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Winterliche Schwere im Hafen von Rotterdam, 1992. Am Dock wird ein 90 Meter langes Frachtschiff beladen, von drei Matrosen und einer Steuerfrau, 3.000 Tonnen Glasfabrikat. Etwas abseits der Kapitän in schmutziger, löchriger Kleidung. Argwöhnisch beäugt er einen Jungen, dann dessen Eltern, dann wieder den Jungen. „Der ist aber echt jung, ne?“ Hinter ihm zittert die zyprische Flagge des Frachters im kalten Wind. „Wenn der beim Arbeiten seekrank wird, ist das sein Problem.“ Die Eltern zum Jungen: „Willst du wirklich mit?“ Ja, Jorne Langelaan will unbedingt aufs Meer, nach Italien. Der 14-Jährige darf mit an Bord, sein Ferienjob: Rost abkratzen, lackieren, schrubben.
Schon am nächsten Morgen, im Ärmelkanal, wird Jorne Langelaan seekrank. Der Kapitän schickt ihn mit einer Bürste und zwei Eimern in den Maschinenraum: einer zum Putzen des Motors, der andere zum Übergeben. Noch zwölf Tage bis zum ersten Halt in Italien. Die Tage und Nächte verschwimmen, doch der Seekranke erlebt auch schöne Momente: gesellige Gespräche in der Steuerkabine, Zeit zum Malen. Vor allem Schiffe mit Masten zeichnet er, in Gedanken bei den Segelbüchern seines Vaters, von Beruf Künstler. Der Kapitän sieht das und rät: „Keine giftigen Abgase, andere Bewegungen – heuer doch mal auf einem Segler an.“ Ein Wendepunkt für den heute 44-jährigen Segelunternehmer Jorne Langelaan.
Segelfrachter: Von Vergangenem für die Zukunft lernen
August 2022, eine Werft in Franeker, Niederlande, nahe dem Wattenmeer: rostige Kähne, Arbeiter:innen in verschmierten Overalls, es riecht nach frisch lackierten Schiffsbohlen. Jorne Langelaan – dunkelblonde Haare und struppiger Bart, schwarze Arbeitskleidung und Seemannsmütze – manövriert entspannt durch das Durcheinander. Vor dem imposantesten Schiff in der Halle bleibt er stehen, zeigt auf den Bug: „Dieser Teil muss noch ausgetauscht werden.“ Seine Stimme versackt in Maschinenlärm und holländischer Schlagermusik. „Der hintere Teil des Rumpfs ist fertig lackiert. Der Kiel hier wurde schon mit neuem Stahl verstärkt.“ Langelaan kitzelt den Bauch seines Schiffs, das auf kräftigen Pfeilern ruht. „Damit es weitere 100 Jahre erlebt.“ Zwei Meter neben ihm schweißt jemand Stahlteile, die Funken sprühen feierlich.
De Tukker heißt das Segelschiff im Umbau. Anfang 2023 soll es zu Wasser gelassen werden und als Fracht- sowie Passagierschiff niederländische, belgische und britische Häfen miteinander verbinden. Es ist das erste einer Zukunfts-Flotte, die Waren umweltschonend über die Ozeane transportieren soll. „Retrofuture“ nennt Langelaan das: „Probleme mit neuen Technologien zu lösen, schafft oft andere Probleme. Dabei haben wir einen so reichen Erfahrungsschatz aus der Vergangenheit.“ Langelaan spielt auf die schnittigen, schnellen Klipper an, die Mitte des 19. Jahrhunderts Güter über die Weltmeere segelten. Es war die Zeit von Ariel, Flying Cloud, Cutty Sark und Noach. Letztere inspirierte Langelaan zu seinem ersten eigenen Entwurf, EcoClipper 500. Er breitet einen großen Bogen Papier aus, darauf eine detaillierte Zeichnung des Dreimasters, der internationale Routen fahren soll. Baukosten: acht Millionen Euro. Weil die Finanzierung hakt, upcycelt Langelaan erst mal für rund 600.000 Euro ein altes Schiff, De Tukker. Wer möchte, kann online mindestens 350 Euro investieren und Miteigentümer:in der Frachtsegler werden. Oder bald eine Reise buchen als Passagier:in, emissionsfrei von A nach B. Zumindest fast. Denn De Tukker behält ihren Motor. Ansonsten müsste in jedem Hafen ein Schleppboot bestellt werden. Auf See aber gilt: der Motor bleibt aus, sogar bei Flaute. Schon wenn er 20 bis 30 Prozent der Zeit liefe, wäre Langelaans Fracht pro Tonne und Meile umweltschädlicher unterwegs als die der größeren (und dadurch effizienteren) Motorschiffe. Für EcoClipper 500 ist kein Antrieb geplant, weil es auf seinen langen Törns seltener andocken wird. „Je größer die Distanzen, desto leichter lassen sich die Wetterverhältnisse mit meteorologischer Software vorhersagen, und damit auch die Lieferzeiten.“
Seefahrer mit 12
Langelaans Seemannsgeschichte begann schon vor der prägenden Fahrt nach Italien, im Alter von 12 auf dem Motorfrachtschiff seines Onkels, eines Berufsseefahrers. Um Segeln zu lernen, trampt er als 18-Jähriger von seiner Heimatstadt Delft gen Norden zum Binnensee Ijsselmeer. Hier bieten mehr als hundert Passagiersegelschiffe Nordsee-Rundreisen an. Doch er vermisst den Sinn, will lieber Fracht statt Menschen transportieren. Vier Monate hilft er auf dem Segelfrachtschiff Avontuur beim Be- und Entladen von Supermarktware in der Karibik. Zurück in den Niederlanden besucht er die Enkhuizer Seefahrtschule. In den Ferien geht ein Traum in Erfüllung: Er wird Matrose auf der Bark Europa. Mit dabei auf dem Törn nach Bermuda sind Arjen van der Veen und Andreas Lackner. 2007 gründen sie gemeinsam Fairtransport, eine Bewegung für sauberen Schiffsverkehr. Ihr Frachtsegler Tres Hombres ist einer der ersten weltweit, der Waren wieder ohne Motor und Emissionen durch die Ozeane navigiert. 2018 gründet Langelaan die Reederei EcoClipper.
