Regierungswechsel in Polen

Tschüss, Rechtspopulismus

Zwei Monate nach der Parlamentswahl kommt es in Polen nun endlich zum Regierungswechsel. Mateusz Morawiecki musste gestern das Feld räumen, Donald Tusk wird morgen früh, am 13.12., als Premierminister vereidigt. Sein links-liberales Bündnis will Polen wieder in eine liberale Demokratie und einen Rechtsstaat verwandeln. Doch das wird ein harter Weg. Wie hart, verrät der Blick zurück auf die letzten Wochen.

Eine grauer Rauschebart hat eine große EU-Flagge an seinem Rennrad befestigt und kurvt damit vor dem Wahllokal herum. Seine Stimme hat der ältere Herr schon lange abgegeben,und dies nicht für die Regierungspartei, so viel ist klar. „Nicht drängeln, alle kommen dran und können die Spinner abwählen“, murmelt derweil eine junge Frau in der langen Menschenschlange. Sehr viele Jungbürger:innen stehen an kurz vor Mittag, solch ein Gedränge vor den Wahllokalen 69, 70 und 71 im Posener IT-Technikum hat niemand der Wartenden bisher erlebt. Das Schlangestehen ist unübersichtlich, denn zwei Stränge winden sich bald links denSchulfluren entlang, während das rechts liegende Wahllokal Nr. 71 nur geringes Aufkommen hat. Doch niemand klagt. „Das sieht gut aus, ich denke, wir kriegen die Kaczynski-Anhänger weg von ihren fetten Pfründen“, sagt ein Medizinstudent, der in den umliegenden Wohnblocks in einer WG lebt.

An diesem Tag, dem 15. Oktober 2023, wählen die Menschen Polens nicht nur ihr neues Parlament, sondern können an einem Referendum über Migration, Rentenalter und Privatisierung teilnehmen. Ausgeschrieben wurde es von der rechts-populistischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Doch nach rund einer Stunde Wartezeit bei den Urnen angekommen, nimmt nur etwa jede:r Zehnte die Unterlagen für die Volksbefragung im Stil von Viktor Orbán entgegen. Wegen der enthaltenen, abstoßend xenophoben Suggestiv-Fragen hatte die demokratische Opposition zum Boykott aufgerufen. Mit Erfolg.

Polens Zivilgesellschaft mag nach acht PiS-Regierungsjahren nach außen oft machtlos gewirkt haben, zumal keiner der vielen Proteste gegen das Abtreibungsverbot, den Versuch, in Polen einen katholischen Gottesstaat zu errichten, oder die Knebelung der Justiz etwas gebracht zu haben schien. Doch in diesem brutalsten Wahlkampf nach der demokratischen Wende von 1989 hatte PiS die Schmerzgrenze der Pol:innen überschritten.

Das zeigt die Wahlbeteiligung: Sie lag dieses Jahr fast 13 Prozent höher als bei der vorigen Parlamentswahl von 2019. Mit 74,38 Prozent gingen so viele Pol:innen an die Urne wie seit 1989 nie mehr. In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen gingen gar 25 Prozent mehr Personen wählen.Gleichzeitig nahmen im Landesdurchschnitt nur 40Prozent am xenophoben PiS-Referendum teil, was jenes zum klaren Scheitern verurteilte, da mehr als die Hälfte der Pol:innen abstimmen muss, damit solch seltene Volksbefragungen gültig sind.

„Unter den Jungen entschied sich alles in den letzten zwei Wochen“, erzählt Miłosz Leon Fluckiger, ein erfolgreicher Influencer, der in Polen als „duzy chłopiec“ (großer Junge) von sich reden macht. Der fast Zwanzigjährige zeichnet im Gespräch in seiner Heimatstadt Warschau eine steile Mobilisierungslinie vom „Marsch der Millionen Herzen“ des Oppositionsführers Donald Tusk bis zum Wahltag selbst. Der Oppositionsmarsch sei noch von vielen Erstwähler:innen als „Transparenten-Schwingen der Grauhaarigen“ verlacht worden, so Fluckiger, der selbst auch nicht teilgenommen hatte. Gleichzeitig aber hätten immer mehr YouTuber:innen über die Wahlen gesprochen. „Es entstand eine Art Massenhysterie, plötzlich war es einfach angesagt, wählen zu gehen“, sagt Fluckiger, der sich mit seinen Videos an Kinder und Jugendliche richtet und bei TikTok 1,7 Millionen Follower:innen hat. „Statt über politische Inhalte und Parteien, diskutierten wir eher über Abstimmungstourismus, der Swing-Wahlkreise auf die Seite der Oppositiontreiben könnte.“ Dazu seien im Internet plötzlich sehr viele YouTube- und TikTok-Videos darüber publiziert worden, was die bei den Jungwähler:innen beliebte rechtsextreme Partei „Konföderation“ nebst den Niedrigsteuern noch verkörpere. „Aufklärungsvideos zeigten deren Frauen und LGBTQIA+ verachtenden Postulate und die Abwendung von unter Jungen beliebten Werten wie Toleranz und Meinungsfreiheit“, erzählt er.

