Im Fokus: Stadtentwicklung

Warum wir mehr Genossenschaften brauchen

Der Deutsche Mieterbund warnt, dass bald mehr als fünf Millionen Haushalte fast die Hälfte ihres Einkommens für Wohnen ausgeben müssen. Die Ampelkoalition setzt auf Neubau, doch der verbraucht viele Ressourcen. Was also tun? Mehr Genossenschaften und eine kooperative Stadtentwicklung sind Teil der Lösung.

Mehr Genossenschaften

In Zürich wohnt jede:r Fünfte in einer Genossenschaft. Das könnte Vorbild für Deutschland sein.

Morgens, wenn Franziska Rohner zu ihrem Büro in der Züricher Stadtmitte geht, vorbei am lichten Mosaik der Fassade aus Stein und Fensterglas des Wohn- und Gewerbehauses an der Badener Straße, durch den Innenhof mit seinen Spielplätzen, Sitz- und Schattenarealen, läuft sie manchmal schon den ersten Bewohner:innen der Kalkbreite über den Weg. Etwa 250 leben über dem alten Tramdepot der Stadt, das die junge Genossenschaft Kalkbreite, entstanden aus einer Initiative von Quartiersbewohner:innen, zu einem besonderen Lebensort umgebaut hat.

In der Kalkbreite gibt es Studios für Singles, kleine und mittlere Wohnungen für Paare und Familien, 6-Zimmer-Einheiten für Wohngemeinschaften und lose verbundene „Clusterwohnungen“ für Menschen mit Lust auf einen Mix zwischen Rückzug und Begegnung. Abgeschlossene Wohneinheiten teilen sich Küchenzeile und Wohnzimmer. Wer in der Kalkbreite Besuch bekommt, kann im Gasthaus ein billiges Zimmer buchen. Auf den Dächern blüht das Grün weitläufiger Gemeinschaftsterrassen, durchs Haus verteilt gibt es Wäschezimmer, Werkräume und gemeinsame Tiefkühltruhen, Bioladen, Fitnessstudio und Co-Working-Spaces. „Unser Konzept: Mehr kollektiver, weniger individueller Raum“, sagt Mitarbeiterin Franziska Rohner. „Für etwa dreißig Prozent weniger Miete als marktüblich.“

Die durchschnittliche Wohnfläche: 27,5 Quadratmeter pro Kopf. Die Regel: Maximal ein Zimmer mehr als Köpfe pro Wohnung. Wenn Kinder ausziehen oder Paare sich trennen, kann das also bedeuten: Koffer packen und etwas Neues suchen. Rohner: „Wenn irgend möglich bieten wir eine Alternative.“

Soziales Wohnen durch Solibeiträge

Die Kalkbreite gehört zu den Projekten in Zürich, die beispielhaft zeigen, wie wohnen auch anders gehen kann: Bezahlbar. Sozial. Nachhaltig. Viel Öko-Baumaterial, kleine Wohnflächen, Autoverzicht ist Auflage für die Bewohner:innen. Stattdessen gibt es Leihfahrräder, Lastenvelos und Tageskarten für die Öffentlichen gratis. Wer für 1.200 Schweizer Franken – knapp 1.300 Euro – einen Anteilsschein kauft, kann sich bewerben. Eine Vermietungskommission sorgt für eine Mischung, die dem Schweizer Durchschnitt in puncto Einkommen, Bildungsgrad, Herkunft, Religion, Familienstand entspricht. Wer es knapp hat, bekommt einen Zuschuss aus der Soliabgabe von 25 Rappen pro Quadratmeter, die alle zahlen müssen. Rohner lacht: „Und die Leute müssen natürlich Lust auf die Wohnform haben.“

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Warum das geht? Weil die Stadt Genossenschaften massiv fördert. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wohnt zur Miete, die höchste Quote europaweit. 18 Prozent leben in Genossenschaften. Die Projekte werden mit Geld aus Förderfonds von Stadt, Bund, Kanton und einem privaten Stiftungsfonds unterstützt. Geld vom Staat bekommen nur Projekte, die sich auf eine „Kostenmiete“ verpflichten. Gewinn verboten. Und die Züricher:innen wollen mehr Genossenschaften. Gerade stimmen sie ab: über einen neuen Wohnraumfonds für gemeinnütziges und genossenschaftliches Wohnen. Die Chancen stehen gut.

