Dieser Essay stammt aus unserem Schwerpunkt “Der Sport gehört uns”.
Bevor ich die Tür öffne, warte ich einen Moment. Dahinter wird gebrüllt, gelacht, geschnattert. Wohl fühle ich mich nicht. Denke mir, das war eine blöde Idee. Tür auf. Halbdunkel, durch ein staubiges Oberlicht fallen Sonnenstrahlen. Drinnen im braun gekachelten Schlauch tobt zwischen zwei Bänken eine Horde Jungs. Kurz ist es still. Alle gucken. Ich schwitze und verfluche meine Mutter, die mir erst kürzlich eine zwar besonders biegsam-robuste, aber knallbunte neue Brille verpasst hat. Ich presse mich in die Ecke rechts hinter der Tür. Der letzte freie Platz, dann fliegt mir die Tür auch schon entgegen. „So, nicht rumeiern, raus mit euch, auf’n Platz“, höre ich eine kräftige Stimme.
Die erste Kohorte verlässt die Box. Mein Gefängnis öffnet sich wieder. Vor mir ein Rücken, auf dem der Vereinsname prangt. Der Typ dazu, getönte Sonnenbrille, Goldkette, Vokuhila, dreht sich um: „Wer hat die Brille ausgesucht? Geh zu den anderen, Lange. Du bist der Neue, oder?“ Ich werde rot, er lacht und schiebt mich raus. Fünf Minuten später laufe ich um ein rotes Asche-Feld im Mannschaftspulk und bin stolz auf meinen neuen Spitznamen. Ich hatte vorher keinen. Nach dem Training und ein paar soliden Kopfbällen, Sprints und Torschüssen nennen mich die anderen auch so. Also doch ein ordentlicher Start. Es war ein Dienstag- oder Donnerstagnachmittag, Ende der 1980er-Jahre im Ruhrgebiet.
Über Jahre hinweg blieb die Mannschaft zusammen. Wir kamen aus sehr unterschiedlichen Familien und gingen auf unterschiedliche weiterführende Schulen. Aber wenn wir trainierten oder am Wochenende spielten, gab es nur Fußball. Erst später sickerten andere, ernste Themen durch. Zwei, drei Väter fingen an zu saufen. Jobs gingen verloren, Ehen kaputt. Der Mittelstürmer rauchte. Die türkischen Jungs erklärten uns, warum es gerade einen Monat lang bei ihnen daheim tagsüber nichts zu essen gab, Fastenzeit – und warum ihre Mütter nicht mit zu den Auswärtsspielen durften.
Anfangs spielten wir Fußball einfach, weil unsere Eltern uns angemeldet hatten. Später, weil es für alle funktionierte. Klar, es ging auch ums Gewinnen und darum, wie man mit Niederlagen umgeht. Aber wir hatten Spaß und keine Angst. Wir verstanden uns gut, waren eine Mannschaft. Natürlich ging auch diese Zeit zu Ende und ist doch für mich ein wichtiges Beispiel geblieben: dass Individualität und Gemeinschaft prima vereinbar sind.
Sozialer Hebel
Es gibt Millionen solcher Geschichten. Aktuell sind 70,5 Prozent der Kinder zwischen 7 und 15 Jahren laut Statistischem Bundesamt in einem Sportverein angemeldet. Bei den Erwachsenen liegt die Quote darunter: 24,2 Millionen Frauen und Männer, das sind 29,1 Prozent der Bevölkerung. Eine ganz Menge also, ein ziemlich großer gesellschaftlicher Hebel.
Welche integrative Wirkung kann Sport in der Gesellschaft entfalten? Bietet Sport gerade jetzt, wenn vieles um uns herum nicht mehr zu gelten, zu funktionieren scheint, eine ehrliche Alternative? Oder machen ein laufendes drittes Pandemie-Jahr, vor allem aber der Ukraine-Krieg mitten in Europa und damit auch Millionen Menschen auf der Flucht, die Frage nicht eher überflüssig? Zumal die absurde Orchestrierung der Olympischen Winterspiele in Peking im Februar, denen zahlreiche Staatschef:innen aus Protest fernblieben, nachträglich einen besonders zynischen Abschluss fand: Mit Verweis auf westliche Geheimdienstquellen wurde vermeldet, China habe offenbar Russland darum gebeten, doch bitte erst nach dem Sportfest ins Nachbarland einzumarschieren. Ein wütendes Dementi folgte umgehend.
