Kleinstadt Apolda in Thüringen

Strukturwandel statt kitschiger Landlust

Ideen auf Graswurzelebene oder staatliche Förderung – wie kommt der Wandel auf das Land? Beides kann sich gut ergänzen. Wichtig ist dabei auch das Wissen über die Identität des neuen Wohnortes. Eine Spurensuche im thüringischen Apolda.

Energisch läuft Fridtjof Florian Dossin eine enge Treppe herauf. Staub tanzt im Sommerlicht. „Hier gibt es einfach so viel Geschichte und Möglichkeiten“ Die Augen des Mittzwanzigers leuchten. Er sieht in der baufälligen Fabrik mehr als viele Nachbarn hier in Apolda. Die würden wohl mit nüchternem Blick vor allem eine Unmenge von Büchern in einer alten Produktionsstätte ausmachen. Nüchtern und respektvoll ist auch Dossins Blick: „Wir stehen hier in den geschichtsträchtigen Räumen einer Hinterhoffabrik in der Textilstadt Apolda.“ Man mag es heute einer thüringischen Kreisstadt nicht mehr zutrauen, doch hier wurde nicht nur zu Zeiten der Industrialisierung in großem Maße genäht und gestrickt, sondern bis zum Ende des DDR-Sozialismus. 

Wirkmaschinen, Lehm und Buchbindungen

Die wechselhafte Geschichte zwischen Landleben, Industrialisierung, Manufaktur-Ära und Vergesellschaftung (oder Enteignung, je nachdem wen man fragt) spiegelt sich in beinah skurriler Weise auf den Wänden der Fabrik wieder. DDR-Blümchentapeten bedecken lehmverputzte Wände, welche die neuen Bewohner originalgetreu mit Lehm ausbessern und mit Sumpfkalk weißen.

Dossin, geboren in Jena, studierte nur eine viertel Stunde von Apolda entfernt in Weimar Urbanistik, dann Denkmalpflege in Bamberg. Schon als Schüler arbeitete er in der Apoldaer Hinterhoffabrik und half deren neuem Besitzer Andreas Aschoff, einem promovierten Biologen und seit dem Ruhestand Antiquar, bei dem Katalogisieren von Büchern. Aschoff ist der Grund dafür, dass unzählige Räume der Fabrik voller Bücherregale stehen. Bereits in den frühen 2000ern katalogisierte der Professor die Bücher, reparierte die Bücherbindungen und stellte sie ins Internet. Bücher kaufte man damals noch in Läden und wer ins Internet wollte, lauschte zunächst einem krächzenden Modem. Die Hinterhof-Fabrik scheint Pioniere anzuziehen.

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Wer Leben in die Bude bringt

Pioniere – das klingt für viele vor Ort nach FDJ und für manche vielleicht auch etwas despektierlich. Schließlich ist Apolda nicht unbesiedelt. Viele Perlen der Industrieromantik verfallen dennoch. „Ob diese Menschen nun Pioniere, Wegbereiter oder Change-Maker genannt werden: Es braucht sie für eine gelungene Transformation ländlicher Räume“, so Elisa Wrobel von der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen, die baukulturelle und gesellschaftliche Transformationen in Stadt und vor allem Land Thüringens anregt. „Produziert wird in Apolda immer noch – zum Beispiel Pizza oder Bier. Dennoch ist die Stadt wie so viele Orte in Thüringen von der Deindustrialisierung geprägt. Nur wenige der ehemals 6.000 Arbeitsplätze, die es allein in der Textilindustrie gab, sind nach der Wende erhalten geblieben.“ In Apolda wurden nicht nur Strick- oder Wirkwaren produziert, hergestellt wurden im Eiermannbau, einem auffälligen Fabrikgebäude und eines von vielen Projekten der IBA Thüringen, auch Feuerlöscher.

Benannt wurde das Gebäude nach dem gleichnamigen Egon Fritz Wilhelm Eiermann, der als einer der einflussreichsten Architekten der Nachkriegszeit gilt. Er erweiterte 1938 die ehemalige Textilfabrik. Als Mitte der 90er die Produktion der Feuerlöscher stillstand, wurden anders als in Großstädten die hellen Werksräume nicht zu Lofts umgebaut. Sie standen leer. Um den Verfall aufzuhalten, gründete sich der Verein der Freunde des Eiermannbaus. Sie öffneten das Gebäude hin und wieder der Öffentlichkeit und hielten es notdürftig in Schuss. Unzählige andere, alte, nicht von Stararchitekten berührten Gebäude wurden in der Nachwendezeit hingegen abgerissen. 2017 kaufte dann die Landesentwicklungsgesellschaft LEG Thüringen den Eiermannbau. Seit 2018 sitzt die IBA Thüringen in dem Gebäude und baut es zu einer „Open Factory“ um, einem Ort für Viele und Vieles. Dank einer Förderung des Bundes kann 2021 der technische Ausbau der Industrieikone stattfinden, danach kann ganzjährig vermietet werden. Wer Interesse hat, soll sich einfach melden.

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Unterstützenswerte Projekte fand die IBA durch Open Calls, den ersten Projektaufruf „Zukunft StadtLand!“ startete sie 2014. Seitdem haben viele mutige, begabte und engagierte Menschen überall in Thüringen ihre Ideen in die Hand genommen. Die IBA unterstützt die Initiativen inhaltlich und planerisch, akquiriert mit ihnen Fördergelder und vernetzt sie mit anderen Akteuren. 2023 endet die experimentierfreudige IBA Thüringen, wie alle Internationalen Bauausstellungen, nach rund zehn Jahren.