2021 hat die Genossenschaft Kalkbreite noch ein Wohnprojekt fertiggestellt, auf einem ehemaligen Bahngelände. Doch auch in Zürich wird der Boden in öffentlicher Hand knapp. „Sonst würden noch mehr Genossenschaftswohnungen entstehen“, sagt Rohner. Sie selbst wohnt nicht in der Kalkbreite, aber in der Nähe. Und wie? „In einer Genossenschaft natürlich.“

Die Genossenschaft arbeitet an der Vision des solidarischen Wohnens. Foto: Genossenschaft Kalkbreite

Kooperative Stadtentwicklung fördern

Stadtbaurätin Frauke Burgdorff setzt in Aachen auf das Miteinander von Kommune, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

Diese Woche war wieder vollgestopft mit Entscheidungen und Debattenforen. Jetzt sitzt Frauke Burgdorff im Zug Richtung Aachen und atmet tief durch. An allen Ecken in der Republik ist spürbar, wie Stadtentwicklung und Wohnen die Gemüter erhitzt, wie das Ringen um bezahlbare Städte sich als eines der Topthemen tief reindrängt in den politischen Alltag. Frauke Burgdorff mittendrin. Seit dreieinhalb Jahren ist sie Stadtbaurätin von Aachen und will etwas bewegen. Zum Beispiel: Alle Partner:innen an einen Tisch bringen, Kommune, Planer:innen, Unternehmen, Zivilgesellschaft, um gemeinsam Stadtentwicklung besser zu machen. „Wir müssen wohnen wieder mehr vom Quartier her denken, statt in Wohnkasernen“, sagt Burgdorff. Wer braucht was im Stadtteil, wie lassen sich Wohnungs- und Kiezplanung verzahnen? Von den Wohnformen bis zur Infrastruktur drumherum. Anlaufstellen für Junge, Alte, Familien, Start-ups, Fürsorge, Grünflächen. „Und alles gemeinsam entwickeln.“ Kooperative Stadtentwicklung nennt sich das, und sie könnte ein Hebel sein, um dem Ausverkauf der Städte etwas entgegenzusetzen.

Das alte Parkhaus in Aachens Altstadtquartier Büchel ist so ein Projekt. Burgdorf hat den kooperativen Planungsprozess als Stadtbaurätin seit 2019 begleitet. Stadtmacherprozess nennt sie das. Dafür hat die Kommune mit einem Aufruf alle Player:innen des Quartiers zusammengetrommelt. 88 Menschen haben sich gemeldet, gemeinsam wurde Runde um Runde diskutiert, Ideen entwickelt, die Hälfte der Teilnehmenden legte konkrete Vorschläge auf den Tisch: Hier will ich investieren, hier mitmachen. Inzwischen wurde beschlossen: Auf dem Gelände des alten Parkhauses entsteht eine Wiese, umrahmt von nachhaltigen Neubauten und kleinem Gewerbe. Jetzt geht es an die Umsetzung.

Burgdorff kennt die Szene, die sich um die kooperative Stadtentwicklung rankt. Sie war Geschäftsführerin des Europäischen Hauses der Stadtkultur, Vorständin der Stiftung Urbane Räume in Bonn, hat in ganz Deutschland Kommunen, Bürger:innen und Wohnungsunternehmen beraten und Konzepte für eine professionelle Zusammenarbeit erarbeitet. “Es braucht viele Akteure, die nach einem gemeinsamen Kompass handeln.” Und starke Bedürfnisse wie das Netzwerk “ImmoVielien“, das sich für bessere Rahmenbedingungen für gemeinwohlorientierte Immobilien- und Stadtentwicklung stark macht. “

Die Stadt fördert Genossenschaften wie die Kalkbreite.

Foto: Genossenschaft Kalkbreite / Volker Schopp

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