Richtig Streiten

Vom Wert des Streitens

Ohne kritische Auseinandersetzung mit anderen Positionen funktioniert keine demokratische Gesellschaft. Aber wie streitet man richtig miteinander? Über die Suche nach einer neuen Diskussionskultur

Der Vorsitzende hat das Wort. „Ich freue mich auf unseren Bundeskanzler“, ruft er. Anton, grauer Pulli, schwarze Jeans, nickt knapp, greift seinen Stichwortzettel, geht zum Rednerpult. Arme aufgestützt, Blick nach vorn.

„Sollen die USA und ihre europäischen Verbündeten ihre Truppen aus Syrien abziehen?“ Seine Stimme dreht auf. „Darum geht es heute, meine Damen und Herren. Und wir beantragen: Alle Truppen sollen das Land verlassen. Geordnet. Der IS ist zurückgedrängt, unsere Aufgabe beendet.“ Ein Zuschauer steht auf: „Was heißt denn geordnet?“ Anton: „In den nächsten fünf Jahren, um die Stabilität in der Region nicht zu gefährden …“ Noch ein Zwischenruf: „Ach ja, wie in Vietnam.“ Anton winkt ab, er muss seine Argumente durchbringen.

Sechs Minuten später saust der Hammer des Vorsitzenden auf den Tisch. Danke. Jetzt hat die Opposition das Wort.

Debattenabende schulen die Kunst der Diskussion

Berlin, ein Mittwochabend im Januar, die Straßen schimmern regennass. Im Café „en passant“ dampft die Luft. Knapp zwanzig Menschen haben sich zum Debattenabend des Vereins Streitkultur Berlin versammelt. Vor der Fensterwand ist ein Rednerpult aufgebaut, links die Regierungs-, rechts die Oppositionsbank, vis-à-vis die freien Redner, das Präsidium und die Zuschauer.

Menschen wie die Agenturmanagerin Sarah, die zum ersten Mal hier ist, weil sie ihre Diskutier-Leidenschaft aus Studienzeiten wieder beleben möchte. Oder wie der Personalentwickler Christian und sein Sohn Anton, 12. Klasse, die seit vier Jahren regelmäßig kommen, um die Kunst der Auseinandersetzung zu schulen.

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Die Redner ordnen ihre Papiere, machen sich noch flink ein paar Notizen. Letzte Biere werden geordert, Tee, ein frischer Saft. Dann geht es los mit dem Streit.

Ohne Auseinandersetzung funktioniert keine Demokratie

Streit ist lebenswichtig für eine Demokratie. Ohne eine kritische Auseinandersetzung mit den Standpunkten anderer funktionieren keine Familie, keine Freundschaft und schon gar kein friedliches Gemeinwesen. Wie wollen wir zusammenleben, an welchen Werten wollen wir uns orientieren – solche Fragen müssen ausgehandelt werden, immer wieder neu, kontrovers und wenn nötig im Konflikt.

„Im Konflikt erfahren wir mehr als in jeder anderen Situation, worin sich unsere Ansichten von denen anderer Menschen unterscheiden“, sagt der Berliner Kommunikationspsychologe Frank Naumann. „Und wie sie unser Handeln beurteilen.“ Er spricht daher vom Streit als dem „Normalzustand des menschlichen Zusammenlebens“.

Doch unsere Streitkultur steckt in der Krise. Statt sich konstruktiv auseinanderzusetzen, schwankt die Gesellschaft zwischen Konsenssucht und aggressiver Polemik, werfen sich die Streitenden mit schnellen Zuschreibungen in den Kampf. Tugendterroristen versus Hassbürger, Gutmenschen gegen Rechtspopulisten. Zuhören und respektvolles Ringen um Positionen? Fehlanzeige.

„Ein Dialog wird zunehmend unwahrscheinlicher“, bilanziert der Philosoph Daniel Pascal Zorn, Autor des Buches „Logik für Demokraten“. Die Folge: Die Gesellschaft zersplittert in Teilkulturen, die kaum noch miteinander kommunizieren. Ihre Mitglieder leben nebeneinander her, ohne ihre unterschiedlichen Auffassungen über Lebenssinn, Verhaltensnormen und Zukunftsvisionen auszudiskutieren.

