Herr Popović, Herr Baumgärtler, Friedrich Wilhelm Raiffeisen wurde vor 200 Jahren geboren. In der Hochphase der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts hat er das ländliche Genossenschaftswesen aufgebaut – eine Alternative zum kapitalistischen Wirtschaften. Was machte Genossenschaften so attraktiv?
Thomas Baumgärtler: Die Gründung der ländlichen Genossenschaften war weniger eine Reaktion auf den Kapitalismus als vielmehr eine Strategie, um etwas gegen die Verarmung weiter Bevölkerungsteile auf dem Land zu tun. Für Bauern war es damals fast ausgeschlossen, Kredite aufzunehmen, um sich etwa Saatgut oder Geräte zu kaufen. Der Wucher blühte, Kreditverleiher verlangten astronomische Zinsen. Wer konnte sich das schon leisten? Raiffeisen wollte daran etwas ändern und den Bauern die Möglichkeit geben, aus eigener Kraft ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Für ihn war das eine Frage der Nächstenliebe, die logische Folge seines christlichen Menschenbildes. Schon früh hatte er erkannt, dass Hilfe zur Selbsthilfe ein guter Hebel ist, um die ökonomische Situation der Bevölkerung zu verbessern.
Tobias Popović: Zudem hatte sich die Lage der Bevölkerung durch den gewaltigen Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien zugespitzt, der in Mitteleuropa zu sinkenden Temperaturen und höheren Niederschlägen führte – mit gravierenden Folgen für die Landwirtschaft; vor allem in Süddeutschland verarmte die Bevölkerung. In den Städten schritt zwar die Industrialisierung voran, sich in den kapitalistischen Fabriken zu behaupten wurde für Arbeiter*innen jedoch immer schwieriger. Die Genossenschaften versuchten, auf diese gesellschaftlichen Probleme Antworten zu geben, die allen Mitgliedern der Gruppe dienten.
Schon vor der Industrialisierung gab es Formen gemeinschaftlichen Wirtschaftens, zum Beispiel die Allmende. Haben die Genossenschaften an solche Formen angeknüpft?
Popović: Die Allmende war eher eine Vorform des Sozialismus und hatte große Nachteile. Berüchtigt waren die Mitnahmeeffekte. Allzu oft versuchten Trittbrettfahrer*innen, die Früchte der Allmendewirtschaft zu ernten, obwohl sie nichts dazu beigetragen hatten. Deshalb appellierten Genossenschaften dezidiert an die Eigenverantwortung. Man erkannte, dass gemeinsames Wirtschaften nur funktioniert, wenn jeder solidarisch für sich und die anderen Verantwortung übernimmt.
Wie wurden die ersten Genossenschaften angenommen?
Baumgärtler: Für die Bauern auf dem Land und die kleinen Handwerks- und Handelsbetriebe in den Städten waren Genossenschaften eine Befreiung. Sie bekamen nicht nur bezahlbare Kredite, sie hatten auch erstmals die Möglichkeit, Einkaufs- oder Handwerkskooperationen zu bilden und so ökonomischer zu wirtschaften. Was Raiffeisen für die Landwirtschaft schuf, baute Hermann Schulze-Delitzsch für das Kleingewerbe im urbanen Raum auf. Schließlich war die wirtschaftliche Lage der Kleingewerbetreibenden nicht viel besser als die der Bauern …
Popović: … und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden dann immer mehr Wohnungsbaugenossenschaften als Reaktion auf die Wohnungsnot jener Zeit.
Genossenschaften bewährten sich also als Strategie, um Probleme einer Ära zu lösen?
Baumgärtler: Absolut, das ist eine Kernkompetenz von Genossenschaft. Sie reagiert auf einen Mangel und findet gemeinschaftliche Lösungen. Nicht zufällig haben sich die Formen von Genossenschaft im Laufe der Geschichte geändert. Erst entstanden Kredit-, Einkaufs-, Handels- und Handwerksgenossenschaften, später kamen Wohnungsgenossenschaften. Seit der Weltfinanzkrise sind Kreditgenossenschaften und Genossenschaftsbanken wieder attraktiver geworden, und seit zehn Jahren boomen Energiegenossenschaften. Neuerdings entstehen sogar Pflegegenossenschaften, Schulgenossenschaften und ärztliche Versorgungsgenossenschaften für den ländlichen Raum.
