgeordnete der liberalen Oppositionspartei Jabloko im Moskauer Stadtparlament. Sie setzt sich vehement für soziale Gerechtigkeit in ihrer Heimatstadt ein. „Der Staat hat andere Prioritäten“, sagt die 32-Jährige. „Die Not kann aber jeden treffen – wie man ja in Corona-Krise sieht. Jetzt sollte die Regierung etwas tun, das Problem wird ja nicht von alleine weg gehen.“

Es sind Privatleute, wie der Bauarbeiter Alexander Korotkow, die hier aushelfen. Der Teamleiter verteilt Tüten mit warmer Kleidung und Schuhe an die Obdachlosen, die sie bei ihm bestellen können. Besonders jetzt im Herbst gibt es eine große Nachfrage, sagt er. Bevor es kalt und frostig wird, versuchen obdachlose Menschen in Moskau sich irgendwie auf den langen Winter vorzubereiten. Auch die Moskauer*innen hätten seit Beginn der Krise deutlich mehr gespendet. „Viele sehen die Krise und wollen sich privat engagieren“, sagt eine Mitarbeiter*in von Notschleschka. Inzwischen hat die Organisation dadurch eine neue Notschlafstelle mitten im Stadtzentrum bauen können. Doch sie sind sich sicher: Langfristig werde so das Problem nicht gelöst.

Bild: imago images / ITAR-TASS

Bevor es kalt und frostig wird, versuchen obdachlose Menschen in Moskau sich irgendwie auf den langen Winter vorzubereiten.

Claudia Thaler, dpa

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