Richtig Streiten wird schwieriger

Dabei streiten wir gar nicht weniger als noch vor zehn Jahren. Im Gegenteil: „Wir stellen mehr in Frage denn je“, sagt der Münchener Kultursoziologe Armin Nassehi. Geschlechterrollen, Expertise, unsere Moral, die bürgerliche Lebensform. Nichts mehr ist sicher vor dieser „kommunikativen Verflüssigung“, ein Begriff, den der Philosoph Jürgen Habermas geprägt hat.

Alles muss permanent neu legitimiert, begründet, kommunikativ durchmassiert werden. Soziologe Nassehi erkennt darin „normativ einen Akt der Emanzipation“. Soziologisch betrachtet entstünden aber auch Kosten: „Verunsicherung, Ordnungsverlust – und eine Einigung im Streit wird immer schwieriger.“ Wo weder Kirchen, noch Autoritäten, noch eine universelle Moral „eine causa finita definierten“, drohe Streit ohne Ende.

„Es gibt keine Stoppregeln mehr, außer im Parlament.“ Ende der Debatte, Zeit zur Abstimmung. Doch auch dort hat sich das Klima verändert, beobachtet der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse: „Der Streitstil im Parlament hat sich durch die AfD vergröbert. Auch in der Gesellschaft sind Austausch und Debatte weniger und schwerer geworden.“

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Fazit: „Die politische Diskussion zersplittert.“ Es ist Zeit für eine neue produktive Streitkultur. Die, wie Kommunikationspsychologe Naumann fordert, „den Streit als gesellschaftliche Form der Meinungsbildung fördert und für Erneuerung sorgt“.

Entscheidend sind klare Regeln

Wie wäre es, mit Nachbarn, Freunden, Kollegen über Lebens- und Gesellschaftsentwürfe zu diskutieren, in privaten Salons und Debattierclubs Menschen aus unterschiedlichen Milieus zusammenzubringen?

„Politiker können Themen in die Öffentlichkeit tragen“, sagt Thierse, „aber dann müssen die Bürger selbst aktiv werden.“ Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat seine Landsleute in seiner Weihnachtsansprache aufgefordert, wieder mehr zu streiten. Ohne Schaum vor dem Mund. Und mit dem Willen, Unterschiede auszuhalten.

Der Vorsitzende des Vereins Streitkultur Berlin, Christoph Krakowiak, packt Hammer, Glocke und Notizen in die Tasche. Er arbeitet in der IT-Branche. Schon im Studium – Politik und Philosophie an der Uni Tübingen – hat Krakowiak in Debattenzirkeln erlebt, wie bereichernd es ist, „Argumente aufeinanderknallen zu lassen wie in einem Teilchenbeschleuniger“.

Der 33-jährige brachte das Konzept der „Offenen parlamentarischen Debatte“ nach Berlin. „Man lernt, seine Diskussionskunst methodisch zu verbessern“, sagt er. Entscheidend sind klare Regeln, wie im Parlament. Es gibt eine Entscheidungsfrage, eine Pround eine Contra-Fraktion, fraktionslose Speaker, die der Debatte Dynamik verleihen, Zwischenreden sind Pflicht, Zwischenfragen und Zwischenrufe erwünscht. Hilft dieses durchkomponierte Ping-Pong-Spiel den Teilnehmern, eine konstruktive Streitkultur zu entwickeln?

Personalentwickler Christian: „Absolut, ich kann Dinge inzwischen schneller auf den Punkt bringen.“ Manchmal vertritt er Standpunkte, die er überhaupt nicht teilt. Sagen muss er das laut Regelwerk nicht. „So lerne ich zu verstehen, wie andere zu dieser Sicht kommen.“ Zweimal schon hat Christian dadurch seine eigene Haltung geändert. Auch sein Sohn Anton sagt: „Ich bin offener geworden. Man merkt schnell, wenn man falsch liegt.“

Die Teilnehmer sind sich einig, dass die Debattenrunden schulen, Argumente zu gewichten, Argumentationsstrategien zu durchschauen, Emotionen rauszuhalten, fair zu bleiben. Krakowiak: „Man legt die Scheuklappen ab.“

Die Streitlust der Bürger anfachen

Projekte wie „Deutschland spricht“, initiiert von Zeit Online, versuchen die Streitlust der Bürger anzufachen. Mehr als 8000 Menschen, die politisch völlig unterschiedlich denken, trafen sich im September 2018 zum politischen Zwiegespräch – um jeweils zu zweit und in aller Ruhe über kontroverse Fragen wie autofreie Innenstädte oder Steuern auf Fleischprodukte zu diskutieren. Im Oktober zogen Österreich und die Schweiz mit ähnlichen Formaten nach.