Was macht Genossenschaften denn so stark, dass sie solche Herausforderungen bewältigen können?
Popović: Es fängt beim Menschenbild an: Der Mensch ist eben nicht nur Homo oeconomicus, sondern auch Homo cooperativus. Und Genossenschaften setzen auf Kooperation, auf die Stärke vieler, die etwas gemeinsam voranbringen. Der Mensch ist auf Kooperation angewiesen, in der Familie, im Beruf, in der Wirtschaft. Denn nur so kann er Teil einer Gruppe bleiben. Zudem bringen Genossenschaften die Interessen vieler Anspruchsgruppen zusammen, die Ökonomie spricht von „Plattformkompetenz“. Sie bilden einen Hub, einen Knoten oder ein Netzwerk, das sich immer so neu zu konfigurieren versteht, dass die Gemeinschaft für alle Stakeholder eine Lösung findet. Und schließlich sind viele Genossenschaften ungeheuer wendig: Sie können sich dynamisch auf immer neue Anforderungen einstellen und sich durch Innovation schnell an wandelnde Verhältnisse anpassen.
Baumgärtler: Entscheidend für den Erfolg von Genossenschaften ist auch, dass Kund*innen und Eigentümer*innen – die Mitglieder – identisch sind. Man kann dies als doppelte Anreizstruktur bezeichnen: Das Management hat doppelten Druck, es muss beiden Interessen dienen. Deshalb sind die Genossenschaftsbanken auch vergleichsweise gut durch die globale Finanzkrise 2008 gekommen.
Sie mussten keine Staatshilfe in Anspruch nehmen?
Popović: Nein, europaweit nicht. Die spanischen Genossenschaftsbanken etwa, die 2008/09 zugleich noch mit den Folgen einer gewaltigen Immobilienkrise zu kämpfen hatten, haben aus eigener Kraft überlebt, während der Sparkassensektor des Landes in die Knie ging.
Was haben die Genossenschaftsbanken konkret anders gemacht?
Popović: Das genossenschaftliche Wertefundament und der doppelte Marktmechanismus haben stark disziplinierend gewirkt. Die Genossenschaftsbanken haben weniger risikobehaftete Geschäfte gemacht als viele andere Bankengruppen. Das konnten sie sich schlicht nicht leisten, denn die Mitglieder sind ja gleichzeitig die Eigentümer*innen. Natürlich handelten auch Genossenschaftsbanken nicht ohne Fehler. Doch durch Kapitalerhöhungen in mehreren Runden konnten sie sich selbst wieder aus der Schieflage befreien. Das genossenschaftliche Selbstverständnis schlug hier durch, also der Leitsatz: Wir wollen auf keinen Fall in staatliche Abhängigkeit geraten.
Wie wichtig sind die Grundgedanken des genossenschaftlichen Selbstverständnisses heute noch? Nicht jeder Mensch wird Mitglied einer Genossenschaft, weil ihm deren Prinzipien am Herzen liegen. Manche wollten einfach eine günstige Wohnung in Berlin.
Baumgärtler: Und das ist völlig in Ordnung. Eine Genossenschaft ist schließlich nicht gemeinnützig, sondern eine ökonomische Interessengemeinschaft. Laut Paragraph 1 des Genossenschaftsgesetzes schließen sich die Mitglieder zu einem ökonomischen Vorteil zusammen. Sie sind über einen gemeinsamen Geschäftsbetrieb verbunden.
Popović: Sicher gibt es auch Genossenschaften, die sich von ihren ursprünglichen Gedanken verabschieden – Fälle, wo etwa die Mitglieder nur noch auf die Dividende schielen, sich gar nicht mehr aktiv beteiligen und den gemeinsamen Wertekanon aus dem Blick verlieren. Dadurch rutschten einige dieser Unternehmen in die Krise; bei Coop als Extrembeispiel war das der Fall.
Wie lässt sich eine solche Entwicklung verhindern?
Popović: Durch die ständige Besinnung auf die genossenschaftlichen Werte. Wie sie das konkret schafft, muss jede Organisation für sich selbst rausfinden.