Ideale Blaupause
Das Spiel wird seit jeher instrumentalisiert und kommerzialisiert: Sport, Politik und Geld sind eng verbunden. Harte offizielle Zahlen gibt es kaum, aber die diesjährigen Olympischen Winterspiele sollen laut Veranstalter bis zu 4 Milliarden Euro gekostet haben, Expert:innen gehen aber eher vom Zehnfachen aus. Für die Fußball-WM in Katar wird gar ein Betrag über 100 Milliarden Euro geschätzt. Was vom Turnierzauber übrig bleibt, lässt sich am Beispiel der heutigen Ruinen weltweit beobachten – etwa in Rio de Janeiro (2016), Athen (2004) oder Peking (2008).
Aktuelle Fakten und Zahlen
Herausgegeben vom Bundeswirtschaftsministerium zeigt eine aktuelle Broschüre, was für ein immenser, milliardenschwerer Wirtschaftsfaktor der Sportsektor in Deutschland ist.Sport ist eine ideale Blaupause, um die eigenen Interessen aggressiv voranzutreiben. „Das Internationale Olympische Komitee handelt immer dann politisch, wenn es der Profitmaximierung dient“, schrieb Sportjournalist Jens Weinreich einmal. Entsprechend fallen die Gastgeberverträge großer Verbände, die fortwährend unter Korruptionsverdacht stehen, für die großen Turniere aus, die Fußball-WM oder Olympischen Spiele. Die Milliardenbeträge für Infrastruktur, Organisation und Abwicklung zahlen die Staaten, Städte und somit letztlich Steuerzahler:innen. Deswegen votierte etwa 2015 eine Mehrheit der Hamburger:innen gegen eine Bewerbung der Stadt für die
Olympischen Sommerspiele 2024.
Olympischer Frieden
Großereignisse dienten insbesondere in den letzten 15 Jahren autoritären Staaten und Regimen wie Katar, China oder Russland als Reputationsinstrument, inklusive fröhlichem Fotomaterial der Autokraten und ihrer Großverbands-Buddies Thomas Bach (IOC) oder Gianni Infantino (Fifa). Die Botschaft: Liebe Welt, schau her, wir sind doch alle gar nicht so schlimm. Russlands Präsident, einst dicker Kumpel von Infantino und Bach, hat den olympischen Frieden mehrfach gebrochen: 2008 (Georgien-Krieg), 2014 (Krim-Annektion) und 2022 (Ukraine-Krieg). Der Zweite Tschetschenien-Krieg wiederum dauerte zehn Jahre: von 1999 bis 2009. Mit der Verachtung gemeinsamer Werte folgt Putin einer traurigen Tradition. Denn schon im antiken Griechenland gab es ständig blutigen Zoff zwischen den Mikrostaaten, deren Kämpfer auch an den Spielen teilnahmen – und mitunter sogar, obwohl streng verboten, während der Wettkämpfe.
Im Sport gebe es eben „den Sieg ohne kriegerische Mittel“, sagt passend dazu Lauf-Trainer Lunz im Roman Brot und Spiele von Siegfried Lenz. „Aber verborgen, ganz insgeheim sei der Sport ja wohl ursprünglich eine Kriegsübung gewesen und jeder Wettkampf ein Manöver“, so die weitere nüchterne Analyse. Jenseits der Germanistik ist die 1959 erschienene Erzählung wohl in Vergessenheit geraten. Der fein komponierte Text ist über 173 Seiten ein montiertes Wechselspiel aus Erinnerung und Sportreportage.
An der Basis
Es geht um Aufstieg und Fall des Leichtathleten Bert Buchner und die Instrumentalisierung seiner Karriere, um soziale Ein- und Ausgrenzung, um Geld und Moralverlust. „Für alles, was er gewann, musste er bezahlen“, heißt es im Roman. Bemerkenswert ist die Geschichte vor allem, weil Siegfried Lenz das Ideal vom Sport als Keimzelle einer besseren, gerechteren Gesellschaft relativ früh nach dem Zweiten Weltkrieg nüchtern demaskierte. Aber wie sieht es heute an der Basis aus – im Breitensport, in den Vereinen? Steckt hier eine besondere gesellschaftliche Kraft, die wirklich alle einschließt? Geschlecht, Religion, Herkunft, Körper, alles egal?
