Nachhaltiger Tourismus in Italien

Alberghi Diffusi: Ein Hotel verteilt im Dorf

Die engen Gassen sind der Hotelflur, das Restaurant um die Ecke ist der Speisesaal: Dass Touristen Tür an Tür mit Einheimischen leben, ist das Konzept der „Alberghi Diffusi“. In etwa 100 Dörfern und kleinen Städtchen Italiens gibt es Hotels, deren Zimmer über einen ganzen Ort verstreut sind, um ihn wieder zum Leben zu erwecken

Jetzt keine Scheu! Unser Italienisch reicht zwar nur für ein wackliges „buongiorno Signore“. Doch was soll’s: Seine Nachbarn muss man auf dem Weg zum ersten Cappuccino des Tages natürlich herzlich grüßen, um nicht als unhöflicher Teutone abgestempelt  zu werden. Die drei Damen in ihren bunten Sommerkleidern, die über die Via Aprile herrschen, eine blitzsaubere, blumengeschmückte Gasse in der Altstadt von Locorotondo, antworten mit einem Wortschwall. Mamma mia!

Später hilft eine Passantin beim Übersetzen, doch zunächst versteht man sich auch ohne Worte. Cosimina, mit 67 Jahren die Jüngste der Frauen, legt das blaue Wollknäuel und die Nadel beiseite. Der Priester, dem sie vor ein paar Tagen einen gehäkelten Einband für seine Bibel versprochen hat, muss warten. Sie verschwindet in ihrem Häuschen mit der weiß gekalkten Fassade, holt aus der Küche zwei weitere Stühle für die Besucher, und stellt sie zur Runde aufs polierte Steinpflaster.

Der Ortskern von Locorotondo ist autofrei, da kann man noch auf der Straße leben. Ihre Nachbarinnen Angela und Tonina, beide 77, legen schon mal los mit der Fragerei. Woher wir kommen? Wie lange wir hier sein werden? Und ob wir Tipps brauchen? Angela, Cosimina und Tonina sind guter Laune: Endlich ist wieder etwas los an ihrem Stammtisch vor dem Haus in der Via Aprile 82.

Das war nicht immer so. Noch vor 20 Jahren wollte kaum jemand mehr im historischen Zentrum von Locorotondo wohnen, hier im Hinterland der Städte Bari und Brindisi in Apulien. Wer das Geld hatte, zog in die Neubausiedlungen der Umgebung. Dort waren die Wohnungen komfortabler ausgestattet als in den jahrhundertealten Häuschen mit ihren charakteristischen Spitzdächern aus Natursteinen.

Touristen zum Reden

Heute wohnen hier wieder tausend Menschen. Entlang der Umgehungsstraße mit dem weiten Blick über die Weinberge ins Valle d’Itria, dessen kegelförmige Trulli-Rundhäuser zum Unesco-Welterbe zählen, haben so viele neue Bars und Restaurants eröffnet, dass zur Mittagszeit und am Abend eine Fußgängerzone eingerichtet wurde. Auch ins Zentrum kommen immer mehr Touristen. Und damit immer mehr Leute, mit denen die Damen reden können. Oder zumindest über sie. Das liegt am Unternehmer Angelo Sisto und seiner Frau Teresa Salerno, die eine besondere Unterkunft eröffnet haben.

Ihr „Sotto le Cummerse“ ist kein klassisches Hotel. Zwar gibt es am Ortseingang von Locorotondo eine Rezeption. Doch statt per Aufzug kommt das Gepäck per Lastenfahrrad ins Zimmer. Die Appartements verteilen sich auf elf historische Häuser. „Albergo Diffusso“ heißt das Konzept, bei dem eine ganze Gemeinde zum Gastgeber wird und man als Besucher Tür an Tür mit den Einheimischen wohnt.

Die Idee stammt vom Hotelmanager Giancarlo Dall’Ara. „1976 hatte ein Erdbeben viele Dörfer in der norditalienischen Region Friaul Julisch-Venetien verwüstet“, erzählt er. „Die Häuser wurden wieder aufgebaut, standen aber trotzdem leer, weil viele Bewohner im Laufe der Jahre wegzogen.“

Entvölkerte Dörfer gibt es auch in vielen anderen ländlichen Regionen Italiens, weil die Jungen dort keine Arbeit finden und nur noch die Alten ausharren. Mit einem nachhaltigen Tourismuskonzept könnte man solc…

Titelbild: Good Travel

Alberghi Diffusi haben keine Restaurants – Gäste sollen in Lokalen des Ortes essen. Tipps gibt es an der Rezeption oder von den drei Nachbarinnen aus der Via Aprile. Schon Fava probiert? Oder die Sieger-Pizza des weltbesten Pizzaiolo?

Helge Bendl

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