Initiative „Wir sind der Osten“

Weggefegt von der Resonanz

Ostdeutsche würden jammern, seien ewig gestrig und demokratiefeindlich sowieso: Die alten Bilder halten sich beharrlich. Die Journalistin Melanie Stein macht mit ihrer Initiative „Wir sind der Osten“ Vielfalt und Stärke der Menschen sichtbar. Sie hat damit einen Nerv getroffen.

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Irgendwann, während der Europawahl 2019, hat Melanie Stein die Nase gestrichen voll. Gibt’s doch nicht. Wieso wird über Ostdeutschland fast nur negativ berichtet, unfassbar pauschalisierend zudem? Egal ob auf Social Media oder in vielen klassischen Medien, immer wieder springen ihr dieselben Bilder ins Gesicht: Rechtsextreme, Demokratiemuffel, ewig Gestrige, beschränkte Ossis. Oder: „Sachsen kannste abhaken.“ Wo, verdammt, bleibt der differenzierte Blick auf die ostdeutsche Mehrheit, fragt sich Stein und beschließt: Das muss sich ändern. Im Sommer 2019 gründet Melanie Stein die Initiative „Wir sind der Osten“.

Der Wind treibt den Fieselregen waagerecht durch die Straßen Berlins, im Café Codos wartet Melanie Stein. Eine junge Frau, die blonden Haare im Nacken zusammengefasst, mit klarem Blick und freundlichem Lächeln. „Früher war das Common-ground hier drin, ein hippes Café, schon der Name passte super zu uns. Hier hat alles angefangen.“ Sie öffnet ein SharePic auf ihrem Handy, eine Einladung: „Meet-up Aktion Ost“, Juli 2019. Geschirr klappert, das Lachen der Gäst:innen hallt durchs pink-poppige Bistro. „Gehen wir lieber ins Gorki die Straße hoch.“ Stein schlüpft in ihre Winterjacke. „Dort haben wir auch oft zusammengesessen.“ In jenem heißen Sommer vor zweieinhalb Jahren.

Ostdeutschen eine Stimme geben

Damals moderiert Stein gerade die YouTube-Talk-Runde Diskuthek und hat dafür einen Tweet abgesetzt: Spannende Menschen aus Ostdeutschland gesucht. Dutzende melden sich, manche haben über Bekannte von dem Aufruf erfahren. Knapp zehn Leute sind beim Treffen im Common Ground einige Wochen später dabei. Philipp Sälhoff vom Polit-Think-Tank Polisphere etwa, Lutz Mache von Google, Christian Bollert vom Radiosender Detektor.fm, Micha Bohmeyer von der Initiative Bedingungsloses Grundeinkommen oder die Schriftstellerin Greta Taubert. „Wow, so viele spannende Menschen, und von einigen wusste ich nicht mal, dass sie aus Ostdeutschland kommen“, denkt Stein. „Es wird Zeit, dass wir sichtbar werden.“ Die Idee dafür hat sie schon im Kopf: Wir gründen eine Online-Plattform, um Ostdeutschen eine Stimme zu geben. Gemeinsam legen sie los.

Geblieben

„Wir laufen vor keinem Problem weg, sondern stellen uns diesem mit einem offenen Ohr!“
Matthias Schnarr, Musikmanager, DJ und Veranstalter, Dresden

Bild: Peter Zeidler

Melanie Stein ist niemand, der polarisieren will, die Welt aufteilen in Ost und West. Sie selbst, aufgewachsen in den Jahren um die Wende in einem kleinen Ort bei Rostock, hat sich lange nicht als Ostdeutsche gefühlt, „eher als norddeutsch“. Natürlich, die immer gleichen Medienbilder, die seit Mauerfall in der kollektiven Wahrnehmung einbetoniert scheinen, hat auch sie früh wahrgenom-men. „Jammerossi“, „Nix-raff-Ossi“. Persönlich mit ihnen konfrontiert wurde sie nicht. Nicht in ihrer Kindheit und Jugend. Nicht als sie zum Studium in den Westen ging, Publizistik und Psychologie, erst in Köln, später Wien. Nicht während ihres Volontariats beim NDR in Hamburg oder bei ihrer Arbeit als Moderatorin für Polit-Sendungen wie Diskuthek.

