Eine kostenlose Fähre bringt Mensch und Rad auf die andere Seite des Flusses IJ, der den Bezirk Buiksloterham von der hübschen Altstadt trennt. Sie verbindet in nur fünf Minuten, was nicht so richtig zusammengehören will. Kalt und salzig weht der Wind durch das Industriegebiet, das einst für tot erklärt wurde.
In Buiksloterham standen eine Flugzeugfabrik, ein Labor von Shell, eine Werft und andere Produktionsstätten. Nach Insolvenzen und Umzügen hinterließen sie ein Ödland am Wasser, das an vielen Stellen verschmutzt war. Nun soll hier eines der ersten energiepositiven Arbeits- und Wohnviertel Europas entstehen: „Circular Buiksloterham“ ist die Vision einer Community, die ihren Energiebedarf aus erneuerbaren Quellen deckt, emissionsfrei unterwegs ist, keine Abfälle produziert, Entrepreneurship stimuliert und eine diverse, inklusive Kultur fördert.
Wie alles begann: Grassroot-Projekte
Im Osten von Buiksloterham, auf dem Eventgelände „de Ceuvel“, führt ein morscher Holzsteg vorbei an alten Hausbooten, aber nicht über Wasser, sondern Land. Unter den erhöhten Brettern arbeiten Rotes Straußgras, Ausdauernder Lolch und Rohr-Schwingel. Die Gräser nehmen Schadstoffe aus dem kontaminierten Boden auf und werden ihn in ein paar Jahren vollständig gereinigt haben. Das Terrain am Johan-van-Hasselt-Kanal umfasst ein Café und Büroräume in ausrangierten, kreativ bemalten Hausbooten. In deren recycelten Bäuchen proben Musiker:innen oder entwickeln Social Entrepreneurs neue Ideen in einem geschlossenen Kreislauf. Hier wird Regenwasser aufgefangen und Abwasser aufbereitet, wird der Energiebedarf mit Solarpanelen gedeckt, werden Lebensmittel per Aquaponik gezüchtet und Komposttoiletten getestet.
De Ceuvel ist Teil einer Graswurzelbewegung, die 2011 damit begann, dass die Gemeinde „nachhaltige Parzellen“ an Privatleute verkaufte. Unter ihnen war Frank Alsema. Der TV-Produzent lebte in einem Wohnwagen, während er online recycelte Baustoffe zusammensuchte und ein Zuhause daraus bastelte. „Die ersten in Buiksloterham waren alles Kreativschaffende, die sich ein eigenes Haus nicht wirklich leisten konnten, es sei denn, sie bauten es selbst“, sagt er. Auch „Schoonschip“ gründete sich hier: eine schwimmende Siedlung aus 46 Haushalten, die wie de Ceuvel über ein eigenes, klimaneutrales Solarenergie-, Wasser- und Abfallsystem verfügt. Künftig sollen die dezentralen Netze, die etwa in de Ceuvel und Schoonschip entstanden sind, in einem größeren, smarten Versorgungsnetz zusammenlaufen, das der ganzen Community ermöglichen wird, mit überschüssigen Erzeugnissen zu handeln. Um Bewohner:innen einzubinden, veranstaltet die Innovationsplattform „Amsterdam Smart City“ Workshops und Demo-Tage. Unterstützt wird das im Rahmen des EU-Programms Horizon 2020.
„Die Gemeinde lässt Wohnende mitentscheiden über umweltschonende Baumaterialien, Grünflächen, nachhaltige Sanitäranlagen und geteilte Mobilität“, sagt Stadträtin Marieke van Doorninck. Die Schoonschip-Gemeinschaft teilt sich etwa elektrische Autos und Fahrräder, die an einem zentralen Ort im Viertel geparkt sind. Weil eigene Einfahrten dadurch wegfallen, hat jede:r einen größeren Garten. Als stellvertretende Bürgermeisterin und Stadträtin für räumliche Entwicklung und Nachhaltigkeit steht die Grünen-Politikerin maßgeblich hinter Amsterdams progressivem Kurs. Sie sagt: „Amsterdam will eine Stadt werden, in der es keinen Abfall mehr gibt und alle Materialien wiederverwendet werden.“ Bis 2030 soll der Verbrauch primärer Rohstoffe um die Hälfte sinken und im Jahr 2050 schmutzige Geschichte sein.
Soziale Kreislaufwirtschaft: Das Donut-Modell
Um diesen Plan zu konkretisieren, hat sich ihr Team an Kate Raworth gewandt, Wirtschaftswissenschaftlerin an der Oxford University. 2012 beschrieb sie das zirkuläre Modell „Donut-Ökonomie“ und co-gründete den Thinktank Doughnut Economics Action Lab (DEAL). 2019 entwickelte DEAL ein praxisorientiertes City-Konzept, mit dem auch Philadelphia, Portland und Brüssel arbeiten. Künftig soll es auch eine Version geben, die auf Städte und Staaten im globalen Süden zugeschnitten ist. DEAL kooperiert unter anderem mit Initiativen in Indien, Bangladesh und Sambia.
