Ortsbesuch

Mit „Meet a Jew“ in einer 7. Klasse

Antisemitismus in Deutschland nimmt zu, Vorurteile sind verbreitet. Das Projekt „Meet a Jew“ will das ändern – durch Besuche in Schulen, Unis und Vereinen.

Es ist 9 Uhr morgens, ein nicht ganz so runder Stuhlkreis durchschlängelt das Klassenzimmer der 7b in der Robert Schuman Europaschule Willich. In der Mitte steht ein Tisch mit jüdischen Gebetbüchern, Teelichthaltern, Kerzen. Knapp 30 Augenpaare schauen sie neugierig an, vereinzelt wird geflüstert: Wozu sind sie da, was macht man damit? Dann betreten Liana, Rita und Julian das Klassenzimmer. Alle drei sind jüdisch.

Normalerweise würde die Religionslehrerin Ute Schury vorne stehen und nach Lehrplan das Thema Judentum behandeln. Heute schaut sie zu. Ihre Kollegin Liana leitet die Stunde. Auch sie unterrichtet an der Gesamtschule, als Deutsch- und Biologielehrerin. Heute erzählt sie auf Einladung von Schury von ihrem Alltag als Jüdin – denn Liana engagiert sich beim Projekt „Meet a Jew“.

Persönliche Begegnung baut Stereotype ab

2020 hat der Zentralrat der Juden das Projekt ins Leben gerufen, das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert es. Die Idee: Jüdische Menschen gehen an Schulen, Unis oder in Vereine und erzählen von ihrem Alltag als Jüdin oder Jude. Denn meist wird zwar die Geschichte des Judentums und vor allem der Holocaust im Unterricht thematisiert. Um jüdisches Leben im Deutschland von heute aber geht es nur selten. Wie leben Jüdinnen und Juden, was heißt jüdisch sein überhaupt? „Nach einer persönlichen Begegnung sind Menschen meist weniger anfällig für Stereotype. Weil sie dann Juden kennen, die diese Vorurteile offensichtlich nicht erfüllen“, so Projektkoordinatorin Mascha Schmerling vom Zentralrat der Juden in Deutschland. „Auch wenn Begegnungen allein nicht alle Formen von Antisemitismus verhindern können.“

Allein in diesem Jahr fanden über 600 Begegnungen statt, mit denen das Projekt mehr als 15.000 Menschen erreicht hat. Eine Arbeit, die der zunehmenden Gewalt gegen Juden, insbesondere seit dem Angriff der Terrorgruppe Hamas auf Israel, entgegenwirken will, sie richtet sich gegen den alltäglichen Antisemitismus in Chatgruppen, Stadien oder auf Schulhöfen. „,Meet a Jew‘ gibt Jüdinnen und Juden ein Gesicht und zeigt, dass Vorurteile oder Schimpfworte wie ,du Jude‘ auf Schulhöfen Menschen treffen und für sie gefährlich sind“, so Projektkoordinatorin Schmerling. „Leicht kann eine Entmenschlichung in der Sprache in physische Gewalt umschlagen.“

Die Besuche von „Meet a Jew“ finden meist mit zwei Ehrenamtlichen statt. Im Optimalfall ein Team mit verschiedenem Geschlecht, Alter, Beruf und unterschiedlicher Auffassung vom Glauben. Liberal oder orthodox – so vielfältig, wie jüdisches Leben eben ist. Heute sind die Besucher:innen zu dritt. Alle stellen sich nur mit Vornamen vor, das ist Grundsatz im Projekt. Zum einen wollen sie den Kindern auf Augenhöhe begegnen. Zum anderen sich schützen. Sich als jüdisch zu präsentieren, ist nach wie vor sensibel, und nicht jede:r, der mit „Meet a Jew“ in die Schule geht, möchte auch darüber hinaus als jüdisch wahrgenommen werden.

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Julian und Liana: „Hallo, wir sind jüdisch.“ Foto: Antonia Strotmann

Liana begrüßt die Schülerinnen und Schüler. „Ich bin Liana, Lehrerin an eurer Schule, und erzähle euch heute von meinem Leben als Jüdin.“ Ihre Begleiter:innen stellen sich vor: Da ist Rita, die als Leiterin einer Personalabteilung arbeitet, und da ist Julian, ein 30-jähriger Kieferorthopäde aus Düsseldorf. Während bei Rita und Liana beide Elternteile jüdisch sind, ist Julian in einer christlich-jüdischen Familie aufgewachsen, seine Mutter ist Israelin. Er lebt nicht sonderlich religiös, wie er sagt: „Ich ziehe zwar viel Kraft aus dem familiären Beisammensein an jüdischen Feiertagen und achte auch darauf, mich koscher zu ernähren, aber in meinem Beruf kann ich den Schabbat nicht jede Woche genau einhalten.“ Liana dagegen lebt ihren Glauben im Alltag stärker aus, der Schabbat beginnt bei ihr jeden Freitagabend mit einem jüdischen Ritual, das nur Frauen obliegt: dem Anzünden von zwei Kerzen bei Sonnenuntergang.