Landschaften voller Rohre, Ventile und Fabriken, ein gefrorenes Containerschiff im Kühlschrank: Heute malt Langelaan keine Boote mehr wie damals mit 14, sondern gesellschaftskritische Szenen. Tatsächlich wäre er fast kein Seefahrer geworden, sondern Künstler wie sein Vater. Mit 22 bewirbt er sich erfolgreich an der Kunstakademie in Den Haag, heuert dann aber doch als Steuermann auf der Bark Europa an. Es geht in die Antarktis. Segelschiffe skizziert er im Jahr 2022 nur noch für seine Baupläne, etwa die EcoClipper mit 500 Tonnen Frachtvermögen. Winzig im Vergleich zu den 180.000 Tonnen an Bord eines Megafrachters. Technisch möglich, aber aktuell nicht finanzierbar, wären Viermaster mit 5.000 Tonnen Cargo. Das beweist die Peking, die 1911 erstmals nach Chile auslief. Heute liegt der deutsche Frachter als Museumsschiff im Hamburger Hafen.
Globalisierung: 90 Prozent aller Waren werden verschifft
Langelaans Vision ist radikal, er will die Zeit auf den Weltmeeren zurückdrehen. „Wir hätten niemals von der Segel- auf die Dampfschifffahrt umsteigen und später den Container erfinden sollen – Treiber der Globalisierung.“ Heute werden 90 Prozent des globalen Warenverkehrs auf Wasserstraßen abgewickelt. Langelaan romantisiert eine Epoche, in der die Natur über Lieferzeiten und Cargo bestimmte. Tres Hombres etwa schippert nur haltbare, teure Produkte wie Schokolade, Olivenöl und Rum über den Atlantik. „Als Reeder darf ich das eigentlich nicht sagen, als Aktivist aber schon: Ein Drittel von allem, was weltweit verschifft wird, sind fossile Kraftstoffe. Das müssen wir sowieso stoppen. Von den restlichen 70 Prozent sollten wir die Billigware streichen, also 90 Prozent. Die übrigen 10 schaffen wir mit Segelschiffen.“ Was er von Teillösungen wie alternativen Antrieben hält? Etwa Ammoniak und grünem Methanol für Containerschiffe auf langen Strecken sowie grünem Wasserstoff und Batterien für Boote auf kurzen Routen. Oder von Versuchen, aufblasbare Riesensegel, Kites und Rotoren auf bestehenden Frachtern zu befestigen, um Kraftstoff einzusparen. Langelaan: „Das alles dient dem System-Erhalt. Wir brauchen aber eine Erneuerung!“
Gerade die Pandemie hat Fehler im System offengelegt: Tanker stauen sich durch die Lockdowns vor den Welthäfen, Lieferungen sind unzuverlässiger und teurer geworden. Dennoch kostet der Containertransport Langelaan zufolge immer noch 5-mal weniger (vor Corona waren es 20-mal) und liefert etwa doppelt so schnell wie Segelschiffe. Die Riesenpötte gelten außerdem als effizient: Pro transportierte Tonne und Kilometer verursachen sie im Vergleich zu Lkw relativ wenig CO2– Emissionen. Bei Lkw sind es laut Umweltbundesamt pro Tonne und Kilometer 68 Gramm CO2, bei Frachtern dagegen 17 Gramm. Allerdings fahren Hochseeschiffe mit Schweröl und stoßen neben CO2 große Mengen toxischer Schadstoffe wie Schwefeloxide, Feinstaub, Stickstoffoxide und Ruß aus, vor allem in unmittelbarer Küstennähe. Dort versauern sie Böden und Gewässer, vergiften Tiere und Menschen. Schiffsverkehr machte vor der Pandemie etwa vier Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen in der EU aus.
Zurück in der friesischen Werft. Die Crew von De Tukker macht Mittag in der Sonne, zum Nachtisch gibt es Waffel-Eis. Gerade haben sie die Schiffsküche weiß gestrichen, die Farbdämpfe beißen in der Nase. Eine wackelige, lange Leiter führt hinauf zum Deck. 40 Meter ist der Kahn lang, 5,5 Meter breit und kann 70 Tonnen Cargo laden. Langelaan schlängelt sich durch Dutzende Farbeimer, Seile und Maschinen, die Bohlen knarren. Am Heck angekommen zieht er an einer staubigen Plane, darunter das Steuer. Seine rechte Hand streicht langsam über das alte Holz, in Gedanken ist er vielleicht bei seiner letzten Expedition im Südpolarmeer: Das Salzwasser donnert gegen den Kiel, drumherum stille, eisige Weite. In dem Gründer lebt die Sehnsucht nach der See noch immer.
Das Team der Reederei EcoClipper renoviert alte und baut neue Segelfrachter. Anfang 2023 soll das erste Schiff (De Tukker) auslaufen.