Morgens um neun in Berlin-Moabit. Schnellen Schrittes überquert die Frau mit dem Pippi-Langstrumpf-roten Haar die Kirchstraße, einen Becher Möhrenmultivitaminsaft in der einen, das Handy in der anderen Hand, der Mantel wehend. Ruft schon von Weitem: „Guten Morgen, schön, dass Sie da sind.“ Ein Blick auf die Uhr. „Jetzt aber schnell, wir müssen hoch.“
European Democracy Lab. Ein heller Altbau, erster Stock. Im Flur Flyer, an den Wänden Plakate: F(EU)ture Festival. Die Mitarbeiter des Thinktanks sitzen schon an den Laptops, checken Rednerlisten, treffen letzte Absprachen. Das Lab feiert seinen fünften Geburtstag. Zwei Wochen lang Vorträge, Theater, eine Ausstellung in Kreuzberg.
Denn Ulrike Guérot will ihre Botschaft so laut wie möglich ins Land rufen: Wir brauchen ein neues Europa. Ihr Mantra: ein Markt, eine Währung, eine Demokratie. Heißt: gleiches Wahlrecht, gleiches Steuerrecht, gleiche Sozialleistungen, von Riga bis Athen, von Lissabon bis Warschau.
„Nur wenn alle Bürger gleich sind vor dem Recht und gemeinsam über Markt und Geld entscheiden können, kann so eine Union funktionieren, nur dann werden sie die Bürger auf Dauer wollen“, sagt Guérot. „Gleichheit vor dem Recht – ohne geht keine Demokratie. Cicero nannte das: Republik.“ Eine Europäische Republik.
Endlich findet sie einen Resonanzboden
Seit gut fünf Jahren zieht Ulrike Guérot mit dieser Botschaft durch die Lande. 2016 fasst sie ihre politische Utopie in ein Buch: „Warum Europa eine Republik werden muss!“ Es löste einen Sturm aus, der Guérot fast selbst hinwegfegt. Jeder will sie auf der Bühne haben, Vorträge, Pressetermine, TV-Debatten, neunzig Anfragen im Monat. Guérot lässt sich vom Sturm tragen, bis heute. Endlich hat sie einen Resonanzboden.
Sie lebt aus dem Koffer, Wien, Berlin, Brüssel, Paris, hat Termine in „deutschen Städten, von denen wusste ich gar nicht, dass es sie gibt“. Kino? Freizeit? Durchatmen? Keine Zeit. „Ich nehme das Handy mit aufs Klo.“ Guérot lacht. Manchmal wird es ihr selbst schwindelig. „Ich fühle mich wie in einem Staubsauger.“
Aber sie kann und will nicht anders. Europa ist Topthema, durch die Krisen der vergangenen Jahre in die Wohnzimmer gespült. Nun die Europawahl. „The moment is now.“ Undenkbar, ihn verstreichen zu lassen.
Der erste Pressetermin. Podcast-Interview. Wie soll das konkret gehen mit der Republik, Frau Guérot? Sie erzählt von Zehnjahresplänen, europäischen Steuer- und Sozialversicherungsnummern, Stichtagsregelungen. Präzisiert Unterschiede zwischen Eurozone und EU 28, skizziert harte Aushandlungsprozesse über die Höhe von Mindestlohn und Arbeitslosengeld, schildert wie über „sozioökonomische Anpassungsprozesse die nächsten Alterskohorten in das neue europäische Konstrukt hineinsozialisiert werden könnten“. Klar, der Weg zur Republik ist kein Spaziergang. „Aber beim Marathon ist auch das letzte Stück das schwerste – die Läufer schaffen es trotzdem.“
„War ganz gut, oder?“, sagt Guérot und lässt sich auf das weiße Sofa sinken. Manchmal lädt sie zum Sofatalk ins Lab. Und die Leute kommen, selbst nach Moabit. Links deutsch-türkische Muskelboys im Fitnessstudio, rechts ein veganes Café. Ein Schmuddelstadtteil im Umbruch, das passt genau zu Guérots Konzept: Neue Wege wagen, wie mit der Republik.
Die EU – eine Baustelle
Dabei hätte sie Europa beinah aufgegeben. Als im Juni 2012 der EU-Gipfel Eurobonds und Fiskalunion eine Absage erteilt, zerriss es ihren Glauben an die EU. Was machten die Deutschen da, wieso waren sie so verbissene Gegner dieser Maßnahmen? Wie sollte die EU ohne diese Reformen weiterbestehen?
