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Die Wellen des Atlantiks schäumen. Mit dem Wind als Gefährten segelt ein Schiff namens La Montaña einsam über den Ozean. Die siebenköpfige Crew schaut ungeduldig gen Horizont, wo schon bald Land in Sicht sein sollte. Im Gegensatz zu Christoph Kolumbus, der vor 500 Jahren in die entgegengesetzte Richtung aufbrach, weiß diese Crew, wohin sie segelt – nach Europa. Viel wichtiger noch ist ein weiterer Gegensatz zu Kolumbus: Diese Crew kommt in Frieden.
Es ist der Sommer 2021. Zusammen mit Vertreter:innen indigener Gemeinschaften sind die Zapatistas auf eine Welttournee aufgebrochen, die sie „die Reise für das Leben“ getauft haben und auf der sie auf den Zusammenhang von Kapitalismus und Kolonialismus aufmerksam machen wollen. Die Zapatistas sind eine Bewegung, die nach dem mexikanischen Aufständischen Emiliano Zapata benannt ist. Sie entstand 1994, als Mexiko dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Nafta) beitrat. Die Bewohner:innen der ländlichen Region Chiapas im Süden Mexikos befürchteten den Ausverkauf an Großkonzerne aus dem Norden und traten in den Aufstand. Im Gegensatz zu vielen Regionen auf dem amerikanischen Doppelkontinent, die indigen oder Schwarz geprägt sind, konnten sich die Menschen in Chiapas ein Stück Kontrolle über ihre Produktion zurückerkämpfen.
Um zu verstehen, wie wir hier gelandet sind, müssen wir in die Zeitmaschine steigen. Wir gehen zurück bis in das 19. Jahrhundert. Stopp in der Wilhelmstraße in Berlin. Pferdekutschen holpern über die Straßen, hinter den Mietskasernen steigt Rauch aus den Fabrikschornsteinen. In den Tagen zwischen November 1884 und Februar 1885 treffen hier bei der Afrika-Konferenz die Mächtigsten der Welt aufeinander. Es sind die europäischen Länder, die USA und das Osmanische Reich. Viele der Nationen sind bis aufs Blut verfeindet, doch sie haben ein Thema zu besprechen, das die Zukunft der Welt prägen wird. Denn in Berlin teilen diese Konkurrenten einen ganzen Kontinent unter sich auf, um an dessen Ressourcen zu kommen. Ressourcen, die die Industrialisierung vorantreiben werden. Vom Kontinent, um den es dabei geht, ist niemand in Berlin dabei.
Zeitalter des Imperialismus
Ein solches Vorhaben bedarf einer Begründung. In der Präambel der General-Akte, die den „Geist“ der Konferenz zusammenfassen soll, finden sich gleich zwei zentrale Hinweise. Erstens soll ein Fundament für den Handel zwischen den kolonialisierenden Ländern gelegt und zweitens die indigene Bevölkerung „zivilisiert“ werden. Die folgenden Jahrzehnte sind als Zeitalter des Imperialismus bekannt. Sie werden den afrikanischen Kontinent nach der Sklaverei ein zweites Mal komplett umgestalten, unter Anwendung massiver Gewalt. Um das zu rechtfertigen, mussten die Kolonisatoren den kolonialen Subjekten ihr Menschsein aberkennen. Diese Aberkennung kennen wir noch heute, sie hat einen Namen: Rassismus.
Die Kolonialisierung treibt vor allem eine Wirtschaftslobby voran, bestehend aus wohlhabenden Handelsleuten und Industriellen. Sie setzen sich dafür ein, mit dem Schutz der Reichsarmee in die Welt hinauszusegeln und Verträge mit den Gemeinschaften auszuhandeln, die auf deren Enteignung hinauslaufen. Das funktioniert ähnlich wie Erpressung bei der Mafia. Die Deutschen kommen, Waffen und Verträge in der Hand, und bieten den Gemeinschaften „Schutz“ an. Wenn diese nicht unterschreiben, drohen sie mit ihrer militärischen Überlegenheit. Wird unterschrieben, pflanzt die Schutzmacht die Fahne in den Boden, und die Kolonialisierung kann beginnen. Um die Menschen zu zwingen, die begehrten Ressourcen abzubauen oder auf den Großplantagen zu arbeiten, führen die Kolonialmächte Steuern ein, die sie mit Gewalt eintreiben. Auf den Plantagen und in den Minen werden nun Güter produziert, die in den Kernländern des Imperialismus die Konsumlust eines florierenden Bürgertums stillen und die Großgrund- und Fabrikbesitzer bereichern. Solche Güter haben teilweise ganze nationale Identitäten gestiftet: Was wäre die Schweizer Schokoladentradition ohne die Arbeit der Kakao-Bäuerinnen und Bauern in Ghana und Côte d’Ivoire? Was die Wiener Kaffeehauskultur ohne den Kaffeeanbau in Kenia?
Die Zeitmaschine müsste noch einige Male angeschmissen werden, wollen wir die Tragweite von Imperialismus und Kolonialismus verstehen. Wir könnten in die Karibik reisen, wo mit Kolumbus 400 Jahre iberischer Kolonialismus ihren Anfang nahmen. Oder zu Kaiser Wilhelms rassistischer Hunnenrede in Bremerhaven. Dort peitscht er die Massen und seine Armee an, denn dieselben Konkurrenten von 1884/85 haben sich wieder zusammengetan, um einen Aufstand gegen China niederzuschlagen und sich die Hafenstädte untereinander aufzuteilen.