Raworths Modell definiert neun planetare Belastungsgrenzen (äußerer Rand des Donuts), wie Luftverschmutzung und Artensterben, und verbindet diese mit menschlichen Grundbedürfnissen (innerer Rand), etwa soziale Gerechtigkeit und Wohnraum. Wie der Übergang in eine ökologisch und sozial nachhaltige Wirtschaft konkret gelingt, beantwortet das Konzept nicht. Im Gegenteil, es soll Fragen aufwerfen. „The doughnut isn’t starting [the transformation], it’s reflecting it“, sagte Raworth bei einem digitalen Podium mit van Doorninck, zwei Wochen nachdem sie ihre Zusammenarbeit im April 2020 publik machten. „Wir haben uns gefragt, welche Stadt wir nach der Krise sein wollen“, sagte die Stadträtin dort. „Die Kreislaufwirtschaft bietet Möglichkeiten, um uns von der Krise zu erholen, sie schafft zahlreiche Arbeitsplätze in den Bereichen Recycling, Upcycling und Reparatur“ und löse die Abhängigkeit von intransparenten, globalen Lieferketten.
Auf Holz bauen
Allerdings hat Amsterdam als Stadt eine begrenzte politische Wirkkraft. Nationale oder EU-weite Regelungen würden schneller etwas bewegen: höhere Steuern auf primäre Rohstoffe wie Erdöl oder Sand und eine Quote, wie viel recyceltes Plastik verarbeitet werden muss. Amsterdams City-Donut konzentriert sich auf die drei Wertschöpfungsketten „Lebensmittel und organische Abfälle“, „Konsumgüter“ und den Bausektor. Insbesondere im Bausektor „können wir sofort loslegen“, sagt Marieke van Doorninck.
Schon ab 2022 sollen sich alle Entwürfe für neue oder transformative Gebietsentwicklung an Kriterien der Kreislaufwirtschaft orientieren. Dabei geht es etwa um adaptives, also anpassungsfähiges Bauen, das die Lebensdauer von Gebäuden verlängert: Ein Wohnkomplex könne leicht in ein Bürogebäude verwandelt werden, und andersherum. Biobasierte Baustoffe wie Holz und recycelte Materialien sollen den Zementverbrauch reduzieren.
„Wir lernen, indem wir tun“, sagt van Doorninck. Rund 200 zirkuläre Pilotprojekte verteilen sich über die ganze Stadt. Ab 2023 müssen Neubauten und Arbeiten an der öffentlichen Infrastruktur zirkulär gedacht werden, ab 2025 Renovierungen. Um bestehende Häuser nachhaltiger zu gestalten, arbeite sie auch mit privaten Wohnungsunternehmen zusammen. Ziel sei es, jede:n einzelne:n dazu zu „verführen“, sich der Donut-Bewegung anzuschließen.
Wie nachhaltig und inklusiv ist die Kreislaufwirtschaft?
Am Ridderspoorweg schmückt ein älterer, bärtiger Mann singend alte Fahrräder mit neonfarbenen Kunstblumen. Das hat ihn stadtbekannt gemacht: Die Amsterdamer:innen nennen ihn „de bloemenman“, den Blumenmann, aber eigentlich heißt er Warren Gregory. Seine üppig beladenen Räder parkt er überall in der Stadt, um Bewohner:innen „aufzumuntern“. Er wohnt hier, in einem kleinen Fischerboot mit Blick auf Schoonschip und „Patch 22“ – einen schicken Wohnturm aus Holz und Glas. Gebäude wie dieses erinnern an die Hafencity in Hamburg, ein Luxus-Neubaugebiet an der Elbe. Lebt Gregory in zehn Jahren noch hier? Wird Buiksloterham ein inklusives Viertel?
In „Circular Buiksloterham 2034“ sollen 6.500 Menschen wohnen und weitere 8.000 arbeiten. Laut van Doorninck sind 40 Prozent des geplanten Wohnraums der regulierten „sozialen Miete“ gewidmet, weitere 40 Prozent der „mittelteuren Miete“ und 20 Prozent gehören dem freien Markt. Zum Vergleich: In der Hamburger Hafencity entstehen 7.500 Wohnungen, von denen 20 bis 25 Prozent städtisch gefördert werden. An der dramatischen Wohnungsnot in Amsterdam ändert das nichts: Jedes Jahr kommen etwa 11.000 neue Amsterdamer:innen dazu, fast 50.000 Wohnungen fehlen.
Problematisch ist laut der Wohnungsbaugesellschaft Alliantie auch, dass die städtische Bürokratie nicht mit den Zukunftsvisionen mithalten kann. Zum Beispiel bedeutet weniger Autoverkehr, wie es die Klimapolitik bis 2030 verlangt, weniger Parkplätze pro Neubau und mehr Carsharing. Entsprechende Gesetze gibt es aber noch nicht. Bauträger:innen, die wie van Doorninck „loslegen“ wollen, verunsichere das. Die Zeit ist knapp. Den Grundstein für Amsterdams Vision einer resilienten Community legten experimentelle Bottom-up-Projekte wie de Ceuvel und Schoonschip aber schon vor zehn Jahren. Die Fehler und Erfolge, die hier gleichermaßen gefeiert werden, prägen die zirkuläre Stadtplanung. Und zwar, so steht es auch am Eingang von de Ceuvel, „not by utopian visions, but by doing“.
Dieser Text ist Teil des Schwerpunkts „Kapitalismus hacken“ der Ausgabe 02/21.
Das Donut-Modell der britischen Ökonomin Kate Raworth zeigt die ökologischen und sozialen Belastungsgrenzen unseres Wirtschaftssystems – mit neun Umweltkrisen am äußeren und sozialen Bedürfnissen am inneren Rand. Wachstum müsse sich auf dem Donut abspielen, um keine Grenzen zu überschreiten.