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Es waren fette Monate. 2020 erlebte Netflix einen Nutzer:innen-Zuwachs wie nie zuvor und knackte die 200-Millionen-Marke. Nebenbei räumte der Streamingdienst neun Academy Awards ab: 2020 zwei Oscars, 2021 sieben.
Viele Menschen beamten sich beim Bingen gedanklich hinaus in die Welt von Schach-Genie Beth Harmon nach Kentucky oder begleiteten Esther Shapiro bei ihrer Flucht nach Berlin. Der Duft von pappigem Popcorn hing morgens in der Luft des Homeoffice, das vor Kurzem noch Wohnzimmer hieß. Sportlich war an den Serienmarathons nichts. Ein Résumé des Corona-Winters: Fetter Profit für die einen, Fettpolster für die anderen.
Dann der Plot-Twist: Im April 2021 sanken die Aktienwerte von Netflix zeitweise um mehr als zehn Prozent. Während das Unternehmen im ersten Quartal 2020 sechzehn Millionen neue Kund:innen gewann, legte es im ersten Quartal 2021 um vier Millionen zu und sagte plötzlich nur noch eine Million Neuabonnent:innen für das folgende Quartal vorher.
Ist die Streaming-Party (erst mal) vorbei? Netflix gibt sich gelassen: Ohne Lockdowns hätte sich der rasante Nutzer:innen-Zuwachs über das Jahr 2021 verteilt. Pandemiebedingte Produktionsengpässe seien überwunden, die Umsätze florierten. Im Gegensatz zum Wohlbefinden der Partygäst:innen?
Erhöhtes Suchtpotenzial
Der Medienwissenschaftler Claus-Peter H. Ernst warnt. Das Suchtpotenzial von Netflix und Co. habe sich durch die Pandemie deutlich erhöht, weil Freizeitalternativen fehlten. „Es wird sich erst dann zeigen, wie groß das Problem wirklich geworden ist, wenn wir wieder Normalität haben. Wenn Menschen soziale Treffen absagen, weil sie lieber Modern Family weiterschauen wollen.“ Serien sind ein verlässliches Mittel zur Realitätsflucht, Erholung und Kompensation. „Ich kann dort mit Menschen, die ich glaube zu kennen, gefühlt Kontakt haben und so eine Art parasoziale Beziehung zu Serienfiguren ausleben“, sagt Ernst, der eine Professur für Online-Medien-Management an der Hochschule der Medien in Stuttgart innehat. Natürlich ist es in Ordnung, ab und zu „auch mal viele Folgen wegzusuchten“. Häufe sich das Verhalten aber und werde verheimlicht oder mit Lügen vertuscht, sei es bedenklich. Was Binge-Watching so gefährlich mache: Den Flatrate-Zugang gibt es schon für wenige Euro im Monat, wodurch „Einstieg und Beschaffung viel einfacher“ sind als etwa bei einer Drogensucht.
Leonard Reinecke findet diesen Vergleich problematisch. „Serien sind ein Format geworden, in dem sehr aufwendige Narration betrieben wird. Das zieht Nutzer in den Bann. Es macht Spaß, sich einer Serie und ihren Charakteren hinzugeben und einzutauchen. Das ist erst mal etwas Schönes.“ Deswegen lehnt der Psychologe und Medienprofessor der Universität Mainz den negativ konnotierten Begriff Binge-Watching ab. Serienmarathon hingegen klinge produktiv, „das drückt mehr Wertschätzung aus“. Unangenehme Begleiterscheinungen hätten „in den allermeisten Fällen“ nichts mit pathologischem Suchtverhalten zu tun. Etwa, dass ausgerechnet Menschen, die ihre Arbeit als stressig wahrnehmen, beim Streamen keinen Stress abbauen, sondern Schuldgefühle entwickeln, weil sie in der Zeit drängende Aufgaben hätten erledigen können. Oder, dass Serienmarathons zur sogenannten Schlafenszeit-Prokrastination genutzt werden: Sie ziehen den Feierabend, diese „Oase der Freiheit“, in die Länge, Streamer:innen gehen zu spät ins Bett. Aufwühlende Inhalte und blaues Bildschirmlicht erschweren das Einschlafen.
