Lehren aus der Pandemie

Wie die Kulturwirtschaft sich neu erfinden muss

Die Kulturwirtschaft leidet mit am stärksten unter der Pandemie. Doch sie nutzt die Zeit der Krise auch, um sich nachhaltiger zu gestalten: und lernt Solidarität.

Die Seine lag still und glatt da, die unzähligen Sightseeing-Boote, die den Fluss im Herzen von Paris normalerweise bevölkern, blieben aus. Dafür trieben eines Nachts im Juli 2020 auf einmal 38 kleine Elektroboote mit roten Sonnendächern vor einer gigantischen Leinwand auf dem Wasser: Mit „Le Cinéma sur l’Eau“ hatte die Stadt ein Social-Distancing-Kino im Herzen von Paris ins Leben gerufen. Nach einem der härtesten Lockdowns in ganz Europa konnten die Parisien:nes endlich ein Stück Kultur erleben. Mit Abstand, umweltfreundlich und kostenlos.

In Paris wurde im Sommer 2020 ein Open-Air-Kino auf der Seine auf schwimmenden Elektrobooten eingerichtet: Eine Belohnung für das Durchhaltevermögen der Parisien:nes. Bild: Imago/IP3press

Kunst macht uns resilienter

Es wird gerne so getan, als sei in den vergangenen 1 ½ Jahren alles trist, leblos, eingefroren gewesen. Dass es immer wieder Lichtmomente gab, verdanken wir der Kreativität von Restaurants, Theatern, Streamingdiensten, DJs und Schriftsteller:innen. Wo Partys verboten und Reisen vielerorts nicht mehr möglich waren, blieb der kulturelle Raum eines der letzten Refugien der menschlichen Begegnung. Die zahllosen Streetart-Kunstwerke, Songs und Fotografien, die in der Coronakrise entstanden, ermöglichten uns nicht nur die Flucht vor, sondern auch eine Verarbeitung der Pandemie: die weltweit stattfindenden Balkonkonzerte spendeten im Lockdown Hoffnung, der poetische Vortrag der US-amerikanischen Dichterin Amanda Gorman zur Amtseinführung von Joe Biden rührte Millionen Menschen weltweit zu Tränen, weil sie uns mit ihren Worten ein Ventil für unseren kollektiv erfahrenen Schmerz bot. Im März brachen nach der Wiedereröffnung von Hamburg bis München die Server der Museen zusammen, weil so viele Menschen versuchten, Tickets zu bekommen.

Nicht umsonst ist die Freiheit der Kunst im Grundgesetz geschützt. Sie ist Austragungsort menschlicher Krisen und bietet Raum für Utopien, mit denen wir diese Krisen bekämpfen können. Ein Raum, der uns bildet, unterhält, in dem wir mit uns selbst in den Dialog treten können, ohne dass irgendjemand zuhört, der uns mit Ängsten und Sehnsüchten konfrontiert, in dem wir zusammen weinen, oder lachen – menschlich sein können.

Die Kreativwirtschaft macht in Deutschland ein vielfaches mehr Umsatz als die Bundesliga

Nimmt man uns die Möglichkeit dieses Ausdrucks, verarmen wir. Und zwar nicht nur seelisch. Die deutsche Kultur- und Kreativwirtschaft verzeichnete 2019 einen Umsatz von mehr als 174 Milliarden Euro und beschäftigt insgesamt rund 1,8 Millionen Erwerbstätige. Für 2020 und 2021 erhielt die Branche mit dem „Neustart Kultur“-Programm dennoch nur 2 Milliarden Euro Hilfen vom Bund. Ende Mai wurden immerhin weitere 2,5 Milliarden Euro für den Ausfall bei öffentlichen Events versprochen: Für viele kommt dieses Geld aber viel zu spät. Im Vergleich: Die Lufthansa bekam innerhalb weniger Monate vom Bund 9 Milliarden Euro, bei einem jährlichen Umsatz von 36 Milliarden Euro und 110.000 Mitarbeitenden. Die Bundesliga, die nur knapp vier Milliarden Euro Umsatz im Jahr macht, durfte stattfinden, während die meisten Kulturbetriebe durchgehend schließen mussten. Von den mittlerweile klar als Infektionsherden identifizierten Spielen der Fußball-Europameisterschaft ganz zu schweigen.

