Schwerpunkt: Ich denke, also bin ich

Verwandlung: Durch Kunst zum Tier

Kann Kunst mehr Empathie für Tiere erzeugen? Eine Reise durch Literatur, Installationen und Experimente.

An einem regnerischen Tag im Jahr 1834 spazierte die 14-jährige Engländerin Anna Sewell von der Schule nach Hause und verlor das Gleichgewicht. Sie erlitt Verletzungen an beiden Knöcheln, die so stümperhaft behandelt wurden, dass Sewell nie wieder ohne starke Schmerzen würde laufen können. So wurde sie von Pferden abhängig, die die Kutschen zogen, mithilfe derer sie sich fortan von A nach B bewegte – und entwickelte eine innige Beziehung zu den Tieren. Kurz vor ihrem Tod schrieb Sewell den Roman Black Beauty: Aus der Sicht eines schwarzen Hengstes beschreibt sie darin die Misshandlung von Pferden durch Menschen.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Romans waren in England und den Vereinigten Staaten mehr als eine Million Exemplare von Black Beauty im Umlauf. In England sorgte er für landesweite Empörung, woraufhin die für ein Pferd extrem schmerzhaften und im Buch ausführlich beschriebenen Aufsatzzügel – die eine höhere Kopfhaltung des Pferdes bewirken – abgeschafft und mehrere Gesetze zum besseren Schutz von Pferden erlassen wurden. Black Beauty gilt als eines der bedeutendsten Werke in der Geschichte des Aktivismus für Tierrechte, obwohl oder gerade weil es eine Fiktion ist. Das, was Sewells Buch so von anderen Werken abhob, war die Entscheidung, es aus der Sicht eines Tieres zu schreiben. Eine damals völlig neue Praxis.

Ein Weltbild, das statt dem Menschen (Anthropozentrismus) andere Tiere oder die Natur als Ganzes in den Mittelpunkt rückt, nennt man Zoozentrismus oder Biozentrismus. Aber kann ein biozentristisches Narrativ, wie bei Anna Sewell, durch den Perspektivwechsel wirklich langfristig zu mehr Empathie führen, oder war Black Beauty ein Einzelfall?

Black-Beauty-Autorin Anna Sewell (li.), ihr Roman wagte erstmals den Perspektivwechsel: die Welt aus der Sicht eines Tieres zu beschreiben (re.) Fotos: IMAGO / United Archives International / Gemini Collection

Der Forschungsstand zu dieser Frage ist mau.

In einer Studie des US-amerikanischen National Institute of Health aus dem Jahr 2016 taten sich ein Literaturtheoretiker, ein Psychologe und ein Biologe zusammen und wagten ein Experiment: Sie gaben einer Versuchsgruppe das Fragment eines unveröffentlichten Romans über die körperliche Misshandlung eines Tieres. Die Kontrollgruppe las ein ähnlich langes Fragment, das jedoch nichts mit Tieren zu tun hatte. Nach der Lektüre füllten alle Proband:innen einen Online-Fragebogen aus, in dem sieben von viel mehr Fragen unauffällig die Einstellung zum Tierschutz messen sollten. Es zeigte sich, dass sich die Versuchsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich mehr Gedanken über Tierschutz machte. „Dieses Ergebnis“, so die Studie, „deutet darauf hin, dass literarische Fiktion die Einstellung gegenüber anderen Tierarten beeinflussen kann.“

Keinen Artikel verpassen

Hol dir deine Dosis Inspiration – in unserem kostenlosen Newsletter.

In einem Artikel für das wissenschaftliche Journal Culture and Organization namens „Learning empathy through literature“ aus dem Jahr 2019 nennen die Verfasser eine andere Studie aus dem Jahr 2007, in der Proband:innen Fotos von ölverschmierten Vögeln gezeigt wurden. Wurde ein Teil der Teilnehmenden dazu aufgefordert, sich vorzustellen, wie der besudelte Vogel sich gerade fühlen möge, stieg das Niveau der Empathie stark an. Der Artikel zitiert auch den Pädagogen David Sobel, der schon 1996 in einem Buch über Ökophobie, also die Angst vor oder den mangelnden Respekt gegenüber der Natur, schrieb: „Wir müssen mit Empathie beginnen, zu Tieren werden, bevor wir sie retten können.“

DONALD DUCK, DIE ENTE ALS MENSCH

Natürlich kann ein Mensch nur sehr begrenzt über seine Vorstellungskraft zu einem (anderen) Tier werden: Wie mag die Welt aus seiner Perspektive aussehen, schmecken, sich anfühlen? Oft geht es bei der Darstellung von Tieren als Protagonisten und fühlenden Wesen in der Fiktion nur um die Projektion menschlicher Eigenschaften: Die Ente Donald Duck trägt einen Matrosenanzug und Robin Hood wird zum Fuchs, ansonsten verhalten sie sich genau wie Menschen. Tiere oder andere nichtmenschliche Lebensformen mit menschlichen Eigenschaften auszustatten oder solche auf sie zu projizieren, nennt man Anthropomorphismus. Bestes Beispiel hierfür sind die Fabeln. Sie nehmen keinen tierischen Standpunkt ein, sondern nutzen die Tiere, um menschliche Verhältnisse und Verhaltensweisen vorzuführen. Auch in George Orwells berühmtem dystopischem Roman Animal Farm (dt. Farm der Tiere) sprechen die Tiere nicht für sich, sondern dienen als Allegorie für den Stalinismus und eine totalitäre Herrschaft.

