Hier“, sagt David Mutangana, der Direktor der Teefabrik in Karongi, „hier wird die neue Fertigungsstraße stehen“. Wo derzeit nur ein leerer Raum in einer Halle zu sehen ist, sieht David neue Kapazitäten, neue Qualitäten, neue Potenziale. Und neue Arbeitsplätze: 60 Arbeiter beschäftigt die Fabrik derzeit, mit der zweiten Fertigungsstraße wird sich ihre Zahl verdoppeln. Die Produktion der Fabrik soll sich in der Anlaufphase von drei auf fünf Tonnen pro Tag erhöhen, aber der Unternehmer ist zuversichtlich, die Kapazität langfristig auf zehn bis 15 Tonnen hochfahren zu können. Immer wieder checkt er auf seinem Smartphone live die Preise, die seine Produkte an der Börse erzielen. Wie war’s denn heute, David? „Ordentlich: 2,42 Dollar pro Kilo für die Qualität PF2, für BP1 sogar zwischen 3,5 und 4,2 Dollar.“
Eine ganz normale Fabrikbesichtigung eigentlich. Bis auf den Ort, an dem die Besichtigung stattfindet: Karongi, im Westen Ruandas, knapp hinter dem Äquator, kurz vor dem Kongo, auf 2300 Metern Höhe und Dutzende Kilometer von der nächsten asphaltierten Straße entfernt.
Dort steht seit 2008 die Teefabrik der Familie Mutangana, mitten in einem Anbaugebiet von 1200 Hektar Teesträuchern. Davids Vater, der heute 80-jährige Patriarch Jean-Baptiste Mutangana, ist stolz auf elf Generationen Unternehmer-Tradition. Er hatte früher unter anderem Fackeln, Milch und Batterien produziert – und folgte dann der Aufforderung der Regierung an die Unternehmer des Landes, ins Teegeschäft einzusteigen. Der rohstoffarme Binnenstaat Ruanda braucht Exportprodukte und Entwicklungspotenzial im ländlichen Raum.
Die Region Karongi weise geradezu ideale Bedingungen für den Teeanbau auf, sagt David Mutangana: „Tee braucht relativ saure Böden, und die gibt es hier. Mit diesen Bedingungen kommt praktisch kein anderes Exportprodukt zurecht.“ Und für Kaffee, ebenfalls ein wichtiger Devisenbringer Ruandas, ist es auf 2300 Metern Höhe schlicht zu kalt. Traditionell wurde deshalb in Karongi praktisch nichts für den Markt angebaut, sondern nur für die Selbstversorgung. Der Tee war also eine Chance für die Bauern der Region.
Die Investition in den Bau der Fabrik war den Mutanganas noch von der staatlichen Entwicklungsbank finanziert worden. Der Kredit für die neue Fertigungsstraße aber kommt aus Europa. Von Oikocredit, einer internationalen Genossenschaft für Entwicklungsfinanzierung mit ökumenischen Wurzeln und Sitz in den Niederlanden. Warum das? „Die ruandischen Banken sind mehr am Handelsgeschäft interessiert als an Industrie“, begründet David Mutangana den Schritt: „Wir investieren in den langfristigen Aufbau von Kapazitäten: Teepflanzen können 100 Jahre alt werden. So etwas verstehen Banken nicht.“ Gerade dieser langfristige Ansatz, so Imke Schulte, Pressesprecherin von Oikocredit Deutschland, war maßgeblich für deren Finanzierung: „Uns geht es um die nachhaltige Entwicklung der Landwirtschaft in einkommensschwachen Ländern, indem wir unter anderem unternehmerische und technische Fertigkeiten ausbauen und vorhandene Kompetenzen stärken.“ Das Kapital von Oikocredit stammt von weltweit 57.000 Anlegern, darunter 27.000 Privatpersonen und Organisationen aus Deutschland. In Karongi investiert Oikocredit nicht nur in die Teefabrik, sondern auch in die Genossenschaft der mehr als 2000 Teebauern, die ihre Ernte an die Fabrik liefern. „Die von uns finanzierten Schulungsprogramme tragen dazu bei, die Produktqualität zu verbessern und die Arbeit effizienter zu machen.“
Wieso müssen Teebauern überhaupt darin geschult werden, Tee anzubauen? Die kurze Antwort: Weil sie früher keine Teebauern waren. Für die lange Antwort müssen wir ein wenig in die Geschichte Ruandas zurückgehen. Ostafrika ist zwar ein traditionelles Tee-Anbaugebiet. Kenia ist sogar einer der größten Tee-Produzenten der Welt, die Tee-Börse in der Hafenstadt Mombasa wird an Umsatz nur vom indischen Mumbai übertroffen. Wie überall in den Tropen, wo sich das Britische Kolonialreich erstreckte, wurde Tee eines der wichtigsten Exportprodukte – Kolonialwaren eben. In Ruanda aber ist der Tee-Anbau weit weniger traditionell; das Land war ja auch niemals britische Kolonie, sondern gehörte von 1884 bis 1916 zu Deutsch-Ostafrika. Erst in den 1950er Jahren wurde in Ruanda Tee angebaut, nach Karongi kam die Pflanze 2008.
