Ein Werbespot aus dem Jahr 2003: In den Straßen Londons werden Fußgänger:innen gefragt, ob sie ihren CO2-Fußabdruck kennen. Ratlosigkeit. Cut, der Bildschirm wird weiß, Text: „Wir können alle etwas tun, um weniger zu emittieren. Hier lernst du wie.“ Darunter erscheint die Internetseite des Ölkonzerns BP.
Der BP-Werbefilm macht den Begriff CO2-Fußabdruck berühmt. Medien, Regierungen und Unternehmen drehen und wenden ihn so lange, bis er zum moralisch geladenen Etikett wird. Plötzlich hat alles einen gasförmigen Abdruck. Ein großer Blumenkohl: 0,2 Kilogramm CO2-Äquivalente. Ein Mensch in Deutschland: 11 Tonnen jährlich. Die Botschaft: Klimaschutz ist Privatsache. Wie noch Unternehmen kritisieren, wenn ich gerade aus dem Urlaubsflieger steige, Billighack verspeist oder mein Auto vollgetankt habe? BP bleibt im Ölrausch, auch Jahre später: 2020 fließen immer noch 96 Prozent der Jahresausgaben in Erdöl und Gas. Derweil wirbt BP mit dem Slogan: „Keep Advancing“ (Weiter vorangehen).
Und die Politik? Dämmert vor sich hin, wie gelähmt angesichts der Vielschichtigkeit eines niemals satten Systems, dessen Wohlstand auf fossilen Ressourcen gebaut ist. Ein Kartenhaus aus Plastik, das heute zu dekonstruieren ist, um Übermorgen lebenswerter zu machen. An einem kalten Dezembertag in Paris 2015 raufen sich schließlich 195 Staaten zusammen. Zum CO2-Fußabdruck gesellt sich ein zweiter Begriff für die Geschichtsbücher: 1,5-Grad-Ziel. Junge Menschen tragen ihn freitags auf die Straße. Ihr Appell klingt anders. Statt „Wir können alle etwas tun!“ heißt es: „Die Politik muss etwas tun!“ Gehör verschaffen sie sich nicht nur auf Asphalt. Sondern auch vor Gericht.
2018 legen Klimaaktivist:innen eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. 2021 konstatiert es: Das Klimaschutzgesetz der Regierung ist unzureichend. Es verschiebe „Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030“ und verursacht so erhebliche wirtschaftliche Einschränkungen für jüngere Generationen. Der Beschluss ist historisch, weil er sich erstens auf das Prinzip der Generationengerechtigkeit stützt, zweitens Klimaschutz als Grundrechtsproblem anerkennt und drittens die Bundesregierung sofort spurt. Innerhalb von zwei Monaten legt sie einen neuen Gesetzesentwurf vor. Eine weitere Besonderheit: Die Pressemitteilung zur Gerichtsentscheidung wird in drei Sprachen übersetzt – ein Signal an die Weltgemeinschaft, vielleicht sogar ein Argumentationsangebot: Nachahmen erwünscht.
2022: Putins Angriffskrieg, Energiekrise, Inflation. Langfristige Klimaziele gehen im Gegenwartsrauschen unter, verschluckt von der Frage: „Wie schaffen wir es durch den nächsten Winter?“ Millionenausgaben, aber nicht für den Klimaschutz, im Gegenteil: Kohlekraftwerke dürfen länger in Betrieb bleiben, Flüssiggas-Terminals werden neu gebaut. Obwohl die Grünen mitregieren. Doch auch ohne Ukrainekrieg wären wir nicht da, wo wir sein müssten, sagt Hermann Ott. Der Jurist, Umweltwissenschaftler und ehemalige Grünen-Politiker leitet das deutsche Büro der Umweltrechtsorganisation ClientEarth. Zu Beginn des Krieges hat die globale NGO erst mal viele Verfahren gegen Kohlekraftwerke ruhen lassen. „Das war nicht die Zeit“, so Ott. „Allerdings müssen wir jetzt dem Lock-in fossiler Technologien entgegenwirken. Mobile Infrastruktur für Flüssiggas zu bauen ist okay, feste allerdings nicht.“
Wie für das Klima klagen?