„Ostdeutsche finden sich in den Medien nicht wieder”

Und doch hat sie hautnah miterlebt, wie groß die Aufgaben für die Generation ihrer Eltern waren. Wie gewaltig die Veränderungen. Von klein auf hat sie beeindruckt, mit welcher Energie und welchem Erfindungsreichtum viele in ihrem Umfeld diese Situation bewältigten. Die Vielfalt der kleinen Geschäfte, die nach Auflösung der Kollektivbetriebe überall aus dem Boden schießen. Die Berufswechsel, die Menschen anpacken. Aufbruchsstimmung – dieses Gefühl prägt Steins Post-Wendejahre. Später wird ihr klar, wie schwer es für viele auch war, die radikalen Brüche zu stemmen.

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Gegangen

„Ich kann ungeniert Ossis-Witze machen, ohne dass irgendwer böse ist.“
Grafikhool HoGeSatzbau, Aktivist, Berlin

Bild: VG/Grafikhool#HoGeSatzbau

Melanie Stein nimmt einen Schluck Rhabarbersaft und schüttelt den Kopf. Wie kann es sein, dass von all dem so wenig zu lesen ist? Dass sich Desinteresse und Schubladenblick auf den Osten Deutschlands bis heute halten? Sie kennt die Medienbranche, die, gerade in den Führungsetagen, immer noch westlich geprägt ist. In der vor Landtagswahlen „Safari-Journalist:innen“ mit der Westbrille auf der Nase „den Osten“ erkunden. Und warum werden die Leistungen der Ostdeutschen kaum gezeigt? Warum sind, das beobachtet sie oft, in Kultursendungen all die Bands und Künstler:innen aus Ostdeutschland weniger präsent? Warum kommen in Wirtschaftsmagazinen ostdeutsche Unternehmer:innen seltener zu Wort?

Dass laut Studien Ostdeutsche weniger Vertrauen in die Medien haben als Westdeutsche, überrascht Stein da nicht: „Sie finden sich oft nicht wieder. Und werden immer noch als ,die anderen‘ beschrieben.“ Dabei seien sie doch genauso Teil Deutschlands „mit ihrer Geschichte, ihren Prägungen, ihrer Vielfalt“. Und die will Melanie Stein mit ihrer Initiative zeigen. „Unsere Eltern waren damit beschäftigt, ihr Leben komplett umzukrempeln. Erst wir, die nachfolgende Generation, hat die nötige Distanz, diese Geschichte neu aufzuarbeiten.“

Geblieben, Gegangen, Zurückgekehrt

Schnell ist sich die Gründungsmannschaft einig: Neutral soll die Website sein, nicht aktivistisch. Darstellen, nicht bewerten. Irgendwann ist da diese Idee: Wir suchen Menschen aus drei Kategorien: Geblieben, Gegangen, Zurückgekehrt. Schicken Fragen, an denen sie sich entlanghangeln können. Fühlst du dich ostdeutsch? Wie beeinflusst dich deine ostdeutsche Herkunft? Wie gestaltest du die Zukunft? Die Fragebögen gehen an Freund:innen, Nachbar:innen, Familie. In Heimatdörfer, in Städte. Vom Bäcker über die Musikmanagerin, den Projektleiter bis zur Lehrerin.

Zurückgekehrt

„Bei allem Schmerz, den die hemmungslose Verscherbelung und fehlende Anerkennung auslöst, ist es auch Magie.“
Johanna Maria Knothe, Journalistin, Berlin

Bild: Daniel Pasche

Stein und ihre Mitstreiter:innen werden weggefegt von der Resonanz. Manche Anrufer:innen müssen mehrfach auflegen, um sich zu sammeln. „Für viele war es wie ein Outing: Ich bin ostdeutsch.“ Da ist die Frau, die ihr auf Insta schreibt, dass sie sich eher als lesbisch zu erkennen gibt denn als Ostdeutsche. Da ist die Managerin, die erst ihre Familie fragen muss: Kann ich das wagen? Beim Auftaktevent am Berliner Gleisdreieck drängen sich hundert Leute im Saal. Die Presse berichtet. Plötzlich ist das Thema in aller Munde.