„Was glaubt ihr, wie viele jüdische Menschen leben in Deutschland?“, fragt Liana. „Kennt ihr selbst welche?“ Nur ein Mädchen meldet sich. Und doch schätzen viele Kinder den Anteil jüdischer Menschen erstaunlich hoch. 800.000, 1 Million, 8 Millionen, rufen sie. Julian: „Etwa 100.000 Juden leben in Deutschland. Was meint ihr, warum haben so viele von euch mehr geschätzt?“ Die Kinder sind sich einig: Weil Deutschland so groß ist. „Und weil man Jüdinnen und Juden nicht ansieht, dass sie jüdisch sind“, ergänzt Julian. Nicken im Stuhlkreis. „Stimmt, haste recht!“

In der Runde sind alle Fragen erlaubt, auch persönliche. „Julian, Rita und ich antworten euch, außer wir wollen es nicht“, sagt Liana. „Was dürft ihr nicht essen?“, fragt das erste Kind. „Strenggläubige Jüdinnen und Juden dürfen theoretisch nur koschere Tiere essen. Zum Beispiel Schafe oder Kühe, aber kein Schweine, und Tiere aus dem Wasser müssen Flossen und Schuppen haben, so steht es geschrieben“, erklärt Rita. „Fleisch und Milch dürfen wir nicht zusammen aufbewahren, zubereiten oder essen, weil es in der Thora heißt: ,Du sollst nicht kochen das Böcklein in der Milch seiner Mutter‘“, sagt Julian. „Deshalb ernähre ich mich meist vegetarisch oder vegan, ist einfacher.“ Aber letztlich könne jede:r natürlich selbst entscheiden, wie streng er oder sie die Regeln befolge.

Und was dürfen jüdische Gläubige am Schabbat machen, dem wöchentlichen Ruhetag? „Der Schabbat geht bei uns mit dem Sonnenuntergang am Freitag los und dauert bis zum Samstagabend. In dieser Zeit sollen wir uns entspannen, statt zu arbeiten“, sagt Liana. „Ist Aufräumen auch arbeiten?“, ruft ein Schüler. „Genau, man soll sich ja ausruhen.“ „Rasenmähen?“, will eine Klassenkameradin wissen. „Auf jeden Fall, sonst würde man etwas kaputt machen, das Gott geschaffen hat.“ „Ans Handy gehen?“ „Richtig, elektronische Geräte sind verboten.“ Es wird unruhig im Klassenzimmer. Die Ehrenamtlichen grinsen, sie haben einen sensiblen Punkt getroffen. „Am Schabbat kein Handy zu benutzen, ist wirklich schwer, aber es tut auch gut“, sagt Liana. „Und bei den anderen Regeln gibt es ein paar Tricks“, verrät Julian, „manche kochen das Essen schon freitags und legen es ab Sonnenuntergang auf Warmhalteplatten. In New York, wo sehr viele jüdische Menschen leben, gibt es Aufzüge mit Schabbat-Modus: Die laufen durch, ohne dass wir Knöpfe drücken müssen.“

Nice to meet Jew, too. Foto: Antonia Strotmann

Gegen Antisemitismus im Klassenraum

Dann will ein Kind wissen: „Warum will der Iran jüdische Menschen auslöschen?“ Liana weiß, dass solche Fragen kommen können. Junge Ehrenamtliche zwischen 14 und 20 Jahren werden deshalb in einem Trainingsprogramm an vier Wochenenden auf die Begegnungen vorbereitet. Dort frischen sie ihr eigenes Wissen rund um das Judentum, Israel und Antisemitismus auf, lernen, wie sie gut mit Gruppen sprechen und mit heiklen Fragen umgehen können. Liana hat sich entschieden, auch sensible Fragen nach Möglichkeit zu beantworten. Heute so: „Seit es Juden gibt, gibt es Menschen, die das jüdische Volk auslöschen möchten. Ich kann euch nicht sagen, wieso. Darauf haben wir keine Antwort. Aber Juden auf der ganzen Welt mussten schon immer fliehen. Es gibt ein bekanntes Sprichwort: ,Sie haben versucht, uns zu töten, wir haben überlebt, lasst uns essen.‘“

