Kommentar

Kein Bodyshaming in der Coronakrise!

Die Warnungen vor dem After-Corona-Body sind gefährliches Bodyshaming. Denn die Krise zeigt: Es ist nicht unsere Kleidergröße, die jetzt wirklich zählt.

Mein Teller wird politisch, die Fitnessmatte systemrelevant, die Kleidergröße kritisch. Iss weniger, aber gesünder, sagen mir Lifestyle-Magazine während der Coronakrise. Treibe mehr Sport, rät mir die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Und wehe, die Jeans zwickt trotzdem nach der Zeit der Selbstisolation in Jogginghosen!

Was für ein Unsinn, möchte ich schreien: Als hätten wir derzeit nichts Besseres zu tun, als in der Coronakrise um uns selbst und unsere Körper zu kreisen. Es ist höhnisch, von Menschen, die in Vollzeit im Homeoffice schuften, während sie vielleicht ihre Kinder oder ältere Menschen versorgen, zu fordern: Kümmert euch um euren Bizeps, kurbelt die Kondition an und wehe ihr kocht nicht mit frischem Brokkoli, sondern mit Tiefkühlgemüse. Denn all das kostet – sowohl Zeit als auch Geld.

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur bewegen sich 38 Prozent der Erwachsenen in Deutschland während der Corona-Pandemie weniger, 12 Prozent gaben hingegen an, sie seien mehr in Bewegung als zuvor. 19 Prozent haben an Gewicht zugelegt, 8 Prozent haben abgenommen. Doch dünner ist keinesfalls gleich besser. Menschen, die eine Essstörung haben, kann die Krise gerade besonders zusetzen: Wo Halt gebende Routinen und soziale Kontakte wegbrechen, können sich Symptome verschlimmern. Und auch bei anderen psychisch Erkrankten sollte es jetzt um ihre Gesundheit gehen, statt um Schönheitsideale.

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Es sollte verdammt noch mal egal sein, welchen Körper ich haben werde, sobald ich wieder raus darf in den Alltag jenseits meiner eigenen vier Wände. Aber ich weiß auch: Ich habe das Privileg, nicht ständig für mein Körpergewicht kritisiert zu werden: Zu dick, zu dünn – ich bleibe von diesem gesellschaftlichen Druck meistens verschont. Und wenn ich mir nach der Coronakrise eine neue Jeans kaufen muss, dann kann ich mir das finanziell leisten. Mir ist bewusst, dass es für andere ökonomisch schwierig sein kann, neue Kleidung kaufen zu müssen, aber mit offline und online Secondhand-Angeboten schaffen wir hoffentlich auch das.

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Dafür ist es jedoch wichtig, sich gerade jetzt solidarisch zu zeigen. Vor allem mit Blick auf Menschen, die aufgrund ihres vermeintlich zu hohen (oder auch wegen ihres zu niedrigen) Gewichts massiv sozial stigmatisiert und wirtschaftlich diskriminiert werden. Denn sie werden auch jenseits von Krisen-Zeiten bei Bewerbungen benachteiligt, indem sie etwa aufgrund ihres Aussehens abgewertet werden, und finden ihre Kleidergrößen nicht in konventionellen Läden. Kürzlich wurde eine französische Studie medial vor allem damit zitiert, dass das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf einer Coronavirus-Infektion mit dem Body-Mass-Index (BMI) steige. Doch diese Annahme ist umstritten. So kritisiert etwa Christy Harrison, Anti-Diät-Ernährungswissenschaftlerin und Expertin für Health at Every Size, dass die Studie ethnische Zugehörigkeit, sozioökonomischen Status sowie die Qualität der Gesundheitsversorgung ausblendet. Doch Faktoren wie etwa struktureller Rassismus führten häufig zu gesundheitlichen Unterschieden zwischen Gruppen.

Es ist also keine Frage des Verhältnisses von Körpergewicht zu Körpergröße, sondern von Gerechtigkeit: Wen trifft die Pandemie härter? Wer hat die finanziellen und sozialen Ressourcen, um gut durch diese Krise zu kommen?

Aus der Perspektive von Menschen, die sich selbst als dick bezeichnen, spricht etwa Melodie Michelberger. Die 41-jährige Hamburgerin setzt sich für eine diverse Darstellung von Körpern ein und bezeichnet sich als Body-Image-Aktivistin. Auf Instagram prangert sie das massive Bodyshaming in der Corona-Pandemie an: „Der After-Corona-Body sieht meistens so aus, wie mein Körper schon vor Corona ausgesehen hat: Dicke Schenkel, runder Bauch, schwabbelige Arme, Doppelkinn. (…) wovor haben all diese Menschen eigentlich genau Angst? Dass sie nach drei Schokoriegeln auf dem Sofa aussehen wie ich? Nach dem Motto, DEIN Körper wäre echt das allerschlimmste, was MIR passieren könnte.” Die Aktivistin kritisiert „Mainstream-Schönheitsideale und Schlankheitsfixierung” in dieser Krise: „Wieder steht der Körper im Mittelpunkt bzw. das vermeintlich richtige oder falsche Aussehen und die Auffassung, dass Menschen abseits des normierten Idealkörpers einfach nicht hart genug an sich gearbeitet haben.”

Die Vorstellung, an sich arbeiten zu müssen, ist extrem problematisch. So betont Christy Harrison etwa grundsätzlich, dass wir Sport nicht dazu missbrauchen sollen, um zu kompensieren, was wir essen. Die Ernährungswissenschaftlerin lehnt nicht Sport und Bewegung ab, sondern deren Zweckentfremdung. Sie schreibt, wie wichtig es ist, gerade jetzt mitfühlend mit sich selbst zu sein, darauf zu achten, genug Nahrung aufzunehmen – und sich nicht darum zu sorgen, ob das alles „ausgewogen” sei. „Essen kann uns in Zeiten der Unsicherheit Liebe geben.” Man solle Essen gerade jetzt viel positiver wahrnehmen: „Es ist eine Verbindung zu anderen, zu deiner Kultur, zu deiner Geschichte – insbesondere wenn du physisch gerade weit von deinen geliebten Menschen weg bist.”

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Und genau darum geht es. Nicht darum, dass wir mit gestählten und Schönheitsidealen unterworfenen Körpern aus dieser Krise gehen. Sondern darum, dass wir uns gerade jetzt darauf besinnen, was wirklich zählt im Leben. Nämlich, dass wir dankbar dafür sein können, wenn wir einen Körper haben, den wir als Instrument verstehen und einsetzen können, um uns bestmöglich durch unser Leben zu bewegen – und sei das im Frühjahr 2020 häufig einfach nur vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer und zurück. Dass wir dankbar dafür sein können, wenn wir die Wochen, vielleicht Monate der wirtschaftlichen Unsicherheit finanziell sicher überstehen. Und dass wir und unsere Familien und Freund*innen trotz sozialer Distanzierung psychisch und körperlich gesund bleiben. Ganz egal in welcher Kleidergröße.

dini/Unsplash

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