Familie 2020

Was Familie heute bedeutet

Früher war die Familie vor allem Versorgungsgemeinschaft – und wies ihren Mitgliedern eine gesellschaftliche Rolle zu. Heute heißt ihre Kernfunktion: emotionaler Halt. Das erklärt auch, warum Familie einen so hohen Stellenwert hat

Neulich war wieder so ein Abend, wie ihn Virginie und Matthias so gerne mögen. Die Miesmuscheln dampften auf dem Herd, die Pommes lagen im Ofen, Wein und Apfelschorle standen auf dem Esstisch. Um ihn herum vier Kinder, zwei Eltern, ein Onkel, eine Cousine. Plaudern, essen, Quatsch machen. Und, wie an diesem Abend, gemeinsam Geburtstag feiern, den von Jona. „Es war herrlich“, sagt Virginie. „Lustig, gemütlich, mit viel Zeit zu reden“, sagt Matthias. „Einfach Familie“, sagen beide.

Berlin Mitte, Brunnenstraße. Eine Altbauwohnung mit Dielen und hohen Fenstern. Seit zwölf Jahren leben Virginie und Matthias hier mit ihren Kindern. Eine klassische Patchworkfamilie. Da sind Virginies Töchter Lisa und Jeanne, 20 und 17 Jahre alt, da ist Matthias Sohn Jona, 19. Dass die drei tageweise – und nach ausgetüftelten Sharing-Modellen – zu den Patchworkfamilien ihrer anderen leiblichen Elternteile pendeln, mindert die Intensität des Familienlebens in der Brunnenstraße nicht. Aber Rituale sind in einer neu entstandenen Familie vielleicht noch wichtiger – wie das gemeinsame Abendessen mit allen, die da sind. Tom ist immer dabei, die Nummer vier im Bunde, der siebenjährige Sohn von Virginie und Matthias. Sie sagt: „Er hat unsere neue Familie endgültig besiegelt.“

Eine Patchworkfamilie aufzubauen kostet Kraft. Man muss mit Geduld und Fingerspitzengefühl an der neuen Gemeinschaft arbeiten, unterschiedliche Erziehungsstile angleichen, Werte neu aushandeln, Konflikte und Unsicherheiten überwinden. Aber es lohnt sich, findet Matthias. „Familie gibt Wärme und Schutz. Wo sonst kann man schon etwas so Positives aufbauen, das irgendwann selbst zu laufen beginnt?“ Virginie ergänzt: „Ohne Familie geht es für mich nicht. Ich verstehe sie als bedingungslose Liebe, Zusammenhalt und eine Gemeinschaft, die riesig Spaß macht.“

Wie wichtig ist Familie heute?

Familie 2018 – es scheint, als habe sie nicht an Attraktivität verloren. Dabei war der Abgesang auf die Familie jahrelang groß. Soziologen sahen Anzeichen für ihren Zerfall; in Zeiten steigender Scheidungsraten schien das Modell der Lebensgemeinschaft Familie als Kernzelle der Gesellschaft immer weniger tragfähig. Und wozu sich eigentlich lebenslang auf ein Lebensmodell verpflichten, dass nicht mehr überlebensnotwendig ist? „Jahrhundertelang war die Familie eine Versorgungsgemeinschaft“, sagt die Bochumer Familienforscherin Birgit Leyendecker. „Sie sicherte die Familienmitglieder ökonomisch ab und definierte ihren sozialen Status sowie ihre Rolle in der Gesellschaft.“ Beides hat heute an Bedeutung verloren. Staatliche Systeme übernehmen weitgehend die soziale Absicherung. Auch der normative Rahmen hat sich in unserer individualisierten Gesellschaft längst erweitert.

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Titelbild: Henrique Macedo / Unsplash

Die Familie wandelt sich – trotzdem ist sie so wichtig wie eh und je

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