Der entscheidende Unterschied zwischen solchen Werken und Büchern wie Black Beauty ist, dass im letztgenannten zwar der menschliche Filter vorhanden ist, aber trotzdem versucht wird, das konkrete Erleben und Leiden eines Tieres so zu beschreiben, dass man beim Lesen den tierischen Blick auf die Menschen und ihre Verbrechen an anderen Kreaturen einnimmt. Black Beauty weist jedoch immer noch starke Elemente der Vermenschlichung auf. Spätere Literatur geht einen Schritt weiter und versucht, die Unterschiedlichkeit von Tieren und Menschen und die Verstörung von Tieren durch menschliche Verbrechen zu zeigen.

Das wohl berühmteste Beispiel dafür wurde knapp 100 Jahre nach Black Beauty veröffentlicht, nämlich Watership Down (dt. Unten am Fluss), ein Roman des Engländers Richard Adams. Das Buch, das aus der Sicht von Wildkaninchen erzählt wird, geht nicht nur auf ihre konkreten Körpermerkmale, Sinne und den Menschen fremden Lebensweisen ein, sondern erzählt auch von der menschlichen Zerstörung ihrer Reviere. Die Heimat der Hauptfiguren Hazel und Fiver wird durch Chemikalien und die Errichtung von Gebäuden vernichtet. Später kommen sie auf der Suche nach einer neuen Heimat in eine scheinbar wunderschöne Region, in der melancholische Kaninchen leben, die ihre komplette Lebenslust und Identität verloren haben, weil sie sich auf einen schrecklichen Pakt mit den Menschen eingelassen haben: Der Mensch pflegt das Gehege und sorgt für Futter, dafür werden aber regelmäßig einzelne Kaninchen in Fallen getötet.

Hol dir dein Abo!

Wir sind eine unabhängige Redaktion. Wir finanzieren uns über Abos. Mehr als 5.000 treue Leser:innen machen dieses Heft möglich – DANKESCHÖN.

  • 4 Ausgaben / Jahr
  • Abos schon ab 3 € / Monat

Über eine bloße Erzählung hinaus gehen zeitgenössische Künstler:innen wie der Argentinier Tomás Saraceno. Er will nicht nur für die Perspektive von in unserer Kultur als besonders „edel“ geltenden Tieren wie Pferden oder besonders „niedlichen“ Tieren wie Kaninchen werben, sondern für eine bei Menschen besonders verhasste Art: die Spinnen. Sie sind ein Beispiel dafür, wie Geschichten auch eine Lobby gegen bestimmte Tiere schaffen können. Gerade durch Erzählungen und Horrorfilme wurden Spinnen, ähnlich wie Wölfe und Schlangen, im Westen zum Symbol von Heimtücke und des Bösen. Das zieht sich bis heute durch, ob bei der Spinne Thekla in Biene Maja oder der Spinne Aragog in Harry Potter.

MIT SPINNEN SPRECHEN

Saraceno, der zugleich Architekt, Naturforscher und Künstler ist, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, durch Übersetzung und Visualisierung eine Beziehung zwischen Menschen und Spinnen herzustellen. Sie basiert auf Anerkennung der Andersartigkeit und nicht auf der Projektion menschlicher Werte als überlegener Lebensweise. In seinem Berliner Atelier gibt er den Spinnen die Freiheit, riesige Netze zu weben, und untersucht diese zusammen mit Arachnolog:innen. Er erforscht dabei nicht nur die hohe Ingenieurskunst der Spinnen, sondern vor allem ihre Sprache und Wahrnehmung: Diese kommt durch Vibrationen zustande, da Spinnen praktisch blind sind. Diese Vibrationen misst Saraceno und verwandelt sie in für Menschen hörbare Frequenzen, die man in seinen begehbaren, riesigen Installationen hören kann, in denen Menschen selbst mit Fäden und Spinnen interagieren können.

Spinnenwebengeflecht – Installation Spider von  Tomas Saraceno  Foto: IMAGO / Pond5 Images

Auf seiner englischen Website Arachnophilia.net klärt er über die Bedeutung von Spinnen für unser Ökosystem auf und bietet zahlreiche Wege an, mit ihnen in Kontakt zu treten und so die Angst vor ihnen zu überwinden. Dabei gibt er auch indigenen Gemeinschaften eine Plattform, deren Kultur oft wesentlich biozentrischer ist als die westliche. So kann man die Website zum Beispiel nutzen, um am Spinnen-Orakel der Mambila in Kamerun teil- zunehmen. Dort werden Spinnen-Weissagungen in wichtige Entscheidungen für das Leben in der Gemeinde einbezogen.

Die Perspektive der Tiere erfahrbar machen wollen auch der schweizer Soundkünstler Ludwig Bergerrund der spanische Biologe Juan José López. 2023 präsentierten sie auf dem audiovisuellen Festival „Klang Moor Schopfe“ in Südtirol eine begehbare Installation: Auf Yogamatten konnten sich Besucher:innen mithilfe von Lasermikrofonen und speziellen Kopfhörern Geräuschen wie Klopfen, Pfeifen und Vibrieren von zwanzig Insektenarten einer nahen Wiese aussetzen, die sonst vom Menschen unbemerkt über mechanische Wellen kommunizieren. Entspannt auf der Yogamatte sollten die Zuhörer:innen so selbst zum Insekt werden.

Die Autorin von Black Beauty starb nur wenige Monate nach dem Erscheinen ihres Buches. Darin schrieb sie: „Sie können uns nicht sagen, was sie fühlen, aber sie leiden nicht weniger, weil sie keine Worte haben.“

Foto: Good Impact

Vom Leid des schwarzen Hengstes: In Black Beauty schlüpft Autorin Anna Sewell in die Haut eines Pferdes.

Weiterlesen