Die „All you can watch“-Mentalität führt also dazu, dass viele Nutzer:innen wortwörtlich nicht abschalten können. Eine steigende Zahl neuer Streaming-Plattformen will die Idee des bewussten Filmabends durch „Klasse statt Masse“ reetablieren. „Wir stehen für anspruchsvollen und bewussten Medienkonsum und bilden eine Alternative zum Binge-Watching der Ablenkungskultur“, schreiben etwa die Gründer von Betterstream. Die kostenlose App aggregiert Produktionen, die sich mit Naturschutz und gesellschaftlichem Wandel auseinandersetzen.
Die meisten neuen Anbieter:innen spezialisieren auf „handverlesene“ Arthouse- und Independent-Produktionen im Abo- oder Ausleihmodell. Sie heißen Sooner, Mubi, Pantaflix, Filmingo, Behind The Tree, Alleskino oder Filmfriend. Letzteres kooperiert mit Bibliotheken und ist daher für viele Bibliotheksausweis-Besitzer:innen kostenlos.
Soziale Mission
Einige Filmportale besetzen innerhalb des Indie-Bereichs weitere Nischen und verfolgen dabei eine soziale Mission: das Sichtbarmachen und Entstigmatisieren von Kulturen und Lebensrealitäten.
Etwa Shasha Movies, das im März 2021 live ging. Auf der Plattform der irisch-irakischen Journalistin und Kuratorin Roisin Tapponi erscheinen monatlich 20 von Frauen ausgewählte Filme aus dem südwestlichen Asien und Nordafrika (engl. SWANA). Indie-Filme aus SWANA sind normalerweise schwer zugänglich – sowohl außerhalb als auch innerhalb der Landesgrenzen. Shasha ist deswegen frei von Geoblocking, also global verfügbar, und zensiert keine Themen, die in SWANA als Tabu gelten. „Es ist sehr paradox”, sagte Tapponi dem TIME Magazin, „dass [Filme aus SWANA] bei europäischen Filmfestivals gezeigt werden oder in westlichen Einrichtungen – aber nicht wirklich den Menschen zugänglich gemacht werden, die sie produziert haben, von denen sie handeln und für die sie gemacht wurden.“
Das National Film Board of Canada (NFB) hat ein Portal eingerichtet, über das Hunderte Filme von indigenen Regisseur:innen kostenlos abrufbar sind. Der Taiwaner Jay Lin hat den Streamingdienst GagaOOLala gestartet, um der asiatischen LGBTIQ-Community mehr Identifikationsmöglichkeiten zu geben und Non-LGBTIQ-Personen weltweit bei „diversity education and empathy building“ zu helfen, so Jay Lin.
Bei Netflix hingegen gibt es noch nicht genügend Indentifikationsmöglichkeiten mit LGBTIQ-Charakteren oder Menschen aus Kulturen abseits des US-amerikanischen Mainstreams. Das zeigt die erste Diversity-Studie von Netflix, die die Annenberg Inclusion Initiative der Universität von Südkalifornien durchgeführt hat.
Hier kommen die fetten Lockdown-Einnahmen ins Spiel. Anlässlich der Studienergebnisse gründete das Unternehmen Anfang 2021 einen Fonds für Chancengleichheit und Inklusion. Die nächsten fünf Jahre sollen jährlich 20 Millionen US-Dollar in die Förderung unterrepräsentierter Communitys in der Serien- und Filmbranche fließen.
Netflix-Serien wie Stranger Things (im Bild), The Queen’s Gambit oder Unorthodox haben uns durch die Pandemie getragen und unseren Kulturhunger oder die Langeweile gestillt.