Jahrelang hatte Guérot damals schon für Europa gearbeitet. Beim Jacques Delors Institut in Paris, bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, beim European Council on Foreign Affairs. Hatte haufenweise Policy Paper geschrieben. Im Juni 2012 wird Guérot klar: Die EU packt das nicht. Europa kann mich mal. In einem eigenen Blog schreibt sie sich den Frust vom Leib, im Job kriselt es. „Ich bin aus meinem eigenen Film gesprungen.“
Dann ist da dieser Abend mit einem guten Freund. Rotwein, Brainstorming. Zwei Tage später schickt ihr der Freund das Ergebnis per Post: 500 Postkarten mit dem Schriftzug „The European Republic is under Construction“. Das ist es. Guérot verkauft ihre Berliner Wohnung, findet einen Förderer, baut das Lab auf. 2016 bekommt sie einen Ruf an die Donau-Universität Krems, als Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung.
„Die CDU-Schelle saß fest auf meinem Kopf“
11 Uhr. Interview mit dem Gesellschaftsmagazin Epilog. Ulrike Guérot und die Linke. Links? In ihrer Jugend waren das die Feinde. Ihr Vater, CDU-Ratsherr in einem kleinen Ort am Rhein, sitzt mit Bier in der Hand vor der Tagesschau und schimpft über die Sozis. Tapeziert ihr Jugendzimmer mit CDU-Wahlplakaten, die „CDU-Schelle saß fest auf meinem Kopf“. Sie engagiert sich später im Studium beim RCDS in Bonn, wird Vorsitzende, prügelt sich mit Spartakisten, die RCDS-Plakate abreißen. Das Konservative ist ihre politische Heimat, seine Kultur des Miteinanders – Tagesordnung, Abstimmung, Hierarchie – hat sie geprägt. Doch irgendwann, vor zehn Jahren vielleicht, merkt Guérot: Es sind gar nicht mehr die Konservativen, die meine Positionen teilen, es ist die Linke. Die Republik hat sich verändert. „Positionen, die früher in der Mitte verhandelt wurden, haben sich an den Rand verschoben.“ Nur: Die Linke packt es nicht mehr. Sie löst die sozialen Probleme nicht. „Wie sagte Walter Benjamin? Jeder rechten Regierung geht eine verpasste linke Revolution voran.“
Ein Schluck Wasser, Lippenstift nachziehen. Ein TV-Team von Arte steht schon vor der Tür. Tische werden in fernsehtaugliche Position gerückt, Guérot macht einen Kopfstand. „Einmal am Tag muss ich die Welt auf dem Kopf sehen.“ Herz steht über Hirn, Emotion über Ratio, das hilft. Yoga ist Guérots Lebensstütze. Als Ende der 90er-Jahre ihre Ehe mit dem Franzosen Olivier Guérot zerbricht. Als 2012 die Verzweiflung über Europa in ihr Leben stürzt, sie beruflich vor dem Nichts steht. Den Körper loslassen, den Geist loslassen. Ohne die Yogamatte im Koffer geht es nicht.
Die Ton-Angel wippt, Licht an. Frau Guérot, was wäre, wenn es den Euro nicht mehr gäbe? „Es dürfte turbulent werden, es weiß ja keiner, wie man aus Europa-Rührei wieder nationale Eier macht …“ Lärmend fährt ein Krankenwagen vorbei. Bitte nochmal. „Es dürfte turbulent werden …“ Längst ist Ulrike Guérot zu einer Thesenmaschine geworden, die, einmal angeworfen, auf Hochtouren läuft. Schnell, präzise, davongetragen von der Freude an der Erkenntnis. Habermas, Fichte, Giddens, Tucholsky, Platon, Marx, en passant serviert wie ein leckerer Zwischensnack. Darf eine Wissenschaftlerin das überhaupt? Sich so vehement in den Ring der öffentlichen Debatte begeben? Guérot rollt die Augen. Sie kennt die Ohne-meinen-Datensatz-geht-nix-Fraktion. Und erwidert: „Sie muss. Wozu ist Wissenschaft, wenn nicht relevant?“
Europäerin mit Haut und Haaren
Dieses Selbstbewusstsein ist Guérot nicht in den Schoß gefallen. Geboren 1964 als Ulrike Hammelstein in Grevenbroich, nahe der holländischen Grenze. Es ist keine unbeschwerte Kindheit, die Kriegserfahrungen sitzen den Eltern noch in den Knochen. Eine Ehe aus Zufall, notdürftig zusammengehalten vom mühsam ersparten Reihenhaus, zwei Kindern und dem Automatismus eines bürgerlichen Lebens im Westdeutschland der 60er-Jahre. Urlaub an der Nordsee, nach Bayern zum Wandern, Schwimmverein, Tischtennis, Basketball. Bildung ist Nebensache. Die Eltern kommen aus Arbeiterfamilien, keiner hat studiert. Doch Guérot ist wissenshungrig, Klassenbeste. Und es ist ein Zufall, durch den sie bei Bekannten des Vaters die Frankfurter Allgemeine entdeckt. „Sie war mein Tor in die Welt.“
Im Gymnasium merkt sie: Ich bin anders. Die Freundinnen stricken, sie liest Camus und Sartre. Mit 14 will sie Auslandskorrespondentin werden, mit 15 gewinnt sie mit einem politischen Hörspiel den 3. Preis in einem bundesweiten Schülerwettbewerb. „Nur weil du beim Bundespräsidenten eingeladen bist, bekommst du aber keinen neuen Rock“, sagt die Mutter. Geld ist einfach nicht da. Ohne ihre Lehrer wäre sie wohl nie so weit gekommen. Sie sorgen dafür, dass Guérot nach dem Abi studieren darf. Doch auch dort bleibt sie der Sonderling. Ein wildes rothaariges Mädel mit der immer gleichen braunen Cordhose. Und der Sehnsucht nach Frankreich, dem Land von Liebe und Coco Chanel, von dem ihre Oma ihr immer erzählt hatte. Guérot schafft es an die Sciences Po in Paris. Dort lernt sie ihren Mann kennen. Mit 24 hat sie zwei Söhne und eine Promotion. Und ist Europäerin mit Haut und Haaren.
