Gute Gemeinschaft

Schaut euch in die Augen, Fremde!

Anderen Menschen begegnen wir auf der Straße meist ziemlich verschlossen – entsprechend anonym ist die Öffentlichkeit. Die Bewegung „Eye Gazing“ möchte mehr Begegnung schaffen – und organisiert Treffen, bei denen man sich einfach schweigend ansieht. Was geschieht dabei?

Es ist der 23. September 2017, ein Samstag, und in mehr als 350 Städten auf der ganzen Welt spielen sich ähnliche Szenen ab. Menschen sitzen einander gegenüber, auf Kissen und Decken, in Parks oder auf öffentlichen Plätzen. Sie schauen sich an, mehr nicht. Bis zu dieser Minute sind sie sich noch nie begegnet, aber nun blicken sie einander unverwandt und schweigend in die Augen, eine Minute, zwei Minuten, manche vier Minuten lang. In ihren Gesichtern passiert dabei etwas, ihr Ausdruck wird weicher, offener, etwas scheint von ihnen abzufallen, ein Lächeln schleicht sich um Lippen oder Augen. Manchen laufen Tränen die Wangen hinunter. Wenn die Zeit vorbei ist, fassen sie sich an den Händen, viele umarmen sich.

Was da an jenem Septembertag von Helsinki bis Melbourne und Bochum, von New York bis Reykjavik und Lima passierte, nennt sich das größte „Eye Contact Experiment“ der Welt. Tausende Menschen trafen sich zum „Eye Gazing“ – frei übersetzt: um sich in die Augen zu starren. Hinter der globalen Aktion, die alljährlich stattfindet, steht ein Netzwerk, das seinen Ursprung in Australien hat: Gegründet hat es vor ein paar Jahren der Performance-Künstler Pete Sharp. Aus seiner Heimat kommt auch „The Human Connection Movement“ des Schauspielers Igor Kreyman.

Sharp und Kreyman haben, ebenso wie ihre Nachahmer weltweit, das gleiche Ziel: In einer zunehmend technikdominierten, anonymen Öffentlichkeit echte Begegnungen zwischen Unbekannten zu schaffen und Nähe zu erzeugen. „Es geht um Stärke, um Menschlichkeit, um die Sehnsucht von uns allen, ganz fundmental mit anderen verbunden zu sein. Wandel kommt von innen heraus – lasst uns gemeinsam eine bessere Welt schaffen!“, erläutert Aktionskünstler Sharp eloquent in einer kleinen Video-Botschaft auf der Projekt-Website. Die Aufforderung ist klar: Schaut euch in die Augen, Fremde!

Aus der Vereinzelung ausbrechen

Aber ist es wirklich so einfach? Ute von Chamier hat Sozialwissenschaften studiert, Schwerpunkt Psychologie. Seit zehn Jahren arbeitet sie als systemische Beraterin und Mentaltrainerin, coacht Unternehmen und Privatpersonen. Die 59-Jährige lebt in Hamburg, im ländlich-ruhigen Finkenwerder südlich der Elbe. Vor ein paar Monaten hat sie versucht, auch in Hamburg ein erstes lokales Augenkontakt-Event auf die Beine zu stellen. Die Gruppe, die sie bei dem sozialen Netzwerk Meetup gründete, hatte schnell 80 Mitglieder – aber an dem angekündigten Termin im Herbst war es kühl und regnerisch und niemand erschien am Treffpunkt im Jenischpark.

Für April, Mai und Juni hat von Chamier nun neue Treffen ins Netz gestellt. Sie wird sich einen belebteren Ort suchen, mitten in der Stadt, wo auch die Laufkundschaft auf ihr Experiment aufmerksam wird. Damit die Leute gleich sehen, worum es geht, hat Ute von Chamier einen zwei Meter hohen Aufsteller drucken lassen, mit den Grundregeln. Sie sind ganz einfach: 1. Nehmen Sie Platz. 2. Lassen Sie alle Erwartungen los. 3. Seien Sie im Hier und Jetzt!

Von Chamiers Blick ist offen, ihre hellen blauen Augen blicken warm. Sie hat zum Gespräch an ihren Küchentisch eingeladen. „Viele Menschen haben große Sehnsucht danach, aus der Vereinzelung in unserer Gesellschaft auszubrechen. Achtsamkeit ist ja nicht umsonst ein so großes Thema“, sagt die gelernte Kauffrau. Was beim Eye Gazing passieren kann, nennt sie aus eigener Erfahrung beglückend. „Mit einem völlig Fremden verbunden zu sein, das öffnet Türen. Man erfährt eine Art universelles Aufgehobensein in der Gemeinschaft – unabhängig von Alter, Herkunft, Religion oder Geschlecht.“

Von Chamier ist vor knapp zwei Jahren auf die Methode aufmerksam geworden. Beim Fernsehsender Arte stieß sie auf einen Film über die serbische Performance-Künstlerin Marina Abramovic, die 2010 in einer spektakulären Aktion genau das vormachte, was all die Menschen rund um den Globus heute als Eye Gazing praktizieren. In einem ungleich umfangreicheren Ausmaß allerdings: Zehn Wochen lang saß Abramovic im New Yorker Museum of Modern Art auf einem harten Holzstuhl, täglich sieben Stunden lang. Ihr gegenüber stand ein zweiter leerer Stuhl, darauf durfte Platz nehmen, wer wollte, und der Künstlerin in die Augen sehen, so lange er mochte. „The Artist is present“ hieß die Performance, „Die Künstlerin ist da“. Über 1500 Menschen hatte Abramovic am Ende in und hinter die Augen geblickt. Je länger sie im Museum saß, desto mehr Menschen stellten sich bei ihr an; am Ende betrug die Wartezeit rund 20 Stunden.

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Titelbild: Jewgeni Roppel

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Christiane Langrock-Kögel

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