Was ist eine Innovation und warum ist diese Frage gerade jetzt wichtiger denn je? Der dem lateinischen Verb „innovare“, übersetzt „erneuern“, entlehnte Begriff wird heute ständig verwendet. Unser Verständnis des Begriffs ist vor allem technisch und ökonomisch geprägt. Beschrieben hat diese Verbindung der Ökonom Joseph Schumpeter bereits 1911. Sein Werk „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ beschäftigt sich mit dem Ungleichgewicht kapitalistischer Märkte. Ein Dauerthema bis heute. Im Zentrum der Abhandlung des Österreichers wird Innovation definiert: Sie ist die wichtigste Leistung eines Unternehmers. Er kombiniert „Produktionsfaktoren“ neu und setzt diese Kombination gegen Widerstände durch. Bei Schumpeter kann das etwa die Entwicklung oder Etablierung eines neuen Produkts oder die Entdeckung und Erschließung eines neuen Absatzmarktes sein. Das Prinzip ist zwar logisch und aktuell, siehe Startups, doch ebenso unvollständig.
Aktuelle Texte zum Thema
Inklusions-Aktivist Raúl Krauthausen erzählt, wie aus der einfachen Idee für eine interaktive Karte, die anzeigt, ob Orte rollstuhlgerecht sind ein erfolgreiches weltweites Projekt geworden ist.Sustainable Development Goals
Die exklusive Kopplung von Innovationen an Technologie und Ökonomie hat sich vor dem Hintergrund umfassender weltweiter Herausforderungen nicht bewährt. Klar definiert sind diese Herausforderungen in den 2015 verabschiedeten 17 globalen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen, den Sustainable Development Goals (SDGs). Sie enthalten neben Punkten wie freiem Zugang zu Bildung, Gleichstellung der Geschlechter und Bekämpfung von Armut zudem Verpflichtungen zu nachhaltiger Produktion, Förderung und Nutzung regenerativer Energien und nachhaltigem Wirtschaftswachstum. Auch wenn es durchaus berechtigte Kritik an den SDGs gibt, etwa ein zu postkolonialer Gestus, ist klar, dass sie sich ohne eine Erweiterung des Innovationsbegriffs nicht erreichen lassen.
Eine Forschungskooperation zwischen dem Stockholm Resilience Centre, dem Tellus Institute und dem STEPS Centre (Social, Technological and Environmental Pathways to Sustainability) kam bereits 2012 zu dem Schluss: Lokale soziale Innovationen haben das Potenzial, einen gesellschaftlichen Wandel im Sinne der SDGs zu starten und abzusichern. Anders gesagt: Der Schlüssel zu einer globalen und gerechten Zukunft liegt in der lokalen sozialen Innovation.
Soziale Innovationen mess- und sichtbarer machen
Sozialunternehmen (Social Businesses) spielen bei der Realisierung sozialer Innovationen eine immer größere Rolle. Sie wollen nicht nur Probleme lösen, sondern auch Wirtschaft neu denken: Das oberste Ziel ist, einen Beitrag zu den Nachhaltigkeitszielen zu leisten und nicht hohe Profite für Shareholder zu generieren. Diese Unternehmen wollen soziale Probleme lösen und einen entsprechenden gesellschaftlichen Wandel einleiten. Aus Unternehmer*innen werden somit Social Entrepreneurs.
Zukünftig möchten wir in dieser Rubrik den sozialen Innovationsbegriff intensiv verhandeln und mit drei Entwicklungsstufen mess- und sichtbarer machen: Die erste Stufe unserer Betrachtung ist die Entdeckung einer sozialen Innovation selbst. Es geht um frische Ideen, deren Weiterentwicklung vorangetrieben wird – etwa von Unternehmer*innen, Organisationen oder Institutionen. Zwei Fragen sind entscheidend: Wie kam es zu der Innovation? Wie gelingt der Sprung aus der Gründungswerkstadt in die Praxis oder, falls schon erfolgt, wie ist dieser Sprung gelungen? Wie geht es konkret weiter?
