So tun, als ob man mit jemandem telefonieren würde, Schlüssel zwischen die Finger klemmen, Pfefferspray in der Tasche haben. Wenn Frauen nachts allein unterwegs sind, führen sie oft jedes Mal aufs Neue Rituale durch, die ihre Sicherheit gewährleisten sollen. Jedes Geräusch, jede Bewegung, jeder Schatten kann bedrohlich sein. „Schreib mir, wenn du zu Hause bist“. Diese Nachricht ging Anfang März auf Instagram viral, nachdem Sarah Everard, eine 33-jährige Beraterin, in London eines Nachts auf dem Weg nach Hause verschwand. Ein paar Tage später wurde ihr lebloser Körper in einem Wald außerhalb der englischen Hauptstadt gefunden. Der Hauptverdächtige: ein Polizist. Durch Everards Tod bekam die Debatte um die Sicherheit von Frauen in der Öffentlichkeit weltweit erneute Aufmerksamkeit. Zehn Tage später löste die Polizei in London eine Demonstration gegen Femizide gewaltsam auf.
2020 führte Plan International, ein Netzwerk von NGOs, das sich für Kinderrechte und die Gleichstellung von Mädchen und Jungen einsetzt, in Deutschland eine Umfrage mit knapp 1.000 Teilnehmerinnen durch: Auf einer interaktiven Karte bewerteten diese von 1.267 markierten Orten in vier deutschen Großstädten 80 Prozent als unsicher, nur 20 Prozent galten ihnen als sicher.
Das liege vor allem daran, dass die Bedürfnisse von Frauen bei der Planung von Städten selten mitgedacht würden, so Mary Dellenbaugh-Losse. Sie ist freie Beraterin für soziale Inklusion und Gender-Partizipation in der Stadtplanung. Und es macht sie wütend, dass Städte immer noch nicht genug auf die Sicherheit von Frauen hin geplant werden.
Gendergerechte Stadtplanung: Geschäfte mit unterschiedlichen Öffnungszeiten
Wir treffen uns an der Warschauer Straße, einem Verkehrsknotenpunkt im Osten Berlins. Passant:innen strömen aus der S-Bahn, Fahrräder zischen an uns vorbei, die Messingglocke der Tram klingelt, im Hintergrund hört man das Tosen von Baustellen. Wir gehen durch die Max-Koch-Passage und betreten den dreckigen, verlassenen Warschauer Platz auf der anderen Seite der Schienen. Auf einmal ist es seltsam ruhig. Menschen sind hier kaum noch unterwegs. Unter den Gleisen befinden sich mehrere Clubs, die nur nachts geöffnet haben und aufgrund der Coronakrise immer noch geschlossen sind. Auf der linken Seite endet die Straße in einer Sackgasse hinter einer imposanten Brücke. Darunter ist es dunkel, man kann nicht sehen, ob sich jemand versteckt. Und könnte man hinter der Brücke hier irgendwie wieder rauskommen?