„Zahlreiche Studien weisen auf das große integrative Potenzial des Sports hin“, sagt Tina Nobis. Die Sportsoziologin leitet die Abteilung Integration, Sport und Fußball am Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin. Nobis sagt aber auch: „Natürlich sind Sportkontexte nicht frei von Diskriminierungen, Mikroaggressionen und Rassismus. Unser größtes Problem ist aber, dass dieses Forschungsfeld jung ist. Es gibt kaum spezifische Daten darüber, wie sich Rassismus und Diskriminierungen im Sport manifestieren und erlebt werden.“
Publikum im Fokus
Wie wichtig diese Themen sind, erklärt Nobis anhand einer Feldstudie, die 2021 in 22 europäischen Ländern durchgeführt wurde. Carlos Gomez-Gonzales und Helmut Dietl von der Uni Zürich sowie Cornel Nesseler von der Norwegian University of Science and Technology gaben sich per E-Mail als Amateurspieler aus. Sie baten 23.020 Fußballvereine um ein Probetraining und unterschrieben mit Nachnamen, die entweder eher in- oder ausländisch gelesen werden. In Frankreich, Irland und Portugal spielte der Unterschied gemessen an der Antwortquote kaum eine Rolle. In Kroatien, Österreich und Ungarn gab es über 20 Prozentpunkte häufiger eine positive Rückmeldung, wenn der Name nicht nach Ausland klang. In Deutschland lag die Quote bei 13 Prozentpunkten, im Gesamtschnitt aller untersuchten 22 EU-Länder bei 10 Prozentpunkten.
Von Vorurteilen und Vorkämpfer:innen
In der 73-minütigen Podcastfolge des Sportinvestigativformats „Sport Inside“ (WDR 5) geht es um strukturellen Rassismus im Sport, seiner Geschichte und der aktuellen Situation in Deutschland.Geht es um Rassismus, liegt der öffentliche Fokus zumeist auf dem Verhältnis zwischen Publikum und Sportler:innen. Das Innenleben der Vereine gerät dabei gern aus dem Blick. Leider. In Institutionen, Verbänden und auch der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung müsse das Thema Antirassismus und Diversität eine viel größere Rolle spielen, „denn wenn Rassismus nicht erforscht wird, kann er auch nicht aufgedeckt und bekämpft werden“, sagt Nobis.
Leuchtturmprojekt
Sabine Landau ist Referentin beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), der größten Dachorganisation im Land. Sie ist eine von 140 hauptamtlichen Mitarbeiter:innen im Programm „Integration durch Sport“ (IdS), das beim DOSB im Ressort Diversity angesiedelt ist. „Da haben wir Nachholbedarf, genaue Zahlen zur Integrationswirkung erheben wir aktuell leider nicht“, sagt sie. IdS ist das etablierte nationale Leuchtturmprojekt, es existiert seit 1989. Das Gesamtbudget liegt bei 11,6 Millionen Euro. Klingt nach viel, oder?
Ein paar Vergleichswerte: Der Marktwert von Christian Günther, 29, Verteidiger beim SC Freiburg, wird laut transfermarkt.de derzeit auf 12 Millionen Euro taxiert. Mit Sportwetten wurden 2021 in Deutschland laut dem eigenen Interessensverband 9,4 Milliarden Euro umgesetzt. Die Bruttowertschöpfung des Sports in Deutschland lag 2018 bei 66,6 Milliarden Euro. So hoch ist, grob gesagt, der Wert aller damit zusammenhängenden produzierten Güter und Dienstleistungen. Da klingen 11,6 Millionen Euro schon anders. Im Rahmen von IdS gibt es ein Netzwerk von bundesweit 1.000 Stützpunktvereinen, die durch Fachreferent:innen der Landessportbünde und -jugenden beraten und begleitet werden. Angebote richten sich an Geflüchtete und an Menschen mit Migrationshintergrund. Und sie beinhalten dank des ehrenamtlichen Engagements vieler Menschen in den Vereinen neben dem rein Sportlichen auch Existenzielles, wie Hilfe bei Behördengängen, medizinische Termine oder Deutschlernen.