Auch bei Good Impact: Warum die Regierung gerade Sozialunternehmen helfen muss
Socialbnb.org
Das erste Beispiel ist die soziale Online-Plattform socialbnb.org. Sie vernetzt Reisende und NGOs miteinander. Die NGOs bieten den Reisenden bezahlbare Schlafplätze in den eigenen Räumlichkeiten an. Das eingenommene Geld fließt in die Projekte der Hilfsorganisation. Dadurch wird nicht nur eine längerfristige Finanzierung der Projekte gesichert, NGOs werden mittelfristig auch unabhängiger von Spendeneinnahmen. Woher stammen Idee und Konzept? Ein Teammitglied von Socialbnb traf 2016 bei einer Reise durch Kambodscha Herrn Thy in Pang Na. Sein Ziel: für die Kinder in seinem Dorf einen Schule neben seinem Haus bauen, um so kostenfreien Englischunterricht zu ermöglichen. Die Finanzierung über Spenden funktionierte nicht. Herr Thy hatte allerdings viel Platz in seinem Wohnhaus, den er nicht brauchte. In der nachhaltigen Initiative Enactus aktive Studierende der Uni Köln kombinierten diese Faktoren und entwickelten so das erste Socialbnb: Herr Thy vermietete Zimmer und konnte mit den Einnahmen sein Schulprojekt realisieren.
Mittlerweile kooperieren 60 Partner in 27 Ländern auf allen Kontinenten mit der Plattform, die 2018 online ging und sich über die Buchungen finanziert. Eine Übernachtung kostet im Schnitt 20 US-Dollar. Davon verbleiben etwa 80 Prozent bei der NGO, den Rest nutzt Socialbnb, um vor allem die Kosten für Website und Marketing zu decken. Auch wenn der Betrieb derzeit wegen der Corona-Pandemie ruht, plant das Team bereits einiges für die zweite Jahreshälfte. Projektmanager Alexander Haufschild: „Wir verbessern gerade die Kommunikation mit unseren Partnern und planen, sofern möglich, einen verstärkten Markteintritt ab dem Sommer. Und: Wir suchen einen App-Programmierer.“ Zudem soll in diesem Jahr aus der Initiative mit aktuell acht Mitarbeiter*innen eine GmbH werden.
Die Idee funktioniert – Proof of Concept
Wurde eine soziale Innovation in der Praxis umgesetzt, stellt sich schnell die Frage: Funktioniert sie wirklich? Kann die Innovation sich in der Gesellschaft oder, im Falle eines Produkts, auch am Markt behaupten? Wie hat dieser Weg funktioniert?
Wo werden Impulse insbesondere auch jenseits klassischer wirtschaftlicher Kennzahlen sichtbar? Socialbnb wartet auf diesen Sprung noch, nebenan.de hat ihn schon geschafft.
Nebenan.de
Das Start-up gibt es seit 2015. Dahinter stehen die Good Hood GmbH aus Berlin-Kreuzberg und derzeit 80 Mitarbeiter*innen. Investoren sind etwa der Burda Verlag sowie der Risikokapitalgeber Lakestar, der auch an Spotify beteiligt ist. nebenan.de versteht sich als eigenständiges soziales Netzwerk für Nachbarschaften in Deutschland. Über das Netzwerk kann man sich kennenlernen, Kontakte aufbauen, sich gegenseitig helfen sowie Veranstaltungen organisieren. Dass das Konzept des geschäftsführenden Gründerteams um Ina Remmers, Till Behnke und Christian Vollmann funktioniert, zeigen aktuell etwa 18 000 registrierte Nachbarschaften mit derzeit 1,5 Millionen aktiven Nutzer*innen.