Der Weltklimarat (IPCC) erkannte 2022 erstmals an, dass rechtliche Prozesse Klimapolitik maßgeblich beeinflussen können. Seit 2015 (bis Ende Mai 2022) wurden weltweit über 1.200 Klagen eingereicht, die sich auf die Klimakrise beziehen. In den 28 Jahren davor waren es nur ungefähr 800. Getrackt wird das etwa vom Forschungsinstitut Grantham der London School of Economics auf der Seite climate-laws.org. Aktueller Stand (am 12. Dezember 2022): 2.169 Fälle. Meist schließen sich Bürger:innen mit Vereinen wie ClientEarth oder der Deutschen Umwelthilfe zusammen, um juristische Schritte gegen Staaten oder Firmen einzuleiten. Das hat finanzielle Gründe (Klagen sind teuer, NGOs können die Kosten tragen) und rechtliche. Bei Klimaklagen geht es oft um Grundrechtsverletzungen, also um die persönliche Betroffenheit einer Person oder Gruppe. Verhandelt wurden bisher etwa: Berufsfreiheit, Recht auf Eigentum, auf Leben und auf Gesundheit.
Klimaklagen können sich gegen einzelne Maßnahmen von Regierungen oder Projekte von Unternehmen richten. Das schließt auch klimabezogenes Greenwashing („climate washing“) ein. Etwa klagt ClientEarth gegen die „Fly Responsibly“- Kampagne der Airline KLM, die Produkte zur CO2-Kompensation als emissionsreduzierend vermarktet.
Immer mehr Beschwerden nehmen aber die generellen Klimaambitionen eines Staates ins Visier. Ziel: bestehende Gesetzgebung verändern oder neue erzwingen. 2019 wurde ein Land (die Niederlande) zum ersten Mal erfolgreich auf strengere Klimaschutzziele verklagt. Ein anderer historischer Fall stammt ebenfalls von dort: 2021 hat erstmals ein Gericht ein Unternehmen (Royal Dutch Shell) dazu verpflichtet, seine Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Auf internationaler Ebene bahnbrechend: Im September 2022 urteilte der UN-Menschenrechtsausschuss zugunsten der Bevölkerung von Torres Strait, einer Inselgruppe nördlich des australischen Kontinents – Australien schütze sie nicht ausreichend vor den Folgen der Klimakrise, insbesondere dem steigenden Meeresspiegel.
Doch Klimaklagen müssen sich nicht immer um Grundrechte drehen. Derzeit sorgt das zivilrechtliche Verfahren Lliuya gegen RWE für Aufsehen. Dabei geht es erstmals um die Frage, ob ein Unternehmen für Klimarisiken haften muss.
In der peruanischen Anden-Stadt Huaraz tropft ein Gletscher. Sein Schweiß sammelt sich in der Laguna Palcacocha. Nebenan wohnt der Landwirt Saúl Luciano Lliuya, muss zuschauen, wie sich der See in Zeitlupe füllt. Stürzen Eisblöcke hinein, könnte das eine Flutwelle auslösen. Um das Wasser abzuleiten und anderswo sicher zu speichern, muss die Gemeinde viel Geld in die Hand nehmen. Lliuya fordert: Die Verursacher sollen zahlen, und zwar in der Höhe des Anteils, den sie an der Klimakrise haben. Gemeinsam mit der deutschen Anwältin Roda Verheyen verklagte er deswegen den großen deutschen Energiekonzern mit Sitz in Essen, RWE, der laut Carbon Majors Report für 0,47 Prozent der Klimakrise verantwortlich ist. Finanziell unterstützt wird Lliuya etwa von der Umweltorganisation Germanwatch. Das Amtsgericht Essen lehnte ab; es könne kein kausaler Zusammenhang zwischen den Emissionen des Konzerns und der Gletscherschmelze hergestellt werden. Das Berufungsgericht in Hamm ließ die Klage wiederum zu. Als Grundlage diente ein Paragraf, der sich eigentlich auf Nachbarschaftsstreitigkeiten bezieht: Durch die weltweiten Folgen der Klimakrise ergibt sich eine Art globales Nachbarschaftsverhältnis zwischen Lliuya und RWE. Richter:innen und Sachverständige reisten im Sommer 2022 nach Huaraz, um die Lage zu prüfen.