Baumgärtler: Es gibt allerdings einige Mechanismen, die die Mitglieder an den Zweck erinnern. Zum Beispiel das Prinzip der Rückvergütung: Je mehr Geschäft ich über meine Genossenschaft betreibe (also ihren ursprünglichen Zweck nutze), desto mehr monetäre Rückvergütungen bekomme ich. Dieses ursprüngliche Prinzip wurde in den 1970er- und 80er-Jahren oft zugunsten einer einfachen Dividende aufgeweicht. Aus aktiven Genoss*innen wurden nicht selten passive, rein finanziell beteiligte Anteilseigner*innen. Gewinnmaximierung war Zeitgeist, auch Genossenschaftsbanken wollten ihr Stück vom Boom des Bankenmarkts abhaben. Seit der Jahrhundertwende kehren nun viele Genossenschaften zu den alten Prinzipien zurück, sortieren Dividendenjäger*innen aus oder führen Bonussysteme für aktive Mitglieder wieder ein. Jeder Genosse soll wieder Kundin, Miteigentümer, Mitgestalterin sein.
Sind Genossenschaften heute wieder attraktiver geworden, auch bei jüngeren Leuten?
Baumgärtler: Noch sind die meisten Genossenschaftler*innen älter, das zeigen alle Studien. In der jüngeren Generation sind Begriff und Tradition in Vergessenheit geraten. Für viele hat die Institution Genossenschaft heute einen verstaubten Touch. Doch die Idee kehrt in anderen Formen mit starker Kraft zurück …
Popović: … zum Beispiel als Social Entrepreneurship. Sozialunternehmer*innen wollen soziale Innovation generieren, das ist eine urgenossenschaftliche Thematik. Denn was macht ein Sozialunternehmer? Er findet durch die kreative Zerstörung bestehender Strukturen Lösungen für gesellschaftliche Probleme, um mit Joseph Schumpeter zu antworten. Eine zentrale Eigenschaft des Sozialunternehmers ist dabei die intrinsische Motivation – wie beim Genossenschaftsmitglied. Beide arbeiten mit Gleichgesinnten für ein Ziel …
Baumgärtler: … und teilen ähnliche Werte. Wie wichtig Werte heute sind, merken wir bei den Studierenden – die suchen viel mehr nach Sinn als nach Geld, sehnen sich nach Familie, Gemeinschaft, demokratischer solidarischer Kooperation. Viele dieser Werte finden sie in Genossenschaften. Wenn wir ihnen von genossenschaftlichen Prinzipien erzählen, sind sie tatsächlich begeistert – erstaunlich, alles schon da gewesen! Und es hat sich sogar bewährt.
Welche neuen Formen von Genossenschaft entstehen denn derzeit – auch mit jüngeren Mitgliedern?
Popović: Im ländlichen Raum entstehen Genossenschaften für Schwimmbäder oder für den öffentlichen Nahverkehr. Sie springen immer dort ein, wo sich der Staat aus Leistungen zurückzieht, die dringend gebraucht werden. Zunehmend entstehen derzeit Innovationsgenossenschaften, die Stakeholder vor Ort zusammenholen – Handwerk, Kommune, Wissenschaft, Konsument*innen, Bildungsträger, Kreative –, um in genossenschaftlicher Form neue Ideen für die Zukunft einer Region zu entwickeln. Solche Genossenschaften fungieren zunehmend als Plattformen für Innovationen. Sie veranstalten Hackathons, bringen Lokalpolitiker*innen und Bürger*innen zusammen.
Stehen wir also vor einer Renaissance des Genossenschaftswesens?
Popović: Möglicherweise, erste Anzeichen dafür gibt es. Das liegt auch daran, dass wir in unserer komplexen, globalen Welt mit ihren schnellen, unvorhersehbaren, dynamischen Veränderungen mehr denn je Organisationsformen brauchen, die agil und flexibel das Kreativitätspotenzial vieler Köpfe für einen gemeinsamen Zweck zu nutzen verstehen. Genossenschaften können das besser leisten als viele andere Organisationsformen.
Ökonom Tobias Popović: „Genossenschaften setzen auf Kooperation, auf die Stärke vieler, die etwas gemeinsam voranbringen.“