„Wir glauben sehr stark daran: Wenn man die Herausforderungen unserer Zeit, etwa Vereinsamung und Populismus, lösen will, passiert das nicht, wenn Merkel mit Trump spricht, sondern es passiert auf lokaler Ebene“, sagt Vollmann. Insbesondere zivilgesellschaftliches Engagement lasse sich über digitale Nachbarschaftsnetzwerke fördern. Das Netzwerk finanziert sich über Förderbeiträge, Online-Werbung sowie Gebühren für Profile, die kooperiende Städte, Gemeinden, Geschäfte und Dienstleister von sich anlegen können. nebenan.de ist in puncto Datenschutz gemäß eigenen Angaben die einzige TÜV-zertifizierte Nachbarschaftsplattform in Deutschland. Aktuelle Projekte sind eine Kooperation mit der Diakonie, um die Vernetzung im ländlichen Raum zu verbessern – „Dörfer mit Zukunft“ – sowie ein spezielles Profil für den lokalen Einzelhandel, um diesem mehr Sichtbarkeit in Stadteil und Kiez zu verschaffen.
Auch auf enorm: Endlich die Nachbarn kennenlernen
Soziale Innovation: Skalierung und Adaption
Wie schafft man es, eine gute Idee nachhaltig zu verbreiten? Skalierung meint, rein wirtschaftlich gesehen, fraglos Wachstum, Expansion und höhere Renditen. Social Entrepreneure verstehen unter Skalierung aber eher die Verbreitung der sozialen Innovation selbst. Das bedeutet in erster Linie steigende Gewinne für die Gesellschaft. Gemeint ist, dass das eigene Sozialunternehmen wächst, aber auch, dass die konkrete Idee Nachahmer*innen findet (Adaption) – wie etwa Gründungen von Unverpacktläden in Deutschland.
Auticon
Der Firma Auticon ist es gelungen, all diese Aspekte seit der eigenen Gründung 2011 bemerkenswert zu verbinden. Das Unternehmen hat sein in Deutschland etabliertes Geschäftsmodell mittlerweile erfolgreich in andere Länder übertragen. Ein vermeintlicher Nachteil wurde in einen immensen Vorteil transformiert. Die Firma setzt im Kerngeschäft ausschließlich auf Autist*innen. Sie kümmern sich um Qualitätssicherung für andere Unternehmen – insbesondere um das Testen und das Optimieren von Software. Autist*innen können hier ihre Stärken wie hohe Konzentrationsfähigkeit und Detailverständnis ideal nutzen.
Das Unternehmen beschäftigt zudem Pädagog*innen als „Job Coaches“, die als Schnittstelle zwischen Kunden und Spezialisten fungieren und ein optimales Arbeitsumfeld sicherstellen. „Durch die Integration der autistischen Kollegen in Kundenprojekte verändert Auticon das Verständnis für Autismus in der Gesellschaft nachhaltig. Autisten sorgen mit ihrer besonderen Perspektive für Neurodiversität in Teams“, sagt der Group CEO von Auticon, Kurt Schöffer. Auch würden gerade diese Teams „nachweislich besser performen“.
Das Unternehmen hat 260 Mitarbeiter*innen in Europa und Nordamerika, davon 180 Autist*innen, die sonst am ersten Arbeitsmarkt kaum Chancen auf eine Anstellung hätten. So aber sind sie bei IT-Projekten wichtige Berater vieler Dax-Unternehmen.
Soziale Innovationen: Impulsgeber*innen befragen
enorm wird nun regelmäßig Ideen und Unternehmen vorstellen und Impulsgeber*innen zu sozialen Innovationen befragen. Das vorgelegte 3-Stufen-Modell beschreibt und beobachtet die Unternehmen und ihre Entwicklung, es bewertet sie nicht absolut. Gesellschaftlicher Wandel braucht alle Formen sozialer Innovationen.
Mitarbeit: Simon Böhnlein
Das soziale Netzwerk nebenan.de fördert Nachbarschaftshilfe (Symbolbild).