500 Menschen haben die Fragen bereits online beantwortet. Sie erzählen vom Wegbruch „elterlicher Orientierung“, die eine Bürde sein kann oder im Gegenteil neue Freiräume schafft. Sie schildern, wie stolz sie sind, ostdeutsch zu sein, oder warum sie mit dieser Kategorie wirklich nichts mehr anfangen können. Sie fordern Politik für die Regionen, Quoten in Wirtschaft und Verwaltung oder ein Ende der nervigen Ostalgie. Sofort wird klar: Den Osten gibt es nicht. Schon der Begriff ist eine Konstruktion, sprachliche Hülle für eine Gleichmacherei gespeist aus der Sicht von außen. „Genau deshalb haben wir uns so genannt“, sagt Stein. Wir sind der Osten ist nichts als eine „augenzwinkernde Provokation“.

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Strukturelle Ungleichheiten überwinden

Einige Geschichten machen den zweiten großen Punkt sichtbar, um dem es Melanie Stein geht: die faktische Ungleichheit. 90 Prozent des Staatseigentums der DDR haben Westdeutsche übernommen, 5 Prozent gingen an ausländische Investor:innen. Während im Westen die Erbschaften fließen, gehen die meisten Ostdeutschen leer aus. Nur 7 Prozent erben mehr als 100.000 Euro, im Westen sind es dreimal so viele. Noch immer verdienen ostdeutsche Arbeitnehmer:innen pro Jahr etwa 5.000 Euro weniger als im Westen – aber arbeiten 56 Stunden mehr. Und nur etwa 10 Prozent der Führungskräfte kommen nach einer Studie der Universität Leipzig aus Ostdeutschland – bei 20 Prozent Bevölkerungsanteil. Stein: „Diese strukturellen Schieflagen müssen wir benennen, wenn wir etwas verändern wollen.“

2021 hat die Inititative daher „Wir sind Politik“ gestartet. Wer trägt die ostdeutsche Perspektive in die Parlamente, bewegt etwas für die Menschen? Hundert Politiker:innen zeigten vor der Bundestagswahl Gesicht auf der Website. Vom Linken Philipp Rubach bis zu CDU-Frau Lilli Fischer.

Bei all dem steht für Melanie Stein eines im Zentrum: konstruktiv gestalten, das Positive zeigen. Statt den Osten als Defizitkategorie zu sehen, sein Potenzial entblättern: etwa die „Transformationskompetenz“. Wer, wenn nicht Ostdeutsche, hat so viele Erfahrungen mit Umwälzungen, wie sie mit der Klimakrise nun auf uns zukommen? Oder die Gründungspower in den östlichen Bundesländern. Die engagierten Demokrat:innen in der Zivilgesellschaft. Die gewachsene „Reparaturkultur“. Besser reparieren, als neu kaufen. „Warum erfinden wir funky Begriffe wie DIY, statt uns zu besinnen: Hey, das haben wir längst.“

Seit Gründung der Initiative gab es dutzendweise Medienberichte, Auszeichnungen wie den Preis der Deutschen Einheit 2020. Fördermittel fließen. Zur Unterstützung des ehrenamtlichen Teams werden für die Büros in Leipzig und Berlin nun neue Leute eingestellt. Und längst machen auch Westdeutsche mit. Unter „Rübergemacht“ erzählen sie, wie sie eine neue Heimat im Osten gefunden haben. Neuerdings fragen sogar Westdeutsche an, die gar nicht in den östlichen Bundesländern leben: Können wir euch unterstützen? Na klar, sagt Stein. Die kritische Auseinandersetzung mit den Privilegien des Westens ist für sie der nächste Schritt. „Critical Westdeutschness“ nennt sie das, abgeleitet von dem Begriff aus der Antirassismus-Bewegung „Critical Whiteness“: „Wenn sie gelingt, haben wir beides: selbstbewusstere Ostdeutsche und selbstkritischere Westdeutsche, eine gute Basis für eine diverse, gemeinsame Zukunft.“

Stein muss los. Die nächste Aktion planen – Diskussionen zur Gründungslust in den Regionen: „The future is east.“ 

Bild: Romy Geßner

Die Journalistin Melanie Stein hat die Nase voll von dem undifferenzierten und negativen Blick der Medien auf die ostdeutsche Mehrheit. Mit ihrer Initiative „Wir sind der Osten“ gibt sie Ostdeutschen eine eigene Stimme.

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