Egal ob Lliuyas Versuch scheitert, sein Fall ist ein Meilenstein. Denn zum weltweit ersten Mal hat es eine solche Klimaklage bis in die Beweisaufnahme geschafft, die Story brummt durch alle Medien, gern wird das Bild bemüht: „David gegen Goliath“.
Laut Grantham Research Institute kann eine Klimaklage schon dann einen positiven Einfluss auf den Klimaschutz haben, wenn sie zugelassen wird, etwa dann, wenn sich das Gericht zum ersten Mal mit der jeweiligen Sachfrage beschäftigt. Tatsächlich: Immer mehr „strategische Prozesse“ zielen nicht nur auf den juristischen Sieg ab, sondern den öffentlichen Druck auf die Politik. Zunächst erfolglos war 2019 etwa eine Klage der NGO Friends of the Irish Environment vor dem obersten Zivil- und Strafgericht Irlands. Daraufhin zog sie vor den irischen Supreme Court, den Obersten Gerichtshof. Noch bevor dieser sein positives Urteil verkünden konnte, beschloss die Regierung einen verbesserten nationalen Klimaaktionsplan.
Klagen gegen Nationen, so Grantham-Wissenschaftlerin und Juristin Isabela Keuschnigg, sind öfter erfolgreich als gegen Unternehmen. Seit 2013 haben es 9 der 56 Klagen gegen staatliche Klimakurse vor die höchsten Gerichte der jeweiligen Länder geschafft; 7 davon (Stand: 31. Juli 2022) hatten bereits positive Auswirkungen auf die Klimapolitik. Weitere Analysen des Grantham Research Institute ergaben: Von allen Klimaklagen, also auch solchen gegen Unternehmen, hatten 54 Prozent zwischen Mai 2021 und Mai 2022 günstige Folgen für den Klimaschutz, im Jahr davor waren es 58 Prozent. Die USA sind aus diesen Studien ausgeklammert, denn US-Daten erhebt das Sabin Center in New York. Ein Trend lässt sich aber erkennen, so Keuschnigg: Im globalen Vergleich treten in den USA vermehrt „Anti-Klimaklagen“ auf – Firmen wollen den grünen Wandel bremsen.
Klimaklagen: Keine Instant-Lösung
Laut der Juristin Baro Vicenta Ra Gabbert braucht es strategische Klagen, die juristische Knackpunkte offenbaren und angreifen, weil „zu viele Politiker:innen immer noch nicht bei der Frage angekommen sind, welche konkreten Klimamaßnahmen jetzt nötig sind. Um bloß keine Wählenden zu verschrecken, führen sie Scheindebatten: Kriegen wir das überhaupt hin und wollen wir das alles wirklich so schnell?“ Richter:innen hingegen könnten besser unbequeme Entscheidungen treffen, weil sie aufgrund unserer Gewaltenteilung keinen politischen Zwängen unterworfen seien. Deswegen sei der Rechtsweg aber noch längst keine Instant-Lösung: „Gerichtssäle sind neben der Straße und der Wahlkabine nur ein weiterer Raum, in dem die Zivilgesellschaft aufbegehren kann.“ Ein Mittel von vielen für „kollektives Empowerment“, sagt sie.
Gabbert hat an der Bucerius Law School in Hamburg studiert und die Climate Clinic gegründet, eine studentische Rechtsberatung, die den juristischen Kosmos für jede:n zugänglich machen will. „Wir helfen Nicht-Jurist:innen dabei, die Komplexität des Rechts aufzubrechen. Denn es sollen sich keine Entscheidungstragenden hinter der Floskel verstecken können: ‚Das ist rechtlich nicht möglich‘ oder: ‚Das ist rechtlich kompliziert, das versteht ihr nicht.‘“
Was kann ich tun? Anfragen wie diese bekommt die Climate Clinic oft: Vom Klimaaktivisten, dessen Protestcamp abgelehnt wurde und der sich fragt, ob das rechtens war. Von der Studentin, die Nachhaltigkeitsbelange im Hochschulgesetz ihres Landes verankern möchte. Vom Städter, der die Verkehrswende an seinem Wohnort vorantreiben möchte. Gabberts Verein prüft die Rechtslage und bereitet sie verständlich auf. Selber klagen kann er nicht – aber geeignete Fälle an zugelassene Anwält:innen überweisen, zum Beispiel von ClientEarth.
