Kolumne Mein erstes Mal

Wie Singen am frühen Morgen glücklich macht

Wie wäre es, morgens gemeinsam zu singen? Das tut gut und macht eine starke Stimme. Eine Berliner Gesangsschule bietet es an. Unsere Redakteurin Anja Dilk war dabei.

Der Weg führt durch Berlin, das an diesem frühen Sommermorgen aussieht wie Bielefeld an einem kühlen Oktobertag. Bioladen zu, Schreibwarenladen zu, Tommis Burger Joint zu, nur in der Bäckerei stehen Menschen Schlange. Vor dem Stadtteilzentrum am Teutoburger Platz schließen zwei Frauen ihre Räder ab, ein Typ mit Fünftagebart schlendert herbei. „Hi“, murmele ich. Dösen, warten, zum Sprechen ist es für mich noch etwas früh. „Hallooo“, ruft Elsa und öffnet das braune Tor zum Stadtteilzentrum. „Schön, dass ihr mitmacht beim Earlybird Singing.“

Singen morgens um 8.30 Uhr. Wer kommt auf so was? Ich bin neugierig und deshalb heute dabei. „Wir wollen, dass die Menschen glücklich in den Tag starten“, sagt Elsa Grégoire. „Das geht mit lockerem, freiem Singen besonders gut.“ Elsa kommt aus Belgien, ist Gesangslehrerin und seit sechs Jahren Teil des Teams der Berliner Gesangsschule Sing dich glücklich. Singen ohne Leistungsdruck, als Glückstrigger und Achtsamkeitsübung, mal nachmittags, mal abends, mal so früh wie heute. Vorkenntnisse nicht nötig, achtzehn Euro kostet die Stunde. „Singen gibt Energie und du tust etwas für dich selbst“, sagt Elsa. Eine kleine Auszeit zwischen Morgenroutine daheim und Arbeitsbeginn. Wer am Tagesanfang die Stimmbänder singend warmläuft, soll danach im Job und überhaupt besser rüberkommen. „Eine tragfähige Stimme ist nicht nur attraktiv, sondern auch durchsetzungsstark und überzeugend“, verspricht die Kursankündigung auf der Website. Oha.

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Im Spiegelsaal des Stadtteilzentrums knarren die Dielen. An der Wand lehnt ein weißes Klavier, im Garten trällern Vögel. Isabel, Lily, Julia, Nikola, Julian, Elsa und ich stellen uns in einen Kreis. „Wir singen uns erst warm“, sagt Elsa: „Lala, Laalalaaaa.“ „Lala, Laalalaaaa“, echoen wir. Ups, die Stimmbänder fühlen sich an wie poröses Gummi, das über kleine Widerstände huckelt. „Wir führen die Arme hoch und runter.“ „Laaa la, laaa la.“ Augen schließen. „La lala, lalala.“ Das Gummi im Hals wird geschmeidiger, die Spannung löst sich. Wie schnell das geht. Schon cool.

Vielleicht ist es die Mischung aus Gemeinschaftsgefühl und leichter Zugänglichkeit, die Singen so besonders macht. Die Stimme, das universelle Instrument. Jeder Mensch kann singen, irgendwie, es braucht keine jahrelange Übung wie beim Klavier oder Cello. Und herrlich fühlt sich Singen in Gemeinschaft an. Unvergessen, wie Italiener:innen im Lockdown Opernarien von den Balkonen schmetterten, wie sich weltweit Chöre zu digitalen Konzerten zusammenschlossen. Jetzt sind Mitsingkonzerte Trend, die Tournee der Gruppe Sing de la Sing etwa Wochen im Voraus ausverkauft. „Die Leute haben genug von Zoom“, sagt Elsa. Sie dürsten nach dem Live-Erlebnis, das während Corona wegen hoher Infektionsgefahr beim Singen kaum möglich war. „Singen ist eben ein menschliches Grundbedürfnis.“

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Wir sind warm. Zeit für die Polyphonie, Mehrstimmigkeit. In Zweierteams eingeteilt, stapfen wir mit unseren Füßen den Rhythmus. Elsa ist „chef d’orchestre“ und gibt jedem Duo eine Sequenz vor. „Laa, laa, tam, tam.“ „Hula, hulaa- laa.“ „Tam, tamtam, daaa, dada.“ „Ihr müsst nicht perfekt sein“, ruft sie in den anschwellenden Klangteppich hinein. „Lasst euch fallen, bewegt euch zum Rhythmus.“ Ich bin ein Team mit Julian, wir lassen die Körper schwanken im Fluss des Sounds. Die Polyphonie aller schwillt zu einem Chor zusammen. Leiser, lauter, leiser, lauter. Der Mut wächst, eine kleine Euphorie beflügelt mich. „Das klappt ja super, wer mag jetzt der chef d’orchestre sein?“, fragt Elsa. Blick auf die Schuhspitzen. Bis sich Nikola traut.

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Nikola war als Einzige schon häufiger beim Earlybird Singen. „Es ist jedes Mal eine Mutprobe.“ Du kannst nicht Singen, hat sie als Kind immer wieder gehört. „Ich will das endlich überwinden, denn ich liebe Musik.“ Früh raus ist zwar nicht ihr Ding. „Aber in der lockeren Atmosphäre traue ich mich – und singe den Vormittag noch vor mich hin.“ Julian geht es nicht viel anders. Er liebt Gesang, schaut sich Chöre auf YouTube an. Selbst in der Öffentlichkeit loslegen? Bloß nicht. „Hier fühle ich mich sicher und voller Energie, das ist besser als Yoga in der Früh.“

Zum Abschluss lernen wir ein bulgarisches Lied. Ich erinnere mich später an keine Zeile vom Text, aber umso mehr an das Gefühl: Es ist, als folgten wir Elsa durch ein rhythmisches Labyrinth der Töne. „Ihr wart toll. Das war’s für heute“, sagt Elsa. Schon? Wie im Flug sind die 45 Minuten vergangen. Ich bin hellwach, meine Stimme klingt tatsächlich irgendwie satter, frischer. Die Sonne scheint auf die Dielen, die Vögel im Garten trällern immer noch. Beflügelt schwinge ich mich aufs Rad und fahre singend meinem nächsten Interview entgegen. Ab September sind feste Earlybird-Gruppen geplant. Vielleicht mache ich mit. Andererseits: Es ist schon verdammt früh.

Ryk Naves/Unsplash

Earlybird Singing: Zu einer Berliner Gesangsschule kommen Menschen vor ihrem Arbeitstag.

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