Wichtige Zielgruppe
Ein aktuelles Projekt ist „GeniAl: Gemeinsam bewegen – Gesund leben im Alter“. Es spricht mit Fitnessübungen, Spaziergängen und Informationen zu Gesundheitsthemen Senior:innen jenseits der sechzig an. Damit erreiche man endlich vor allem ältere Frauen, sagt DOSB-Referentin Landau. Diese Zielgruppe ist besonders wichtig, in Sportvereinen sind vor allem junge Migrant:innen aktiv und wiederum deutlich mehr Jungen als Mädchen. „GeniAl“ soll Altenhilfe und Gesundheitsvorsorge koppeln, und zwar „kultursensibel“.
2023 steht eine qualitative Evaluation mit den Teilnehmenden an. Das ist wichtig, weil nicht die Regel bei IdS. Üblicherweise werden Zahlen erhoben, Statistiken erstellt. Etwa zur Frage: Wie viele Menschen haben wann mitgemacht? Die Effektivität der Projekte erfährt man aber nur durch gründliche Befragungen, durch längerfristiges Monitoring. Das dauert und kostet viel Geld. Entsprechende Mittel und Maßnahmen muss der DOSB daher oft Jahre im Voraus beantragen.
2015 war das anders. Zahllose Menschen flüchteten über Osteuropa und das Mittelmeer nach Deutschland. Den Vereinen war harsche Grenzpolitik fremd. Während die Politik um Lösungen rang, schufen sie Tatsachen, halfen schnell und unbürokratisch mit Unterkünften, Verpflegung und Sportkursen, mit ihren sozialen Netzwerken. Die Mittel fürs Programm „Integration durch Sport“ wurden damals verdoppelt, die heutige stark verbesserte Infrastruktur gibt es auch deswegen.
Lokale Integrationsarbeit in Vereinen
Eine sportwissenschaftliche Pilotstudie aus dem Jahr 2018 der Unis Stuttgart und Tübingen zeigt die Rolle von Sportvereinen im Rahmen der Geflüchtetenhilfe und inwieweit diese einen „substanziellen Beitrag“ leisten können.Vielfalt statt Anpassung
Klaus Seiberth hat dieses zivilgesellschaftliche Phänomen genau untersucht. Der Sportsoziologe lehrt an der Uni Stuttgart. „Der Sport hat besondere Potenziale zur sozialen Integration, er kann vor allem lokal einen substanziellen Beitrag, etwa im Rahmen der Hilfe für Geflüchtete, leisten. Allerdings ist das kein Automatismus. In vielen Sportvereinen hängt das sehr stark vom Engagement Einzelner ab“, sagt Seiberth. 2015 habe es einen Impuls in den Vereinen gegeben, der eine „Gegenbewegung“ zur politischen Debatte gebildet habe, „es ging direkt um ein Miteinander beziehungsweise um die Frage, was Sportvereine hier beitragen können“.
Aber, darauf weist auch Seiberth hin: Vereine können ebenso einen problematischen Eigenweltcharakter haben, Stereotype reproduzieren, Closed Shops sein. „Es gibt in einigen Bereichen noch viel Halbwissen und zu wenig empirisches Wissen über diese Prozesse und Phänomene.“ Warum? „Das Integrationsverständnis des organisierten Sports war relativ lange assimilativ, auf Anpassung ausgerichtet, gedacht worden. Erst seit zwanzig Jahren hat es einen pluralistischen, also die Idee der Vielfalt stark bejahenden Charakter.“ Dem Pluralismus im Sport widmen wir unseren Schwerpunkt in der neuen enorm-Ausgabe. Die folgenden Seiten zeigen, dass der positive Kern des Spiels, seine echten Qualitäten – trotz Kommerz, Korruption und Kumpanei – längst sozial, ökologisch und ökonomisch neu entdeckt, freigelegt und verteidigt werden. Weder Funktionär:innen noch Autokrat:innen konnten und können das verhindern.
Das Gewinnen steht beim Sport im Mittelpunkt. Doch er hat noch viel mehr zu bieten, als nur den Wettkampf.