Außer einem Lidl gibt es in dieser Ecke keine Geschäfte, in denen man in einer brenzligen Situation Zuflucht suchen könnte. Belebte Straßen sind weit entfernt. Vor Kurzem wurden auf dem Areal alte Fabrikgebäude in Büroräume umgewandelt. Wegen der Pandemie stehen sie derzeit fast leer. „Der Mangel an Aktivität ist kein gutes Zeichen“, sagt Dellenbaugh-Losse. Da Büros nur tagsüber genutzt würden, sei diese Nutzungsform zwar wegen des Clublärms an der Warschauer sinnvoll. „Wenn man aber Hilfe braucht, hat man Pech. Und das hier ist alles neu gebaut!“, betont sie. „Es gibt nicht genug Frauen in der Stadtplanung und der Architekturbranche. Das ist ein riesiger blinder Fleck.“
Lebendigkeit sei der Schlüssel zu Sicherheit. „Das beste Merkmal einer guten Stadtplanung ist deshalb eine multitemporale Nutzung“, so die Beraterin. Man brauche einen Mix von Geschäften mit unterschiedlichen Öffnungszeiten, Bäckereien, Bars und Spätis etwa. „Leider kann diese Art von Geschäften mit geringer Gewinnspanne in Neubauquartieren nur schwer überleben.“
Wir kommen durch die Passage auf der anderen Seite der Gleise zurück und machen uns auf den Weg zur Warschauer Brücke. Von hier geht der Blick auf die East Side Mall bis zur Mercedes-Benz Arena. Die Büro-Wolkenkratzer, in denen sich zum Beispiel die Zalando-Zentrale befindet, sind durch eine lange Straße mit der Mall und dem Bahnhof verbunden. Auch hier sieht Dellenbaugh-Losse einige Fehlentscheidungen: „Es fehlen Eingänge zur Mall auf der Straßenseite, sie böten eine Fluchtmöglichkeit. Die Laternen sind auf die Straße, nicht auf den Gehweg gerichtet. Unter der Warschauer Brücke ist es dunkel: Die Lichter sind blau und schwach, um zu verhindern, dass Drogennutzer:innen eine Ader finden.“
Frauen nutzen öffentliche Infrastruktur öfter als Männer
Die Bedürfnisse von Frauen bildet die Stadtplanung kaum ab. Frauen gehen häufiger zu Fuß und benutzen mehr öffentliche Verkehrsmittel als Männer. Das zeigt eine Studie von 2019 von URBACT, einem europäischen Unterstützungsprogramm für nachhaltige Stadtentwicklung in Europa: Frauen legen 24 Prozent ihrer Strecken zu Fuß zurück, Männer nur 20 Prozent. Im Gegenzug benutzen Männer für die Hälfte ihrer Wege das Auto, Frauen sitzen nur bei 37 Prozent ihrer Wege hinter dem Steuer.
Wir laufen über die Brücke in Richtung des Skateparks „Dog Shit Spot“. Bleiben kurz an einem Zaun stehen. Entspannte Musik und das ewige Geräusch der Boards, wenn sie beim Landen den Beton treffen, erfüllt die Luft. Neben den 20 bis 25 Jungen skaten hier nur zwei Mädchen, drei andere Mädchen sitzen am Rand und schauen zu. „Die meisten Förderungen für Jugendliche im öffentlichen Raum gehen an Projekte, die traditionell männlich dominiert sind, wie Fußballplätze, Basketballplätze oder eben Skateparks“, erklärt Dellenbaugh- Losse. Auf der anderen Seite der Grünfläche begegnen wir später zwei jungen Mädchen, die alleine skaten. Sie seien nicht zufällig so weit abseits des Skateparks, so Dellenbaugh-Losse, oft suchten sich Mädchen eigene Räume. „Städte, die Geld in öffentliche Infrastrukturen investieren, sollten darauf achten, dass es Männern und Frauen, Jungen und Mädchen gleichermaßen zugutekommt. Natürlich kann man die Leute nicht zwingen, bestimmte Räume zu nutzen. Aber man darf bei der Gestaltung dieser Räume nicht geschlechtsblind sein.“ Das Geschlecht müsse Teil der „Nutzer:innengruppenanalyse“ sein, wie es in der Stadtplanung heißt.
Vorbild für gendergerechte Stadtplanung: Umeå in Schweden
Als Best-Practice-Beispiel nennt Dellenbaugh- Losse die Stadt Umeå in Nordschweden. „Die Stadt hat eine Studie durchgeführt, die zeigte, dass Mädchen etwa im Alter von 13, 14 Jahren aufhören, Schaukeln und Fußballplätze zu nutzen. Jungen besuchen sie, bis sie 18 oder älter sind.“ Das habe viel mit sozialen Normen zu tun und mit den Rollen, die wir Mädchen immer noch zuschreiben: Sie sollen lieber Betreuungsaufgaben übernehmen oder lernen, statt draußen herumzuhängen. Jungen dagegen würden ermutigt, „ihre ganze Energie draußen zu verbrauchen“.
