Irakli Cholobargias Augen leuchten hinter der Hornbrille, wieder und wieder fährt er sich mit der Hand durch den dichten Bart. „Wenn du in Georgien in der Pubertät steckst, sagen wir wörtlich, du wirst wie Wein“, erzählt er. „Erst fermentierst du: Alles verändert sich und wird wild. Dann setzt es sich, und irgendwann bist du reif.“
Cholobargia hat ein paar befreundete Winzer:innen in die kleine Weinboutique in der Eristavi-Khoshtaria-Straße in Tiflis eingeladen, um seinen ersten selbst gekelterten Wein zu verkosten. Getauft hat er den hellroten Tropfen The Wet Dog. Er war das prätentiöse Gehabe auf Weinlabels leid. Als seine Freund:innen die Flasche mit dem blöd dreinblickenden Hund auf dem Etikett sehen, kichern sie. Cholobargia ist zwar noch nicht lange Winzer, aber alle, die in Georgien irgendetwas mit Wein zu tun haben, kennen ihn. Seit den 90ern orchestriert der charismatische Unternehmer die Renaissance der georgischen Weintradition.
Dessen Herz ist das Gefäß, in dem der Wein reift: der Qvevri, eine riesige, eiförmige Amphore aus Ton. Sie wird in dem Land am Fuße des Kaukasus seit 8.000 Jahren im Boden vergraben, um eine natürliche Fermentation durch die Wärme der Erde zu erreichen. Egal ob Georgien gerade von den Mongol:innen, dem Osmanischen Reich oder der Sowjetunion überfallen wurde: Alle Georgier:innen hatten hinter ihrem Haus ein paar Qvevris verbuddelt und machten darin ihren eigenen Wein – ohne die Zugabe von Zusatzstoffen. Die meisten Qvevri-Weine sind nicht rot oder weiß, sondern bernsteinfarben: Dieser Ton entsteht, weil bei den weißen Trauben die Stiele, Kerne und Schalen nicht entfernt werden. Die Qvevri-Weine können nach Quitte oder Aprikose schmecken, nach Mango, Orange, Kamille oder Walnuss.
Naturwein aus Georgien: Hunderte Reben wiederentdeckt
„Wein gehört in Georgien zur DNA“, sagt Cholobagia. „Aber durch die Sowjetzeit haben wir ein ganzes Jahrhundert verloren, das wir aufholen müssen.“ Von 5.000 Rebsorten weltweit kommen 500 aus Georgien. Aber bereits in den 50er-Jahren hatte die sowjetische Weinagentur Samtrest das georgische Portfolio auf nur 16 verschiedene Reben zusammengestampft. Das Land sollte Massen von billigem, süßem Rotwein für die Sowjetunion herstellen.
Als der Eiserne Vorhang fiel, wurde aus Samtrest die Nationale Weinagentur Georgiens, deren Marketing-Abteilung Cholobargia leitete. „Wir wollten die Biodiversität in Georgien und die Qualität des Weines wiederherstellen. Also haben wir angefangen, nach den verlorenen Reben im ganzen Land zu suchen. Sogar bis nach Kasachstan und Moldawien sind wir ihren Spuren gefolgt. Heute haben wir 437 von ihnen wiedergefunden.“ Den Ort, an dem die Reben aufbewahrt und archiviert werden, nennt Cholobargia „die Bibliothek der Weine“. Ein kleines Weingut, nicht weit von Tiflis entfernt, namens Jigaura. Alle Winzer:innen des Landes können sich dort kostenlos mit indigenen georgischen Reben eindecken, die sie dann bei sich zu Hause anbauen.
Eine, die dort fündig geworden ist, ist Tamuna Bidzinashvili. Die Winzerin sitzt mit am rustikalen Holztisch der Weinbar und präsentiert stolz ihr neues Baby: „Ich bin die erste Georgierin, der es gelungen ist, einen Qvevri-Wein aus schwarzen Rkatsiteli-Trauben aus Jigaura zu machen“, erzählt sie. Rkatsiteli ist in Georgien eigentlich nur noch als weiße Traube verbreitet. Black Rkatsiteli kann man jedoch nur kosten, wenn man Bidzinashvili persönlich kennt. Bis auf ein paar wenige letzte Flaschen hat sie alle 80 Flaschen, die existieren, ins Ausland verkauft, vor allem nach Kopenhagen.