Oder wir kehren einfach mal ins Berlin des 21. Jahrhunderts zurück, wo das Schloss des imperialen Preußens wieder aufgebaut wurde, um den Bürger:innen unter anderem Raubkunst zu präsentieren – wie im 19. Jahrhundert. Wir könnten rüberlaufen ins Regierungsviertel, wo sich eine Bundesregierung dafür auf die Schulter klopft, mehr als ein Jahrhundert später den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, nämlich den Völkermord der deutschen Kolonialmacht an den Ovaherero und Nama, anerkannt zu haben, aber an die Regierung Namibias (und nicht direkt an die Nachfahr:innen) nur Peanuts zahlen muss, nicht als Reparation, sondern als „Entwicklungshilfe“.
Kampf um Unabhängigkeit
Diese Geschichte ist nicht vollständig, ohne über die Widerstände zu sprechen, die es gegeben hat. Diese Widerstände nehmen vielfältige Formen an, führen etwa zu militärischen Auseinandersetzungen, Boykotts oder Massenstreiks. Trotz Verfolgung, Verbannung, Gefängnis und Ermordung gelingt es den Menschen in den kolonialisierten Ländern, ihre Unabhängigkeit zu erlangen und eigene Nationen zu gründen. Von ihren Erfahrungen geprägt, lobbyieren sie für die Anerkennung der universellen Menschenrechte und für eine Alternative zur internationalen Arbeitsteilung des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig exportieren die Länder des afrikanischen Kontinents immer noch vor allem Rohstoffe, wie schon 1884/85. Die Beziehung zwischen den ehemaligen kolonialen Metropolen der Welt und den ehemaligen Kolonien sind durch dieselben Hierarchien geprägt, die seinerzeit die Kolonialisierung ermöglichten. Selbst die Klimakrise trifft die Verursacher:innen und jene, die hauptsächlich unter ihren Folgen zu leiden haben, sehr unterschiedlich.
Wenn wir danach suchen wollen, was die Menschen in dieser hierarchischen Anordnung miteinander verbindet, dann müssen wir zunächst vor allem auf Dinge schauen: materielle Dinge wie Gemüse oder Autos oder immaterielle Dinge wie Reisen. Folgen wir der „Biografie“ dieser Dinge, dann finden wir dort nicht nur Statistiken darüber, wie viel CO₂ die Produktion emittiert. In ihnen steckt auch die Arbeit von Menschen – die Gewalt, die Ausbeutung –, aber ebenso der Widerstand, den es entlang dieser Lieferketten gibt. Dazu müssen die Menschen in Deutschland nicht weit schauen, es beginnt hier. Jährlich werden Zehntausende Arbeiter:innen aus Osteuropa ins Land gelockt, unter den schlimmsten Bedingungen untergebracht. Dort wird von ihnen erwartet, dass sie für Niedriglöhne, die ihnen zum Teil nie ausgezahlt werden, unseren Spargel ernten. Gleiches passiert auch mit Geflüchteten in Italien und Spanien, wo sie auf Farmen das Gemüse ernten, das in deutschen Supermärkten landet. International investieren deutsche Banken in Firmen, die ihr Geld mit Landraub verdienen. Und so bleibt eine weitere Kontinuität die Wirtschaftsordnung: Deutsche Firmen überall auf der Welt lassen weiterhin Knebelverträge unterschreiben und können sich dabei auf die Unterstützung ihres Staates verlassen.
Wollen wir etwas verändern, muss die Suche nach Ansätzen beim Widerstand gegen diese hierarchische Ordnung anfangen. In Deutschland gingen letztes Jahr die um ihren Lohn geprellten Spargelstecher:innen auf die Straße, obwohl sie keine Gewerkschaft haben. Sie zu unterstützen wäre nicht schwer gewesen. Auch in Spanien und Italien organisieren sich einige Arbeiter:innen in Basisgewerkschaften, um gegen die schlechten Arbeitsbedingungen anzukämpfen und laufen damit Gefahr, abgeschoben zu werden. Widerstand gibt es immer, bleibt die Frage, wie sich Menschen diesem Widerstand gegenüber positionieren. Kolonialistisch? Oder doch solidarisch?
Zum Autor
Auch bei Good Impact: Initiative gegen das Humboldt Forum: Wie können wir Kunst und Museen dekolonialisieren?Tschüss, Kolonialismus: Kollektiv handeln
Es gibt Verbindungspunkte, aber es braucht noch mehr die suchende Bewegung, die Handreichung, die Anerkennung dessen, was war, die Analyse davon, was ist, die Erkenntnis darüber, was kommen könnte und die Entschlossenheit, hier und jetzt kollektiv zu handeln.
Es braucht Einladungen wie jene an die Zapatistas, deren Segelschiff gegen Kolumbus und sein Erbe anfährt, Initiativen, die die Grenzen überschreiten, welche die kapitalistische Verwertungslogik errichtet. Wenn die Beziehungen durch die Dinge von oben hierarchisch aufgebaut sind, dann ist die Antwort, sie entgegen der Ströme demokratisch von unten zu gestalten. Letztendlich dreht sich alles Soziale um Beziehungen. Dort ist der Ansatzpunkt.
Der Autor
Paul Dziedzic ist Redakteur bei der Zeitung ak – analyse & kritik und arbeitet als freiberuflicher Journalist zu Themen wie Digitalisierung, Globalisierung und die Folgen des Kolonialismus.Die Illustratorin des Titelbildes
Diana Ejaita arbeitet als Illustratorin und Textildesignerin in Berlin. Geboren im italienischen Cremona, nigerianischer Herkunft, verhandeln ihre Werke (post-)koloniale Strukturen und Fragen der Identität. Ihre Ästhetik ist eine Hommage an ihre Abstammung.Dieser Text erschien in der Ausgabe Oktober/November 2021 mit dem Titel „Tschüss, Kolonialismus“.
Wie überwinden wir das koloniale Erbe, das bis heute tief in unseren Wirtschaftsstrukturen verwurzelt ist?