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Es sind vor allem ältere Schüler:innen, die Fragen zu Antisemitismus stellen. Erst in den höheren Klassen wird der Holocaust im Unterricht thematisiert, das Interesse an Geschichte und Politik steigt. Grundschüler:innen dagegen, so Liana, wollten in der Regel mehr über die Religion wissen, weil das Judentum dort Unterrichtsthema ist. Nicht immer sind die Gespräche angenehm. „Trotzdem finde ich es besser, belastende Themen gezielt zu behandeln, als im Alltag beiläufig darauf angesprochen zu werden“, sagt Liana. „Das passiert tatsächlich oft.“ Hier aber freut sie sich, wenn Schüler:innen brisante Fragen zu stellen wagen. Wann hat man sonst die Chance, in Ruhe sachlich aufzuklären?

Einmal hat Julian eine Klasse besucht, in der es ein großes Problem mit Antisemitismus gab. Zu Beginn des Besuchs waren die Schüler:innen sehr zurückhaltend. Erst nachdem die Lehrerin die Kinder auf ihre antisemitischen Beleidigungen ansprach, brach das Eis. „Manche hatten noch nie einen jüdischen Menschen gesehen und erwarteten – im Ernst – teilweise tierische Kreaturen“, erzählt der 30-Jährige. Julian und seine Tandempartnerin erklärten den Schüler:innen, wieso Menschen Bilder wie diese erfinden, verbreiten und Vorurteile befeuern. In der kritischen Diskussion gelang es Stück für Stück, Stereotype zu durchbrechen. In solchen Fällen gilt eine Regel: Die Ehrenamtlichen sprechen mit einer Klasse nur über diejenigen Vorurteile, die Schüler:innen selbst nennen. „Meet a Jew“ will keine Vorurteile reproduzieren, nicht neue Stereotype in die Köpfe der Kinder pflanzen – und sei die Diskussion darüber auch noch so kritisch. Vorurteile gänzlich zu beseitigen, erwartet Julian in solchen Klassen nicht. „Das bräuchte mehrere Besuche. Aber wenn die Kinder mich danach als normalen Menschen betrachten, habe ich einiges erreicht.“

Neuerdings stößt das Team häufig auf ultraorthodoxe Vorstellungen von Jüdinnen und Juden. Denn Serien wie Unorthodox, One of Us oder Shtisel sind seit zwei, drei Jahren auf Netflix & Co en vogue und bei Schüler:innen beliebt. Dann erzählen die drei von liberalen Juden, der großen Mehrheit. Liana erklärt: „Wir verstehen das Judentum auch als eine Art Volkszugehörigkeit statt als Religion. Meine Eltern zum Beispiel sind wie viele ihrer Generation fast gar nicht religiös, verstehen sich aber als Juden und nicht Russen oder Litauer, obwohl sie von dort kommen. Das liegt daran, dass sie in ihrem Pass der ehemaligen Sowjetunion als Nationalität ,jüdisch‘ stehen hatten.“

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Nach dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, sind Menschen jüdisch, wenn sie entweder von einer jüdischen Mutter geboren wurden oder rechtmäßig übergetreten sind. Diese Menschen gelten in ihrer Gemeinschaft dann als jüdisch, auch wenn sie nicht religiös sind. So wie Christ:innen, die sich nicht als religiös bezeichnen und trotzdem Weihnachten oder Ostern feiern, können auch Jüdinnen und Juden, die sich nicht als religiös bezeichnen, jüdische Traditionen und Kultur leben.

Ihr Engagement bei „Meet a Jew“ möchten Liana, Julian und Rita nicht missen. „Das Abbauen von Vorurteilen während der Begegnungen sorgt dafür, dass unsere Religion als normaler empfunden wird“, sagt Liana. Julian genießt es zu sehen, wie andere Ehrenamtliche ihren Glauben ausleben. „Und gerade für junge Jüdinnen und Juden ist ,Meet a Jew‘ eine gute Gelegenheit, Kontakte zu anderen aus der Community zu knüpfen und sich vielleicht zum ersten Mal intensiv mit dem eigenen Glauben auseinanderzusetzen.“

Zurück im Lehrerzimmer. Liana holt sich einen Kaffee und atmet tief durch. Ein Kollege stellt sich dazu. „Hast du Lust, auch meine Klasse zu besuchen?“ Ein kurzer Blick in den Kalender und der nächste Besuchstermin steht.

Foto: Unsplash / Amit Lahav

Gläubige jüdische Männer zeigen mit der Kippa ihre Ehrfurcht und Demut gegenüber Gott.

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