Unzureichende Maßnahmen in der Politik

Am schlimmsten traf es die darstellenden Künste, die in Deutschland nach dem ersten Coronajahr einen Umsatzeinbruch von 85 Prozent verzeichneten. In Berlin hat laut Landesmusikrat (Stand Mai 2021) knapp ein Drittel aller Musiker:innen den Beruf gewechselt oder will sich nun neu orientieren. Immer mehr unabhängige Kinos stehen vor dem Bankrott. Und nicht nur Schauspieler:innen, freie Schreiber:innen, Comedians und Tänzer:innen, sondern auch jene hinter den Bühnen, die oft unsichtbar und wenig wertgeschätzt als Türsteher:innen, Licht- und Bühnentechniker:innen und Schneider:innen die von uns so geliebten Spektakel möglich machen, erleben seit über einem Jahr ein faktisches Ausübungsverbot ihrer Berufe und werden immer mehr in die Armut gedrängt.

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In Deutschland wurde die Kulturbranche bis Juni 2020 quasi ignoriert: Die Hilfspakete, die dann endlich geschnürt wurden, schlossen freie Künstler:innen, die den Großteil der Branche ausmachen, praktisch aus. Zwar hat der Bund den Zugang zu Arbeitslosengeld für solo-selbstständige Kulturschaffende vereinfacht und gewährte auch Soforthilfe – diese darf jedoch nur für Atelier-Kosten oder Ähnliches ausgegeben werden, nicht zum Beispiel für Lebenshaltungskosten. Nur wenige Bundesländer legten freiwillig etwas drauf, zum Beispiel Hamburg, das allen Kulturschaffenden eine zusätzliche Soforthilfe von 2.500 Euro gewährte. Eine der wichtigsten Maßnahmen der Regierung: die Anpassung der Regelungen der Künstlersozialkasse (KSK), in der 190.000 Kreative in Deutschland versichert sind. Wer hier versichert sein will, muss mindestens 3.900 Euro im Jahr mit kreativer Arbeit verdienen. Gleichzeitig dürfen die Versicherten nicht mehr als 450 Euro monatlich mit nicht künstlerischer Arbeit verdienen. Beide Bedingungen sind für viele freie Kunstschaffende derzeit völlig realitätsfern. Die Zuverdienstgrenze soll daher auf 1.300 Euro erhöht werden, noch steht die Zustimmung des Bundesrates jedoch aus.

Kulturwirtschaft: Was kommt danach?

Ende Mai kritisierte das Forum Veranstaltungswirtschaft, eine Lobbyvereinigung der Branche, dass es noch kein bundesweites Go für Konzerte und Co. ab September gebe, obwohl bis dahin ein Großteil der Bevölkerung geimpft sei. In dem Brief heißt es: Die „meisten Veranstalter:innen haben ihre nicht selten bereits zum dritten Mal verlegten Veranstaltungen für den Herbst dieses Jahres bereits im Verkauf. Wenn auch diese Veranstaltungen erneut nur mit Abstandsregeln und damit nur unwirtschaftlich durchgeführt werden könnten, werden die Unternehmen dies trotz der diversen großzügigen Hilfsangebote wirtschaftlich nicht überleben.“ Rätselhaft bleibt auch: Warum mussten Museen und Bühnen trotz ausgefeilter Hygienekonzepte nach der Notbremse im März wieder schließen, während Büros und Friseur:innensalons weiterhin offen haben durften? Und warum durfte man zum Beispiel in Berlin in Buchläden einkaufen, aber nicht ins Kino gehen? Anders gesagt: Warum weigern wir uns, der Kultur den Stellenwert zu geben, der ihr wirtschaftlich zusteht?

Kulturwirtschaft: Hoffnungszeichen

Im April gab es ein kleines Hoffnungszeichen: Hier beschloss die rot-rot-grüne Berliner Regierung, dass Clubs, die für die Hauptstadt nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsfaktor sind, sondern auch Teil ihres Mythos, nicht mehr nur als bloße Vergnügungseinrichtungen zu betrachten sind, sondern ihnen rechtlich derselbe Stellenwert zukommt wie Theatern oder Opern. Die Clubs jubeln, denn nun haben sie einen leichteren Zugang zu Fördergeldern und müssen statt 19 Prozent nur noch 7 Prozent Mehrwertsteuer zahlen. Diese Aufwertung, ein Abschied von einem anachronistischen und elitären Kulturverständnis, wäre vor der Pandemie undenkbar gewesen.