Was bringt der organisierte Bürgertalk? Soziologe Nassehi ist sich sicher: Einiges. Egal, ob sich die Gesprächspartner inhaltlich näher kommen oder nicht. „Die Diskutanten führen Dritten öffentlich vor Augen: Das Gespräch mit Andersdenkenden ist möglich.“ Der Effekt: „Entdämonisierung.“ Statt Tempolimit-Gegner, Fleischfetischisten und Einwanderungsgegner pauschal zu verurteilen, lehren solche Aktionen, genauer hinzuschauen: Wie kommt der andere eigentlich dazu? „Probiert es aus“, ermuntert Nassehi. „Gerade, wenn es weh tut.“

Er selbst hat es getan. Monatelang setzte sich der Soziologe in einem Briefwechsel mit dem Verleger und Vertreter der Neuen Rechten Götz Kubitschek über ihre Weltanschauungen auseinander. Der Briefstreit erschien online, später auch in einem Buch. Natürlich, sagt Nassehi, sei das manchmal nicht leicht auszuhalten gewesen. Trotzdem: Wir kommen nicht daran vorbei. „Und wenn am Ende ein Dissens steht – auch gut“, sagt Nassehi. „Mut zur konstruktiven Differenz“ nennt er das. Aber wie geht so ein Gespräch?

Auch Gespräche brauchen Ziele

In einer kleinen Bar in Berlin-Friedrichshain hat sich David Lanius gerade einen Ingwertee bestellt. Der Philosoph und Argumentationstheoretiker gründete 2016, nach der Wahl von Donald Trump und der Brexit-Abstimmung, das „Forum für Streitkultur“, um die Qualität der öffentlichen Debatte zu verbessern und um Spaltungen in der Gesellschaft zu verhindern. Zudem bastelt er an einer „normativen Theorie der öffentlichen Debatte“ und an einer praktischen Handlungsanweisung für den Alltag. Wie kann ein Gespräch mit dem Nachbarn, dem Kollegen, dem Facebook-Freund über strittige Themen gelingen?

Der Knackpunkt sei die Haltung: „Oft stolpern wir in ein Gespräch, ohne nach dem Zweck gefragt zu haben.“ Was erwarte ich eigentlich? „Wer sich damit nicht vorab auseinandersetzt, wird leicht emotional.“ Will mir die andere Seite was? Entblößt sie Schwächen in meinem Denken? „In die Ecke gedrängt, beginnen wir zu moralisieren.“ Schalten in den Kampfhaltungsmodus.

Wie also können wir besser miteinander reden, um gut miteinander leben zu können, Herr Lanius? Der Philosoph nimmt einen Schluck Ingwertee. Erstens: Konkrete Ziele für das Gespräch definieren statt diffusem Überzeugenwollen. Zum Beispiel: den anderen und seine Gründe besser kennenlernen; in der Sache dazulernen; die eigene Position überprüfen.

Zweitens: Die drei zentralen Regeln einer guten Diskussion beherzigen, also die These des Gegenübers zu wiederholen, zusammenzufassen, was man von ihm gelernt hat – und dann erst die eigene Kritik nennen. Der Effekt: Dadurch ist man gezwungen, dem anderen aufmerksam zuzuhören, das Gegenüber fühlt sich ernst genommen. Eine Garantie seien solche Regeln freilich nicht. „Ohne den Willen beider Seiten, dem anderen zuhören und ihn verstehen zu wollen, geht es nicht.“ Ist er nicht erkennbar, rät Lanius zum Abbruch.

Streit will geübt sein

Das Problem ist: Was wir nicht im Alltag einüben, werden wir in der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden erst recht nicht schaffen. „Wir müssen den konstruktiven Streit im täglichen Miteinander pflegen“, rät Kommunikationspsychologe Naumann. In Beruf, Partnerschaft, Familie, mit Freunden. Dort gelte es zwar längst als erstrebenswertes Ziel, Konflikte auf Augenhöhe auszutragen, doch in der Realität ziehen wir uns lieber doch zurück. Wenn Chef, Partner oder Freunde zu sehr nerven, trennt man sich eben, sucht Ersatz oder auch nicht.