Um zu verstehen, warum die besten Winzer:innen in Georgien ihre edelsten Tropfen fast nur noch in den Westen exportieren, muss man Tiflis verlassen und gen Osten fahren, an der alten Hauptstadt des Landes, Mzcheta, vorbei in die kargen Berge von Kartli. Hier ist die Heimat der Chinuri-Traube – und von Iago Bitarishvili, dem Mann, der Qvevri-Weine in Georgien wieder groß gemacht hat. Bitarishvili geht über die von Herbstlaub bedeckten Wege, die von den Qvevris im Garten zu seinem Weinkeller führen.
Handgemachter Wein, trockener Humor
„Im Westen Georgiens sind die Qvevris immer draußen, im Osten immer drinnen, wir sind in der Mitte, also machen wir beides.“ Der schmächtige 49-Jährige trägt praktische Kleidung, spricht langsam, bedacht und höflich – außer wenn zwischendurch sein trockener Humor durchbricht. Im Innern des Weingutes ist es warm und trocken, von den Qvevris, die vollständig in den Boden eingelassen sind, sieht man nur die gekachelten Tonränder. An den Wänden hängen Auszeichnungen und gerahmte Artikel über Bitarishvilis Weingut.
„Mein Vater und mein Großvater machten Wein, wie fast alle Georgier, aber nur für die Familie“, erzählt er. „Vor etwa zwanzig Jahren dachte Ich will versuchen, wirklich guten Naturwein herzustellen, ihn in Flaschen abfüllen und ihn verkaufen, damit ich davon leben kann.“ 2005 erhielt er das erste Zertifikat für Biowein in Georgien überhaupt. Aber der Markt, sagt er, war damals nicht bereit. Wenn so viele Menschen ihren eigenen Wein herstellen, ist es schwer einzusehen, warum man dafür Geld zahlen soll.
Diejenigen, die Wein für den Export in den ehemaligen Ostblock produzierten, panschten ein billiges Gebräu in riesigen Tanks, um möglichst große Profite zu erzielen. Also stellte Bitarishvili sich Weinhändler:innen im Westen vor. „Für sie war unser Naturwein spannend. Sowohl wegen seiner Geschichte als auch wegen seines einzigartigen Geschmacks.“ Sein erster Kunde war eine Firma aus Italien, die das Potenzial der Qvevris sofort erkannte. Sie investierte und warb für das kleine Weingut in Kartli. „Später kamen die Engländer und die Amerikaner dazu“, erzählt Bitarishvili.
Und dann kam das Jahr 2006: Russland verbot die Einfuhr georgischer Weine. Die Qualität sei zu niedrig, der Wein gestreckt. Der Bann galt aber auch als politische Bestrafung Putins, da die damalige georgische Regierung sich immer weiter dem Westen annäherte.
Auch nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte Georgien 95 Prozent seiner Weine nach Russland verkauft. Der Markt brach über Nacht zusammen. „Wir wussten“, sagt Irakli Cholobargia, „dass das eine riesige Chance war, den Markt zu diversifizieren und dabei gleichzeitig die Qualität des Weinbaus wieder anzuheben.“ In enger Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) entwarfen Cholobargia und die Weinagentur strenge Qualitätskriterien für den georgischen Weinbau. 2013 erreichte das Team, dass die Unesco Qvevri-Wein zum Weltkulturerbe ernannte.