Es wäre wünschenswert, wenn diese Politik der Anerkennung nun im nächsten Schritt auch auf Konzerthallen und andere Kulturorte bundesweit übertragen würde, vor allem aber auf die freie Branche. Seit Dezember 2020 fordern Kunstschaffende daher über eine Petition, das Recht auf unbeschränkte Teilhabe aller Bürger:innen am kulturellen Leben und kulturelle Bildung als Grundrecht im Grundgesetz zu verankern. Die Petition wurde bereits von mehr als 33.000 Menschen (Stand Anfang Juli) unterzeichnet. Dafür muss aber nicht nur die Politik, sondern auch die Branche selbst etwas tun. Die Coronakrise ist eine gewaltige Chance, sozialer, zugänglicher und nachhaltiger zu werden.

Das Filmfestival von Cannes findet dieses Jahr unter strengen Nachhaltigkeitsauflagen statt: So ist unter anderem der rote Teppich zu 100 Prozent recycelbar, Plastikflaschen werden verboten (2019 waren es nach Angaben des Festivals 22.000) der Papierverbrauch soll um 50 Prozent reduziert werden. Um das Kinoerlebnis auch jenseits der glamourösen Festivals zu retten, tat sich in Deutschland der Filmverleih Grandfilm mit Indie-Kinos zusammen: Gegen eine Gebühr konnte man 2020 auf der Website des Verleihs internationale Filme streamen, der Gewinn wurde 50:50 mit den Kinos geteilt. So konnten insbesondere nicht englischsprachige, experimentelle Filme gezeigt werden, die außerhalb von Arthouse-Kinos oft keine Plattform haben. Jede Woche wurde außerdem ein ausgewählter Film für nur 99 Cent angeboten, damit auch Menschen mit niedrigem Einkommen dort legal Filme sehen konnten. Ein Konzept, das in einer solidarischen Gesellschaft nicht nur während einer Pandemie existieren sollte.

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In der Oper von Barcelona spielte ein Quartett im Livestream das „Konzert für das Biozän“: Die Sitzplätze waren statt von Menschen mit 2.292 Pflanzen besetzt – eine Aktion, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir auch in Coronazeiten nicht die Klimakrise vergessen dürfen. Die Pflanzen wurden danach Mitarbeitenden in Krankenhäusern und in der Pflege überreicht. In Köln rief die Stadt gemeinsam mit Karnevalsvereinen und Unternehmen die Spendenaktion „Mer looße üch nit allein“ ins Leben, die 2021 über eine Million Euro für Bühnentechniker:innen, Roadies, Fahrer:innen, Tanzgruppen gesammelt hat, die den Kölner Karneval normalerweise zum Leben bringen.

Damit die Kulturwirtschaft langfristig resilient wird, muss sie jedoch nachhaltig bessere Arbeitsbedingungen für ihre vielen freien Mitarbeiter:innen schaffen, die meistens in befristeten Kettenverträgen angestellt sind. Kunstschaffende müssen sich selbst nachhaltiger um ihre Absicherung kümmern. Und sie müssen es auch über die Pandemie hinaus schaffen, mit neuen Ausdrucksformen neue Zugänge zu Kunst zu etablieren. Viele Betriebe sind immer noch Elfenbeintürme, die einen Großteil der Bevölkerung nicht abholen und auch nicht repräsentieren. Die Autorin Carolin Emcke schreibt in Journal, ihrem „Tagebuch in Zeiten der Pandemie“: „Wenn wir jetzt nicht begründen, warum es uns, die wir Geschichten erzählen, fiktive oder nicht-fiktive, die wir die Wirklichkeit verwandeln oder beschreiben, die wir Trost spenden oder Wissen vermitteln (…), die wir Lügen entlarven, Missverständnisse analysieren, demokratische Rechte und Räume verteidigen, wenn wir jetzt nicht zeigen, warum es auch uns braucht, dann werden wir nicht überleben.“ Also
worauf warten wir? Schaffen und schützen wir gerechte und inklusive kulturelle Räume. Gründen wir ein Cinéma sur l’Eau auf der Elbe, der Isar, oder auf der  Spree.

Dieser Text ist Teil des Schwerpunkts „Können wir noch Kunst?“ der Ausgabe 03/21. Das aktuelle Heft könnt ihr hier kaufen.

Bild: Imago/ Agencia EFE

Musik für Pflanzen: Das Konzert für das Biozän fand in Barcelona statt, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen.

Morgane Llanque

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