Die IBA lud vor dem technischen Ausbau des Eiermannbaus mit dem Aufruf #eintrittfrei Kreative, Werkstätten und Aussteller ein, sich dort niederzulassen. Auf den Aufruf folgte eine Mieterparty im Garten. Foto: Thomas Müller

Starke Ideen werden Taten

Die einzelnen Projekte der IBA sehen ziemlich unterschiedlich aus. Gemeinsam haben sie, dass sie das räumliche Lebensumfeld konkret verbessern und beleben. Da gibt es die Genossenschaft in Rottenbach, die einen Bahnhofsladen gründete, mehrere als Herberge ausgebaute Kirchen oder ein Begegnungsort von Alteingesessenen und Geflüchteten in Saalfeld.

Vorangetrieben werden diese Projekte oft weder von den Jungen noch den Zugezogenen. „Viele Ideen kommen auch von den älteren Bewohnern, die dem Verfall ihres Ortes nicht tatenlos zusehen wollen. Der große Leerstand in Thüringen beispielsweise, den sie täglich vor der Nase haben, ist ja nicht nur ungenutzte Ressource, sondern es hängen viel Geschichten und Emotionen daran“, so Wrobel. Der Eiermannbau ist so ein Beispiel für Leerstand, den die IBA LeerGut nennt. Die IBA lud vor dem technischen Ausbau mit dem Aufruf #eintrittfrei Kreative, Werkstätten und Aussteller ein, sich im Eiermannbau niederzulassen. So kamen auch die Hinterhof-Fabrik-Nutzer Dossin und Aschoff zur IBA, die dort an einer Dokumentation der Fabrik und ihres Umbaus arbeiten. „Das Netzwerk und der Austausch sind für uns natürlich spannend“, so Dossin.

Was den Umnutzer mit der IBA-Angestellten Wrobel und einem Großteil des IBA Teams vereint: Sie alle kommen aus dem Osten. Obwohl sie sich aufgrund ihres Alters teilweise nicht an die DDR-Zeit erinnern können, sind sie dennoch von ihr und vor allem den Wendejahren stark geprägt. Die Geschichte von den jungen Ossis die nun in ihre alte Heimat zurückkehren wird gerne erzählt – ist aber nur ein Teil der Wahrheit. „Meine ostdeutschen Freunde können sich kaum vorstellen in Apolda zu leben und bleiben in Berlin oder Leipzig. Stattdessen sind es Studienfreunde aus dem Westen, die herkommen und sofort das Potenzial der Häuser sehen“, so Dossin. „Für sie bin ich aber auch oft der Erklärbär: Warum gibt’s hier so viele Nazis, grelle Haarfarben und verstaubte Schaufenster mit alten Kuscheltieren? Dabei urteilen sie oft auch vorschnell. Meine kurdischen Nachbarn konnten sich ganz gut einleben.“

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Strukturelle Transformationen statt kitschiger Landlust

Ob wir in einer Altbauwohnung, Bauernhof-Kommune oder Hinterhof-Fabrik wohnen – oder zwei dieser Lebensweisen kombinieren – hängt von unseren Wünschen, Privilegien und unserem Mut ab. Wichtig sei außerdem anzuerkennen, dass nicht nur wir, sondern auch die Häuser, in denen wir wohnen, eine Geschichte haben. „Wer in das Umland einer Großstadt zieht ohne sich mit der Identität es Hauses zu beschäftigen, wird ziemlich sicher in einem Raumschiff leben“, so Dossin auf dem Weg ins Apoldaer Stadtarchiv, wo er Dokumente über seinen neuen Wohnort sucht.

Das Team der IBA weiß: „Die ländlichen Räume sind zu so einem Megathema geworden. Unsere vielen Akupunkturen in Thüringen sind zwar vielversprechend. Aber uns ist auch klar, um einen auch nachhaltigen Umkehrschub aufs Land zu schaffen, braucht es große strukturelle Transformationen statt nur kitschige Landlust.“, so Wrobel stellvertretend, bevor sie wieder ins IBA-Gewächshaus-Büro im Eiermannbau verschwindet.

Zur Zeit dieser Interviews grollten in Leipzig über mehrere Tage Proteste gegen Gentrifizierung und die Räumung eines besetzten Hauses. Die Mieten steigen fast überall. Eine Fabrik bewohnbar zu machen – das muss man dennoch wollen. Florian Dossin ist sich dessen bewusst: „Unsere Generation hat keine Freiräume in den Großstädten wie die Menschen in den 90ern. Doch auch wir wollen kollektives Wohnen, künstlerische Freiräume und ein gutes Leben.“ Nicht alle werden in ostdeutsche Kleinstädte ziehen, aber eins steht mal fest: „So geile Hütten wie hier findest du nirgends mehr.“

Unsere Kooperationspartner*innen

Enorm kooperiert mit dem transform Magazin, das 2015 in Berlin gegründet wurde. Transform gibt Anstöße für einen gesellschaftlichen Wandel – ohne die Richtung vorzuschreiben. Das unabhängige Magazin stellt dabei auf nicht immer ernste Art Menschen vor, die ihr Leben, ihr Umfeld oder die Gesellschaft verändern – und zwar zum Besseren. Es geht um das Gute Leben – für alle.

Die IBA Thüringen hat den Autor zum Eiermannbau eingeladen, nachdem sie auf den transform-Artikel zum neuen Landleben gestoßen ist. Die IBA hatte keinen Einfluss auf den Inhalt des Textes.

Bild: Thomas Müller

Der Eiermannbau in Apolda ist eines der vielen Projekte der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen. Leerstehende Farbiken wie diese werden als „LeerGut“ bezeichnet.

Marius Hasenheit, transform

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