Teefabrik in Karongi: Die goldene Regel fürs Endprodukt
Der Umgang mit den Setzlingen und die Pflege der Sträucher waren den Bauern genauso fremd wie die richtige Pflück-Methode. „Two leaves and a bud“ heißt die goldene Tee-Regel: Immer nur die obersten beiden Blätter mit dem nächsten Spross abpflücken, damit die Qualität des Endprodukts stimmt. Aber wenn man nach dem Gewicht der abgelieferten Blätter bezahlt wird, ist die Versuchung groß, ein bisschen mehr in den Korb zu legen: „Einige Pflücker ernten nicht nur zwei Blätter pro Pflanze“, sagt David Mutangana, „sondern vier oder fünf – das bringt ihnen gutes Geld, ist aber schlechtes Business.“ Nur wenn auch in die Menschen investiert wird, kann sich also die Investition in die Maschinen rentieren.
Oikocredit unterstützt deshalb die Genossenschaft dabei, für ihre Mitglieder Qualitäts-Schulungen anzubieten. Dabei werden in der Zentrale Repräsentanten für die einzelnen Anbauzonen ausgebildet, die dann wiederum die einzelnen Farmer auf dem Feld schulen. In den Monaten nach Beginn der Schulungen sei der Anteil der Blätter, die den Qualitätsanforderungen der Fabrik entsprechen, von 64 auf 74 Prozent gestiegen, sagt Bernadette Nyikaneza, die Geschäftsführerin der Pflanzer-Genossenschaft. Auch der Direktor der Teefabrik in Karongi, Mutangana, sieht die Fortschritte auf einem noch langen Weg: „Unsere Fabrik ist neu, die Farmer sind auch neu im Teegeschäft. Sie müssen mit dem Tee wachsen.“ Was den Tee angeht, ist das Wachstum sogar wörtlich gemeint. Die Sträucher sind jung, eben maximal zehn Jahre alt. Ihre maximale Produktivität erreichen sie erst mit 30 Jahren. Die Ernte wird also wachsen und die Fabrik wächst mit.
Und damit steigen auch die Einkommen der Bauern. Mit dem Tee haben sie erstmals überhaupt die Gelegenheit, Geld zu verdienen. Mehr zu erwirtschaften als nur das, was sie zum Überleben brauchen. „Der Tee hat es uns ermöglicht, drei unserer neun Kinder zur Universität zu schicken“, sagt Rawbeni Rubyogo. 50.000 ruandische Franc bringe der Familie das etwa einen halben Hektar große Feld pro Monat ein, etwa 50 Euro. Dazu kommen noch Einnahmen aus der Ziegenzucht – das reicht für ein Handy, um mit den Kindern oder der Genossenschaft zu reden. Aber noch nicht für ein Metalldach auf dem Haus, das wichtigste Wohlstandssymbol in Karongi. Der 66-Jährige pflückt den Tee gemeinsam mit seiner Frau Everana. „Ich kann doch meine Frau nicht alles alleine machen lassen“, meint er. Männer, die Tee pflücken? In Indien beispielsweise wäre das völlig undenkbar: Tee pflücken ist Frauensache, basta. Ruanda ist dagegen geradezu ein Musterland der Gleichberechtigung – auf dem Nachbarfeld beschäftigt die Farmerin Agnes Mukamumana sogar einen männlichen Pflücker als Tagelöhner.
