Inklusionshotel am Großen Eutiner See

Zu Gast in der Seeloge

Mitten in der Holsteinischen Schweiz hat im Sommer 2022 ein besonderes Hotel eröffnet: 40 Prozent der Mitarbeiter:innen haben eine Beeinträchtigung – und der Betrieb in Eutin läuft bestens.

„Hier gibt’s keine Mücken“, ein Gesprächsfetzen zieht wie ein Luftzug über die voll besetzte Seeterrasse. Der Golden Retriever am Nebentisch hebt kurz den Kopf, dann legt er ihn wieder auf die Vorderläufe. Ein lauer Sonntagabend im Juli. Die 2016 zur Landesgartenschau aufgehübschte Stadtbucht mit Promenade in Eutin am gleichnamigen See liegt unspektakulär da. Es ist auch nach 20 Uhr noch warm. Im Naturpark Holsteinische Schweiz, etwa 35 Kilometer von der Ostsee entfernt, kam das bislang nicht oft vor. Jetzt wird die Klimakrise spürbar. Während das Abendlicht mit der Schlossfassade kuschelt, flanieren Spaziergänger:innen, Familien, Pärchen über die Promenade, zwischendrin E-Bikes im Schritttempo. Eutins Seeufer mit Grün, Holzbohlen, Bänken und viel Wasser ist selbst in der Hochsaison unaufgeregt verpennt.

Vanessa Korth kommt an den Tisch, räumt die Überbleibsel der vorherigen Rosé-Trinker:innen weg. „Ich bin schwerhörig und lese von Ihren Lippen. Es wäre toll, wenn Sie deutlicher und etwas langsamer sprechen.“ Klar, kein Thema. Die Bestellung ist schnell aufgegeben, Fisch und vegetarisch. Die Gerichte sind frisch und smart angerichtet. Nur der Holsteiner Käse ist schon aus. Dafür gibt’s eine improvisierte Salatkreation. Kein langes Warten. Das Team hat alles im Griff. Freundlich, pragmatisch und fix. Am 1. Juli hat das Hotel und Restaurant Seeloge eröffnet.

Die Seeloge: Ein Inklusionsbetrieb

In dem 17.000-Einwohner:innen-Städtchen gab es das zuvor in dieser Form nicht. In Eutin und in der gesamten Kur- und Urlaubsregion Holsteinische Schweiz gibt es ohnehin mehr Campingplätze, Ferienwohnungen und Pensionen als Hotels. Wo früher das „Haus des Gastes“ stand, ist nun ein freundlicher, dunkelrot-violett geklinkerter Backsteinbau – mit viel hellem Holz, Glas und ausladenden Balkonen. Gebaut wurde ab März 2020 nach einem Bürger:innenentscheid, der gegen eine Sanierung des Alten und für etwas Neues, Zukunftsfähiges ausfiel. Inklusive Grundstück hat das 11 Millionen Euro gekostet.

Die Seeloge ist ein Inklusionsbetrieb. Was das genau heißt, ist im Sozialgesetzbuch IX unter den Paragrafen 215 bis 218 geregelt. Kurz zusammengefasst: Mindestens 30 Prozent der Menschen, die in einem Inklusionsbetrieb arbeiten, haben eine schwere Beeinträchtigung. Sie können und wollen arbeiten, finden aber aufgrund ihrer Beeinträchtigung woanders nur sehr schwer einen Job.