In Umeå wurde daher die sogenannte Frizon („freie Zone“) geschaffen. Realisiert hat sie Tyrens, eine schwedische Beratungsfirma für nachhaltige Stadtplanungsprojekte, im Dialog mit jungen Einwohnerinnen der Stadt. Entstanden ist ein transparenter Ort der Entspannung, XXL-Hängesitze baumeln von der Decke, über verborgene Bluetooth-Speaker kann man Handymusik abspielen. Sowohl das Dach der Freizeitanlage als auch die Sitzgelegenheiten sind von oben stets angenehm beleuchtet, um auch abends und im Winter eine einladende und sichere Atmosphäre zu schaffen. Außerdem hat Umeå Tage eingeführt, an denen nur Mädchen auf den Fußballfeldern der Stadt trainieren dürfen. Zwar beschwerten sich einige Bürger:innen über die „unfaire Bevorzugung“, schließlich hätten Mädchen auch weniger Interesse an Fußball als Jungen. Doch die Maßnahme wurde zum „Eye-Opener“ für die Städter:innen: Denn plötzlich bekam der Freizeitfußball bei Mädchen Aufwind. Heute trainieren auf den Plätzen insgesamt fast genauso viele weibliche wie männliche Fußballspieler:innen.
Wir lassen den Berliner Skatepark hinter uns, um die Grünfläche anzuschauen, die zum Berghain-Club führt. Der Wriezener Park wurde in den vergangenen zwei Jahren in Zusammenarbeit mit Anwohner:innen vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg saniert. Die Büsche sind zurückgeschnitten, der offene Zaun zur Wohnstraße bietet eine gute Sicht. Die vielen Öffnungen zur Straße garantieren bei Bedarf einen einfachen Ausweg.
Dellenbaugh-Losse zeigt auf ein Areal links am Wegesrand: ein offener Gemeinschaftsgarten, in dem Krokusse und Narzissen blühen. Das GleisBeet ist ein geschlechtsneutrales und generationenübergreifendes Projekt der Naturfreunde Berlin. Jede Altersgruppe ist hier zu sehen: Die Menschen gehen spazieren, fahren Rad oder führen ihren Hund aus. Es gibt mehrere Sitzgelegenheiten, das frische grüne Gras ist auch schon besetzt. Man fühlt sich hier wohl.
Wir überqueren die Rüdersdorfer Straße und erreichen den kleinen, vollen Park am Comeniusplatz. Dort wurden vor ein paar Wochen öffentliche Toiletten installiert. Die Benutzung kostet 50 Cent. Auf der Parkseite, im hinteren Teil der Toiletten, stehen einige Pissoirs – sie sind kostenlos. „Auch das ist ein Beispiel für die Diskriminierung von Frauen“, sagt Dellenbaugh-Losse. Frauen müssen zahlen, Männer nicht. Zudem seien Frauen viel häufiger auf der Straße unterwegs, da sie meist den größten Teil der Einkäufe und der Sorgearbeit übernehmen. Laut dem Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von 2019 verrichten Frauen 53 Prozent mehr Pflegearbeit als Männer. Weil sie daher oft mit Kindern oder älteren Menschen draußen sind, benutzen sie auch häufiger öffentliche Toiletten. Kostenlose Toiletten für Frauen seien daher ein Muss.
Unsere letzte Station ist eine Straßenbahnhaltestelle in der Boxhagener Straße. Sie wurde vor ein paar Wochen umgebaut, der Bordstein auf Straßenbahnniveau angehoben. Wer schwere Einkaufstaschen trägt, einen Kinderwagen dabei hat oder im Rollstuhl unterwegs ist, kommt seitdem leichter vom Bordstein in die Tram. „Viele Menschen, denen ich begegne, haben Vorbehalte, wenn es um Gender-Themen geht: ,Ach komm, lass uns über Wichtigeres reden!‘“, sagt Dellenbaugh-Losse. „Aber sie erkennen eines nicht: Wenn wir Probleme beheben, die Frauen in der Stadt benachteiligen, profitieren wie hier alle davon – nicht nur Frauen.“
Städte sind voller bedrohlicher Ecken für Frauen wie etwa unter der Oberbaumbrücke in Berlin: Schwache Beleuchtung, keine Geschäfte, kaum Fluchtmöglichkeiten. Die Sicherheit von Frauen wird in der Stadtplanung selten mitgedacht.