Bauern organisieren sich in Genossenschaften in Ruanda
Das Verhältnis der Geschlechter ist nicht die einzige Differenz zwischen dem Tee-Giganten Indien und dem Tee-Zwerg Ruanda. Ebenso ins Auge fällt der ökonomische Unterschied – trotz identischer Ausgangsbedingungen. Tee braucht Fabriken, überall: Die Weiterverarbeitung der gepflückten Blätter zu fertigem Tee geschieht innerhalb von 48 Stunden, zu jedem Anbaugebiet gehören deshalb Produktionsanlagen. Das führt in fast allen Tee-Ländern zu den gleichen Strukturen: ein Unternehmer, dem das Land und die Fabrik gehören, sowie hunderte oder tausende von Arbeiter*innen, die für ihn pflücken und produzieren. Meistens zum Mindestlohn, wenn überhaupt – Landarbeit wird nirgends gut bezahlt. Genau wie der Teeanbau selbst ist auch seine ökonomische Struktur ein Erbe aus Kolonialzeiten.
In Ruanda wurde ein anderer Weg gewählt. Drei Viertel der Tee-Anbauflächen in Karongi gehören den Bauern, die sich in der Genossenschaft organisiert haben. Der Familie Mutangana gehören die Teefabrik und die verbleibenden Anbauflächen. Wenn demnächst das Anbaugebiet um weitere 500 Hektar ausgeweitet wird, werden diese Flächen sogar sämtlich von Kleinbauern bewirtschaftet werden. Und für die Verteilungsfrage gibt es eine einfache Vorgabe der Regierung: 40 Prozent aller Einnahmen aus dem Teeverkauf bleiben bei Bauern und Genossenschaft, der Rest geht an die Fabrik und alle weiteren Beteiligten.
Was das in Zahlen bedeutet, erläutert Genossenschafts-Geschäftsführerin Bernadette Nyikaneza. „Ein Hektar Teepflanzen bringt im Jahr etwa einen Gewinn von 450.000 ruandischen Franc, knapp 500 Euro – das reicht für eine Familie mit vier Kindern im Dorf.“ Das ist nicht viel, aber deutlich mehr als der Mindestlohn von 1000 Franc pro Tag. Zudem bauen die meisten Farmer nicht nur Tee an, sondern bewirtschaften einen Teil ihres Landes für den Eigenbedarf an Nahrungsmitteln.
Teefabrik in Karongi: Neue Chancen für den Verkauf
Der Produktionsablauf des Tees lädt auch geradezu dazu ein – denn bis zum Mittag müssen die frisch gepflückten Teeblätter bei der Sammelstelle der Genossenschaft abgeliefert werden. Dort wird jede Lieferung erst gewogen und registriert und dann mit den Lastwagen der Genossenschaft zur Fabrik gebracht. Einmal im Monat rechnet die Genossenschaft mit der Fabrik ab, und überweist dann den auf das jeweilige Mitglied entfallenden Betrag auf dessen Bankkonto.
Ob das auch weiterhin funktioniert, entscheidet sich nicht zuletzt daran, wie sich die Märkte entwickeln. Noch hängen die gesamten Einnahmen für Farmer und Fabrikant davon ab, welche Preise Karongi-Tee an der Börse im kenianischen Mombasa erzielen kann. Im Jahresschnitt erzielt Karongi einen Erlös von etwa drei Dollar pro Kilo fertigen Tee, insgesamt wurden im vergangenen Jahr 750 Tonnen Tee verkauft und damit etwa 2,2 Millionen Dollar Umsatz gemacht. Aber der Markt ist unter Druck, vor allem für Teequalitäten, die zu Beuteltee weiterverarbeitet werden. Und das ist bislang der einzige Markt, für den die Karongi-Teefabrik produzieren kann.
Auf der neuen Fertigungsstraße wird hingegen „Orthodox Tea“ hergestellt, der sich gut für das Aufbrühen in Teesieben und -filtern eignet. Das eröffnet neue Chancen für den Vertrieb – nicht nur über die Börse, sondern auch direkt an Importeure. Einen ersten potenziellen Kunden dafür hat David Mutangana schon, aus Deutschland. „Die Broker wissen ebenfalls, dass es von Karongi etwas Neues geben wird. Sobald die neue Fertigungsstraße läuft, können wir verkaufen.“ Und wachsen.
Die Reportage wurde durch eine Pressereise von Oikocredit ermöglicht.
Durch den Anbau von Tee haben die Menschen erstmals überhaupt die Gelegenheit, Geld zu verdienen. Mehr zu erwirtschaften als nur das, was sie zum Überleben brauchen.