40 Prozent der Mitarbeiter:innen haben eine Beeinträchtigung

„In der Seeloge sind sogar 40 Prozent der 27 Vollzeitstellen entsprechend besetzt“, erklärt Hoteldirektor Bosse Willenberg ein paar Tage zuvor im nahezu leeren, skandinavisch anmutenden Restaurant. Viele im Team seien zudem Quereinsteiger:innen. Der unaufgeregte Mittzwanziger kommt aus der klassischen Hotellerie. Willenberg hat bei der innovativen Kette Upstalsboom aus Emden gelernt, die 70 Hotels und Ferienwohnungen an Ost- und Nordsee betreibt, er ist in der Region aufgewachsen. Im August 2021 wechselte er zur Ostholsteiner Dienstleistungs GmbH in Eutin, die neben der Seeloge noch ein Programmkino und ein Café́ im etwa 25 Kilometer entfernten Oldenburg in Holstein betreibt. Auch ein Hausmeister- und Reinigungsservice, Garten- und Landschaftsbau sowie Naturschutzdienstleistungen gehören dazu. Insgesamt 150 Menschen arbeiten für die GmbH.

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Bundesweit gibt es 975 Inklusionsbetriebe mit 30.000 Angestellten, 13.590 von ihnen haben eine schwere Behinderung, zu 54 Prozent ist diese seelischer oder geistiger Art, soweit die aktuellen Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen. Die Unternehmen stellen in der Regel unbefristet an und bezahlen nach Tarif. Sie sorgen für Sichtbarkeit. Sie zeigen, dass Menschen mit und ohne Behinderungen zügig und zufrieden zusammenarbeiten.

Klare Abläufe und Routinen sind wichtig

Wenn man Hoteldirektor Bosse Willenberg fragt, was dafür entscheidend ist, klingt die Antwort verblüffend einfach: „Persönlichkeiten müssen zusammenpassen, es braucht klare Abläufe und Routinen.“ Willenberg ist jemand, der Wichtiges gerne in Nebensätze schiebt. Er hat einen festen Händedruck und sagt später nebenbei, dass man natürlich wirtschaftlich arbeiten müsse, aber das Hotellerie-Erfolgsdogma, „am besten immer Vollauslastung“, mache hier, und generell, keinen Sinn. Alle bräuchten Pausen. Gäst:innen und Mitarbeiter:innen gleichermaßen.

Florian Ackermann trägt Brille, Bart und spürbar stolz eine schwarze Küchen-Uniform. Der 28-Jährige ist Beikoch. Er arbeitet genau zu, kümmert sich um Salate, Menükomponenten und Vorspeisen, aber auch um den Abwasch. Er hat ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, kurz: ADS. Ackermann ist sehr motiviert – und ein eloquenter Erzähler. Minutiös und lebendig erläutert er seine Schul- und Lehrlaufbahn.

Alternative zu den Werkstätten

Die Begeisterung für die Küche habe sein Vater geweckt. „Er war erst Matrose, dann Schiffskoch, und wenn er nach Hause kam, haben wir oft zusammen am Herd losgelegt.“ Ackermann hat eine Ausbildung zum Beikoch gemacht und vor Eutin immer wieder in Werkstätten für Menschen mit Behinderung gearbeitet. Doch da fühlte er sich unterfordert. Jetzt ist er als Beikoch in der Seeloge im Rahmen einer „integrativen Maßnahme“ angestellt. Seine Stelle steht nicht im Plan. Läuft es gut, wird er übernommen.

In den Werkstätten Schleswig-Holsteins verdienen die Beschäftigen mit Beeinträchtigungen im Schnitt nur 180 Euro, die meisten bekommen deswegen existenzsichernde Sozialleistungen. Auch der gemeinnützige und alleinige Gesellschafter des Seeloge-Betreibers, die „Sozial-rehabilitative Dienstleistungen – Die Ostholsteiner gGmbH“, unterhält einige. Dort arbeiten mehr als 600 Menschen mit Beeinträchtigungen. Sichtbar gesellschaftlich integriert wie in den knapp zwanzig Inklusionsbetrieben des Bundeslandes sind sie meistens nicht.