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Ein Sieg auch für die EU

Bereits in der Wahlnacht zeichnete sich ab, dass ein Sieg der Opposition, bestehend aus Donald Tusks liberaler Bürgerplattform (PO), dem zentralistischen Bündnis „DritterWeg“ und der „Neuen Linken“ gelungen war. In Polen kommt es damit zur Zeitenwende: Die Umgestaltung Polens in eine illiberale Demokratie mit gleichgeschalteten Gerichten wurde an der Urne gerade noch mal abgewendet; JarosławKaczynskis autokratische Tendenzen gestoppt. Aus Polen wird endlich wieder ein vollwertiges Mitglied der EU, das die Beitrittsverträge nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt. Für Berlin bedeutet die Wende ein Ende der Eiszeit mit Warschau, ein Ende aller Gehässigkeiten und vermutlich auch ein Ende der milliardenschweren Reparationsforderungen für den Zweiten Weltkrieg.

Zwar ist PiS bei den Parlamentswahlen mit 35,4 Prozent der Stimmen (194 Sitze) weiterhin stärkste Kraft geworden – doch kommt sie nicht auf die absolute Mehrheit. Dafür fehlt ihr ein Koalitionspartner. Denn die „Konföderation“ eroberte nur 7,2 Prozent der Stimmen (18 Sitze), deutlich wenigerals erwartet. Die drei Oppositionsparteien ergatterten 248 Sitze (von 460) und könnten mit dieser Mehrheit im Sejm, Polens Kleiner Kammer, problemlos eine neue Regierung bilden. Allerdings benötigen sie dazu einen Regierungsbildungsauftrag des Staatspräsidenten. Andrzej Duda, der der PiS nahesteht, hat indes durchblicken lassen, dass eres nicht eilig hat und wohl wie üblich einen Regierungschefder stärksten Partei designiert, also PiS. Damit herrscht in Polen nach der Wahl ein Patt.

Seine Fristen wird der Staatspräsident maximal ausdehnen. Damit soll nicht nur ein geregelter Machttransfer, sondernauch möglichst viel Zeit für die allfällige Vernichtung von Akten gesichert werden. Denn die Opposition hatte fehlbaren Minister:innen und Beamt:innen im Wahlkampf Strafverfolgungen wegen Rechtsbeugung, Korruption und weiteren Vergehen angedroht. So kam es erst am 12./13. Dezember zum Machtwechsel.

Das Spiel auf Zeit von Duda und PiS hat die überschwängliche Stimmung vieler oppositionell gesinnter Kreise und die spontane Aufbruchstimmung gedrückt. Zu spüren ist das vor allem im Kultursektor. „Jetzt können wir wieder frei atmen!“, hieß es zunächst unter Künstler:innen. „Natürlich war ich erst unglaublich froh und habe mich über die Abwahl der PiS gefreut“, sagt eine einstige Theaterdirektorin, die beim PiS-Machtantritt 2015 ihre Stelle verloren hatte. „Doch inzwischen spüre ich keine Freudentränen mehr.“ Agnieszka Korytkowska hatte sich in den letzten acht Jahren dank Auffangnetzen im breiten, oft durchaus oppositionellen Spektrum der Privatuniversitäten auf eine akademische Karriere hin umorientiert und mehrere Drehbücher geschrieben. Von PiS als zu wenig patriotisch eingestuft, erfand sie sich also neu. Viele Kunstschaffende taten es ihr gleich, anderen half die Tatsache, dass Gemeinden und Städte in Polen weit mehr Kulturförderung betreiben als der Staat. Vor allem die größeren mit mehr als 100.000 Einwohner:innen waren stets liberal oder links regiert.