Ein neuer Nationenbegriff – Jetzt doch
Natürlich, wer sich so aus dem Fenster lehnt wie Ulrike Guérot, erntet auch Kritik. „Schrille Pamphletliteratur“, schrieb „Die Welt“. Kritik auf Social Media gehört zu ihrem Alltag, hin und wieder liegen sogar Drohbriefe im Briefkasten der realen Welt. „Sie Hexe gehören auf den Scheiterhaufen.“ Sie hat gelernt, es abprallen zu lassen. Und genau hinzuhören, wo die Kritik berechtigt ist. Es hätte nicht passieren dürfen, dass sie in Artikeln mit dem Schriftsteller Robert Menasse Zitate ungeprüft übernahm – sie waren falsch. „Ich kann mich nur entschuldigen.“
Oder weiterdenken, wenn es um die Kritik an ihrer Argumentation geht. Ist die „Nation“ tatsächlich überholt? Anfangs ist sie stürmisch mit ihren Positionen durchmarschiert. Heimat? Nation? Für sie sind das a) unklare b) zu emotionale Begriffe, die nichts mit einem politischen Projekt zu tun haben. „Das warme Gefühl, wenn ich an Kirmes und Karneval in der Heimat denke, hat für mich nichts mit der Konstruktion einer Republik Europa zu tun.“ Mittlerweile hat Guérot erkannt: Sie kann nur bedingt trennen, wenn sie andere Menschen mitnehmen will. „Nachnational ist für viele offenbar so appetitlich wie für Fleischliebhaber vegan.“ In ihrem neuen Buch, das Ende Juni erscheint, versucht sie sich an einem Nationenbegriff jenseits von Identität und Heimat – ein Wohlfahrts- und Verfassungspatriotismus.
Es ist Abend geworden. Im Taxi geht es zum Festival. Die Bilder des European Balcony Projects sind ausgestellt, mit einer europaweiten Kunstaktion inszenierte Guérot im November 2018 die Ausrufung der Europäischen Republik. Heute Abend ist Debattenrunde: Diskussion mit der jungen Europapartei Volt. Gleiche Sozialleistungen? Wie soll Europa das finanzieren? „Die Wirtschaft muss ran“, sagt Guérot. „There is no free lunch.“ Die Beine übereinandergeschlagen, die Locken im Nacken verknotet, sieht sie im Abendlicht aus wie eine Studentin. „Ich bin doppelt so alt wie ihr und hätte nie gedacht, dass wir 27 Jahre nach Maastricht noch mal die EU in Frage stellen würden.“
23 Uhr, müde nimmt Guérot einen Schluck aus der Bierflasche. Aufgeben? Keine Option. Es ist, so scheint es manchmal, vielleicht nicht nur die Liebe zu Europa, die sie weitertreibt. Schon gar nicht, so sieht sie es selbst, ist es irgendwie heldenhaft. Sondern eher etwas wie Bürgerpflicht. „Ich sehe einfach, hey, die Debatte läuft schief und ich muss sie zurechtrücken.“ Ein Diskussionsangebot. Anders formuliert: „Die EU kracht gerade zusammen und ich säe die Saat der Europäischen Republik.“ Ob sie aufgeht? „Das liegt nicht mehr in meiner Hand. Wie Václav Havel sagt: ‚Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.‘“
Der Weg zur Europäischen Union ist kein Spaziergang