Hinzu komme die Atomisierung der Gesellschaft. Immer mehr Menschen leben allein, arbeiten als Freelancer für wechselnde Auftraggeber, müssen nicht mit den Kollegen im Großraumbüro auskommen. „Das prägt unsere Kommunikation.“ Es hat Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir im Privaten und Nichtprivaten miteinander reden, diskutieren, streiten. Zuhören, Stellung beziehen, Zwischentöne wahrnehmen, Körpersprache richtig deuten – dafür fehlt es mitunter schlicht an Übung.

„Und an Kraft“, schätzt Stefan Reutter, Coach und Buchautor von „Wer Frieden will, muss streiten können“. Nach Job, Haushalt, Kindern noch mit wildfremden Menschen diskutieren – wer rafft sich dazu auf? Und wie stehe ich denn überhaupt zu Seenotrettung, Frauenquote, Toiletten fürs dritte Geschlecht? „Viele Streitthemen sind komplex“, sagt Reutter. Und die Ängste, sich in die Nesseln zu setzen, hineingezogen zu werden in ein Gespräch, dem man argumentativ nicht gewachsen ist, sind groß. Erst recht, wenn es um politische Debatten und Wertfragen geht.

Wie reagieren?

Freelance-Texter Philipp Steffen und Kommunikationsstudentin Marie Heinrichs von der Berliner Initiative „Kleiner Fünf“ wollen jungen Menschen dabei helfen. Wenn die Endzwanziger ihre Workshop-Teilnehmer empfangen, lassen sie sie erst einmal erzählen: Wo hast du knifflige Situationen erlebt, bist mit Rechtspopulisten in Streit geraten oder warst überfordert?

Manche Teilnehmer berichten von Verwandten, die plötzlich fremdenfeindliche Sätze fallen lassen. Anderen sind rechtspopulistische Parolen in der U-Bahn aufgestoßen. Eine Teilnehmerin traf beim Trampen auf einen LKW-Fahrer, der sie mit rechten Gedankengut einzulullen versuchte. „An solchen persönlichen Erlebnissen knüpfen wir an und suchen nach Strategien: Wie reagieren? Wie konstruktiv das Gespräch suchen?“

Als sich vor drei Jahren die Initiative Kleiner Fünf gründete, hatte sie ein klares Ziel: die AfD bei den Bundestagswahlen unter der Fünfprozentmarke zu halten. Die AfD bekam zwölf Prozent und Kleiner Fünf entschied, mit allen „Verunsicherten das Gespräch zu suchen“.

„Die Leute haben Lust auf konstruktiven Streit“

Seit 2018 gibt es Workshops, im März 2019 erweiterten Webinare das Angebot. Im Mai erscheint ein Buch für Schüler: „Sag was! Radikal höflich gegen Rechtspopulismus argumentieren“.

Warum wir keine Paywall haben

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Radikal höflich? „Genau das“, sagt Philipp. „Klingt komisch, ist aber wichtig. Sachlich, mutig und radikal höflich. Wir müssen lernen, uns in hitzigen Gesprächen respektvoll zu begegnen, aber dabei klar gegen Hass und Ausgrenzung Position zu beziehen.“ Nachfragen, was der andere genau meint. Verstehen wollen, was ihn zu dieser Position gebracht hat. Und dann „Reframen“ – dem Gespräch einen neuen Rahmen geben. Ein Beispiel: Das Boot ist voll? Nein, Menschen sind schutzbedürftig.

Ergänzt wird diese Strategie von einem Potpourri von Techniken aus der Kognitions- und Kommunikationsforschung. In Rollenspielen üben Philipp und Marie das mit den Teilnehmern ein. Meist spielen sie dabei die Konfliktsituationen, von denen die Teilnehmer erzählt haben, in Vierergruppen noch einmal durch. Die Teilnehmer schlüpfen in verschiedene Rollen, zwei spielen, zwei beobachten. Dann wird gewechselt.

Marie: „Das Feedback ist unisono: Den Streit im Spiel zu üben ist die Methode um zu lernen, wie man Konfliktsituationen konstruktiv gestaltet.“ Dann klappen sie ihre Laptops auf. Das Webinar muss vorbereitet werden, zwanzig neue Workshop-Anfragen liegen auf dem Tisch. Philipp lacht. „Schön eigentlich, die Leute haben endlich Lust auf konstruktiven Streit.“

Ohne kritische Auseinandersetzung mit anderen Positionen funktioniert keine demokratische Gesellschaft

Anja Dilk
Heike Littger

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