Naturwein aus Georgien: Keine Massenproduktion
Anfang der Zehnerjahre gründete Iago Bitarishvili mit anderen Winzer:innen die erste Weinbar in Tiflis: Vino Underground. Mittlerweile eröffnet alle paar Monate eine neue, immer mehr junge Menschen wollen ihren eigenen Qvevri-Wein produzieren. Doch außerhalb Osteuropas ist Qvevri im Vergleich zu Wein aus Frankreich oder Italien immer noch ein Nischenprodukt und nur unter Kenner:innen bekannt. Die Exporte wachsen dennoch: In den USA, dem größten Weinmarkt der Welt, wurden 2014 weniger als 200.000 Flaschen georgischer Wein importiert. 2020 waren es über 900.000 Flaschen. Russland ist mit einem Anteil von 55 Prozent jedoch immer noch der wichtigste Importeur georgischen Weines. Das kann sich jedoch bald ändern, glaubt Irakli Cholobargia. „Wir profitieren von dem neuen Hype um Naturwein“, erklärt er. „2022 ist unser Schwerpunkt daher Deutschland. Wir glauben, dass die Menschen sich dort sehr für nachhaltigen Wein interessieren. Wir wollen endlich unabhängig von Russland werden.“
So kommt es, dass der Vorrat von Iago Bitarishvili auf einmal nicht mehr für das eigene Land reicht. Sein Weingut ist zwar berühmt, aber sehr klein. Und die Qvevri-Machart taugt nicht zur Massenproduktion. „Naturwein bedeutet für viele Menschen, dass der Wein einfach Bio ist“, sagt er, „für mich heißt es, dass man alles selbst mit der Hand macht, dass man dem Wein nichts nimmt und nichts Fremdes dazugibt. Dieser Wein sieht vielleicht nicht perfekt aus und es ist risikoreich, ihn herzustellen, weil er schnell schlecht wird. Aber er ist echt.“ Im Ausland können georgische Winzer:innen mit Wein ungleich mehr verdienen als im eigenen Land. Er habe, sagt Bitarishvili, seinen ersten Kund:innen im Westen alles zu verdanken, also beliefere er sie zuerst. Auch, weil er fest daran glaubt: Nur wenn georgischer Wein im ganzen Westen berühmt wird, hat er eine Zukunft. „Wenn alles gut geht, dann können wir 2027 wieder Weine in Tiflis verkaufen. Marina und ich legen gerade einen zweiten Weinberg an.“
Marina, das ist Bitarishvilis Frau. Sie hat den Tisch im Kaminzimmer gedeckt, hausgemachter Käse, Walnuss-Basilikum-Koriander-Pesto, Granatäpfel und Churchkhela, eine Süßigkeit aus Trauben. Die georgische Küche gilt als die vielseitigste in Osteuropa. Man schmeckt die Einflüsse aus dem nahen Iran und aus der türkischen Küche. „Essen ist nichts ohne Wein und Wein ist nichts ohne Essen“, sagt Iago und greift zufrieden in die bunten Schüsseln voller Köstlichkeiten. Dazu trinken wir ein Glas von seinem Chinuri. Er hat, untypisch für einen Qvevri, eine hellgoldene Farbe und schmeckt unglaublich filigran.
Klassischer, bronzener Qvevri-Wein
Das Etikett zeigt Iago als jungen Mann, wie er die Maische in der Amphore niederdrückt, mit dem Sartskhi, einem langen Stab aus natürlich desinfizierendem Kirschholz, den er mit dem Ruder eines Gondolieres vergleicht. Daneben steht der Wein von Marina Bitarishvili, ein klassischer, bronzener Qvevri-Wein, der immer bekannter wird. „Mehr und mehr Frauen in Georgien machen ihren eigenen Wein“, erzählt sie. Ihr Etikett zeigt einen Kreis, von dem ein Kreuz abgeht, das Zeichen der Frauen. Marina sagt stolz: „Unsere Nationalheilige ist Nino, ein 16-jähriges Mädchen, das das Christentum nach Georgien brachte. Sie trug ein Kreuz aus Weinreben in den Händen. Der Wein ist etwas Heiliges und mein Label ein Symbol für die weibliche Schöpfungskraft.“
„Die Frauen übernehmen“, erzählt auch Irakli Cholobargia lachend, aber mit hörbarer Bewunderung in der Stimme. Immer mehr georgische Winzerinnen gewinnen mit ihren Weinen Preise. Er hingegen, sagt er und deutet auf seine gepflegten Hände, hätte sich nie selbst zugetraut, Wein zu machen. Doch als die Pandemie Georgien erreichte, machte ihn die Untätigkeit wahnsinnig. Also beschloss er die Zeit zu nutzen, um sich auch an den Qvevri zu wagen. Er wollte einen leichten Rotwein für den Sommer kreieren. So entstand der „Nasse Hund“. An diesem Novemberabend probieren wir den fruchtigen Wein, der nach Erdbeeren schmeckt.
Schon seit den 1990ern orchestriert der georgische Unternehmer Irakli Cholobargia die Renaissance der uralten Herstellungstradition.