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Ein Konzert im Künstler:innen-Club SARP in Poznan. Schrille Klänge und Gelächter dringen aus dem Lokal am mittelalterlichen Marktplatz. Edition Redux tritt auf, eine US-Avantgarde-Jazzband. Natürlich sei fast alles besser als die rechts-nationalen und teils ultra-katholischen PiS-Apparatschiks im Kulturbereich, heißt es am Rande der Veranstaltung. „Endlich sind wir sie los, Kaczynski hat sich selbstins Knie gefickt!“, lacht einer der Organisator:innen. Was indes der klare Wahlsieg der neuen oppositionellen Dreierkoalition für den lokalen Kulturbetrieb bedeutet, vermag der Mittfünfziger nicht abzuschätzen.

Zu früh gefreut?

Der Würgegriff der PiS wird sich zuerst im Justizsystem lösen. Bisher gegängelte Richter:innen werden wieder freier und unabhängiger urteilen, denn sie haben nun weder Zwangsversetzungen noch Befangenheitsvorwürfe zu befürchten. Auch die Staatsanwälte werden freier agieren und vermutlich keine politisch motivierten Prozesse mehr anschieben. Allerdings gibt es zu bedenken, dass der rechts-konservative Staatspräsident Duda noch bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit im Sommer 2025 das Parlament trotz neuer links-liberaler Mehrheit behindern kann. So hat er während der ersten Sejm-Sitzung am 13. November angekündigt, von seinem Vetorechtimmer dann Gebrauch zu machen, wenn die „Errungenschaftenvon acht Jahren PiS-Regierung“ gefährdet würden. Um Dudas Veto zu überstimmen, bräuchte die Dreierkoalition 278 Stimmen, hat indes nur ihre 248. So werden Institutionen wie das Verfassungsgericht, Universitäten, Spitäler, Theater und Museen zum Teil erst mal fest in den institutionellen Klauen der PiS bleiben. Am leichtesten sei 2024 wohl die Befreiungdes staatlichen Fernsehens TVP und Radios Polskie Radio sowie der Presseagentur PAP, heißt es in Kreisen der Dreierkoalition. Hier könne schnell eine neue Direktion berufen werden. Die Staatssender werden damit nicht völlig entpolitisiert, aber bestimmt wieder deutlich pluralistischer.

Ein großes Aufatmen ging auch durch Polens LGBTQIA+-Community. Inzwischen ist vorsichtiger Optimismus angesagt. „Wir rechnen nicht mit einer Revolution – eingetragene gleichgeschlechtliche Ehen sind im Moment so ziemlich das Letzte, woran wir denken, denn wir müssen zuerst den Hassreden der letzten acht Jahre Herr werden“, sagt Julia Maciochavon der NGO Parada Równosci. Duda werde anderthalb Jahre lang noch alles blockieren, diese Zeit müsse man nutzen,um stattdessen vor allem Polens Jugend zur Toleranz zuerziehen. „Wir haben alle Statistiken, wir haben die gehäuften Selbstmordversuche* und Depressionen, das sind alles Personen, denen wir nun konkret helfen müssen, das ist das Wichtigste“, sagt die LGBTQIA+-Aktivistin. Auch das Abtreibungsrecht wird wohl erst ab 2025 liberalisiert werden können, denn die Rechts-Konservativen haben das Verfassungsgericht fest im Griff. Was aber schon jetzt schwindet, ist die lähmende Angst des medizinischen Personals in den Geburtsabteilungen polnischer Spitäler. Hier wurden unter der PiS-Herrschaft pränatale Untersuchungen schon gar nicht mehr durchgeführt, weil sie hätten zeigen können, dass das Leben der Mutter gefährdet und eine Abtreibung eigentlich zugelassen wäre. Diese Verantwortung wollte niemand übernehmen. In der Folgestarben immer wieder Frauen mitsamt ihren ungeborenen Kindern. Ist die links-liberale Koalition erst einmal an der Macht, kann sich vieles ändern, was heute als unverrückbar erscheint. Die PiS-Fraktion, so schien es in der ersten Parlamentssitzung, ist schon jetzt dabei, zu erodieren. Stützen zu wenige PiS-Abgeordnete die eigene Partei, könnte Dudas Veto nutzlos werden. Jüngere PiS-Abgeordnete dürften sich eine neue politische Heimat suchen. Und die Bürger:innen werden aufatmen und mit anpacken, um den Augiasstall der PiS radikal auszumisten.

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Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Blick in die Sejm, Polens Kleine Kammer, am 11. Dezember. Donald Tusk wurde von den Parlamentsmitgliedern zum neuen Premierminister gewählt.

Paul Flückiger, Warschau

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