Auch bei Good Impact: Alte Äpfel, neue Arbeit, gelungene Inklusion

Auch Jorge Schönherr, 26, war lange für Kund:innen unsichtbar. „Mal hier und da eine Mail, wenn überhaupt“, sagt der gelernte Fachpraktiker für Bürokommunikation. Schönherr ist durch eine dauerhafte spastische Lähmung nicht ganz so schnell wie andere. Er hat über fünf Jahre für einen großen Tierfutterhändler gearbeitet, ausschließlich vor dem Rechner, nur im Büro. Dabei mag er Menschen ziemlich gern, spricht am liebsten „von Angesicht zu Angesicht “. In der Seeloge sitzt er nun als einer der Quereinsteiger am Empfang, begrüßt, telefoniert. Wenn er etwas nicht weiß, fragt er die, die es wissen – und meldet sich zurück. Prompt ruft eine Frau an. Ob das Hotel Spritzen kühlen könne? Die brauche sie wegen ihrer Krankheit. Kurze Rücksprache mit Hoteldirektor Willenberg. „Ja, können wir.“ Buchung bestätigt.

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Barrierefreiheit für alle

Gebucht haben auch Petra Zoz und ihr Mann. Sie sind am Vorabend spät aus Rüsselsheim angereist. „Prima Betten, wir haben sehr gut geschlafen“, sagt die Rollstuhlfahrerin. Sie wohnen in einem der vier speziell ausgestatten „Rolli plus“-Zimmer. Insgesamt gibt es 44, zwischen 15 bis 22 Quadratmeter groß, die meisten zur Seeseite. Je nach Saison kosten sie zwischen 90 und 164 Euro die Nacht. Man müsse, wenn irgendwo „barrierefrei“ stehe, genau hin- schauen, so Zoz. „Es gibt viele Rollstuhlarten und -größen, nicht jeder Rolli, wie meiner mit E-Motor, passt in jedes Zimmer.“ Sie schmunzelt. „Aber hier ist alles schön gelöst.“ Die Räume hell und schlicht, „schwellenlos und reizarm“, Türgriffe niedrig. Alles lässt sich mit dem Fahrstuhl erreichen, auch im Brandfall funktioniert er lange weiter. Für den Notfall gibt es Evakuierungsstühle im Treppenhaus. „Das habe ich so noch nie gesehen, finde ich super“, sagt ihr Mann.

Wenig später sitzt Gabi Schumacher im Restaurant. Sie ist die Chefin in der Küche und hat bis zur Vorbereitung des Mittagessens noch ein bisschen Zeit. Die 35-Jährige trägt fröhliche Tattoos auf den Unterarmen, ist offen und zupackend. Ihre Lehre als Jugendliche war „schön und hart“, danach hat sie ihr Abi nachgeholt. Schumacher war später lange Küchenchefin in einem Landgasthof in Niedersachsen. Früh viel Verantwortung, viel Output, aber auch Dauerstress und kaum freie Wochenenden. Als die Akkus leer waren, „habe ich zu einem privaten Bildungsträger gewechselt und Menschen mit Lernbeeinträchtigungen zu Beiköchen ausgebildet“.

Doch dann wollte sie „zurück in die Küche“. Auch, weil „ich alles mitgestalten konnte“. Heute kümmert sich Schumacher mit ihren sechs Mitarbeiter:innen – drei haben eine Behinderung – um Frühstück, Mittagstisch, Kuchen und Abendessen. „90 Prozent der Produkte kommen aus der Region.“ Wie die mit Kräuterfrischkäse gefüllte Hähnchenbrust mit Gersten-Tomaten-Risotto. Kostenpunkt: 12,50 Euro. Die Karte ist übersichtlich, die Preise sind fair.

Ist irgendetwas anders in der Eutiner Küche verglichen mit früheren Stationen? „Wie überall haben wir Leistungsträger:innen und Kolleg:innen, die gut mitlaufen, gibt es Probleme, besprechen wir ganz alles offen“, sagt Gabi Schumacher und muss lachen. Florian Ackermann hat sich Der junge Koch bestellt, ein Standardwerk. Sie freut sich: „Sobald Zeit ist, probieren wir zusammen neue Gerichte aus.“

Bild: Jan Scheper

Hektisch wird es in der Lobby selten – und das stört auch niemanden.

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