ClientEarth hat Büros auf der ganzen Welt und rund 300 Mitarbeitende. Bevor sich Hermann Ott anschloss, forschte er am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und war klimapolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Sowohl in Wissenschaft als auch Politik fühlte er sich großen Zwängen unterworfen. „Meiner Ansicht nach kann es von dort keine wirklichen Veränderungen geben. Die müssen aus der Gesellschaft kommen.“ Hier setzten Klimaklagen an, denn „sie geben den Menschen starke Instrumente an die Hand, um selbst aktiv zu werden.“ Zivilgesellschaft als Klimakorrektiv. Ob das nicht schon wieder die Verantwortung bei den Verbraucher:innen ablädt? Was den individuellen Konsum angeht, war das tatsächlich lange der Fall, sagt Ott. Aber hier gehe es um etwas anderes: „In einer Demokratie ist unsere Aufgabe ja nicht damit getan, dass wir alle vier Jahre unser Kreuzchen machen. Politik ist wie Hausarbeit: Du kannst die Wohnung gründlich aufräumen, aber nach vier Wochen sieht’s wieder aus wie Kraut und Rüben.“
Klar ist: Unsere Sicht auf Klimaklagen ist eine privilegierte. Abgesehen davon, dass Gerichtsverfahren geld- und zeitintensiv sind, erfordern sie Vertrauen in die Institutionen. Und manchmal sind Klimaklagen auch gar nicht das, was ein Staat braucht. Isabela Keuschnigg: „In vielen afrikanischen Ländern sind Umweltverfahren, in denen es etwa um die Trinkwasserversorgung geht, gerade viel wichtiger.“ Aber auch im Globalen Süden steigt die Zahl klimabezogener Klagen. Waren es im Mai 2021 noch 55 Fälle, so registrierte das Grantham Research Institute ein Jahr später 88. Die meisten davon aus Lateinamerika.
Sieg vor Gericht: Was nun?
Eine erfolgreiche Klage saugt natürlich kein CO2 aus der Luft. Es kommt auf die Umsetzung an. So sind etwa einige der Mitkläger:innen, die sich vor dem Bundesverfassungsgericht über das Klimaschutzgesetz der Regierung beschwerten und 2021 Recht bekamen, unzufrieden mit den Anpassungen. Es fehlten konkrete Fahrpläne, um das Ziel „Klimaneutralität bis 2045“ zu erreichen. Im Oktober 2022 zogen sie deshalb vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Ein anderes Mittel sind Zwangsgelder. Staatliche Organe können damit belegt werden, aber gemäß europäischem Recht auch einzelne Politiker:innen, die sich gegen die Umsetzung eines Urteils sträuben. Am Ende kann unsere Rechtssprechung nur einen Rahmen für politisches Handeln festlegen. Es ist Sache des Gesetzgebers, diesen mit Leben zu füllen. Dabei will die Klimaschutzorganisation GermanZero helfen. Basierend auf naturwissenschaftlichen Fakten hat sie mit Vertreter:innen aus Industrie und Politik konkrete Maßnahmen erarbeitet, die Deutschland bis 2035 klimaneutral machen können – und diese in Gesetzestexte gegossen.
Juristin Baro Vicenta Ra Gabbert arbeitet für German- Zero und spricht ständig mit Mitgliedern des Bundestags. Ihre Erfahrungen? „Die Abgeordneten im Tagesgeschäft schauen sich an, was gerade politisch möglich ist, also was sie Wählenden und Lobby zumuten können. Wir lenken den Blick stattdessen darauf, was gerade nötig ist.“ Denn: „Eine ökologische Krise ist keine Verhandlungspartnerin. Wir können unsere Gesetze ändern. Aber die Gesetze der Naturwissenschaft sind unveränderbar.“
Bisher wurden weltweit mehr als 2.150 Klimaklagen registriert. Das Ziel: Staaten oder Unternehmen zu mehr Klimaschutz drängen.